Samstag, 20. Mai 2023

Pubertärer Wachstumswahn und die Klimakrise

Der Archetyp der Pubertät

Es ist der Wachstumswahn, der uns in die prekäre Situation gebracht hat. Er ist gespeist von einer pubertären Energie. Die Zeit der Adoleszenz stellte eine wichtige Phase im Aufwachsen dar, weil sie mit dem Abschied von der Familie und der Begründung des eigenen Lebensweges sowie mit der Öffnung für Sexualität und Intimität verbunden ist. Sie hat eine spezielle Zielrichtung und Ausdrucksform, die von den Jugendlichen auf verschiedenste Weise erlebt und umgesetzt wird. Der Archetyp der Pubertät beinhaltet das Ausbrechen und das Aufbrechen, das Bewusstsein von unbegrenzten Möglichkeiten, die Verachtung des Alten und die Angst vor dem Neuen. Er enthält eine besondere Form der Aggression, die mit dem Impuls der Befreiung verbunden ist. Es geht darum, der eigenen Individualität zum Durchbruch zu verhelfen und sie in die Welt zu bringen. Sie soll aus ihren Fesseln befreit werden, und das geht nicht ohne den Einsatz von Aggression. In der Dramaturgie dieser Phase gibt es die Kräfte des Beharrens und Festhaltens, die in jedem Familiensystem wirksam sind und gegen die sich die Aggression des Ausbrechens richtet. Die Rücksichtslosigkeit, die oft in solchen Vorgängen beobachtet werden kann, hängt mit der empfundenen Notwendigkeit und Unumgänglichkeit dieser riskanten Schritte zusammen, bei denen es nicht ohne Provokation geht.

Alle Elemente der Geburt wiederholen sich: Der Drang und Zwang zum Ausbrechen aus dem Vertrauten, das zum engen Gefängnis geworden ist, der Einsatz aller Kräfte, um den Todesängsten zu trotzen, die beim Durchgang durch den Gebärkanal entstehen können, Erfahrungen von Ohnmacht und Verzweiflung. 

Die Möglichkeitshorizonte, die sich in der Pubertät öffnen, haben den Sinn, neue Ideen in die Gesellschaft zu bringen, alte Gewohnheiten zu hinterfragen und die Welt zu verändern. Es sind die Kräfte der Erneuerung und des Umwälzens, mit denen jede Generation aufs Neue antritt, um die Welt besser auf die Aktualität einzustellen. Sie will sich einen bestimmenden Platz in der Gesellschaft erkämpfen und tritt deshalb mit Radikalität auf. Meist stoßen diese Vorstöße auf den Widerstand der schon „Etablierten“, die sich damit in ihrer Macht und in ihren Gewohnheiten in Frage gestellt fühlen. Aber jede Gesellschaft ist auf diese Impulse angewiesen, um lebendig zu bleiben und flexibel auf veränderte Lebensumstände reagieren zu können. Ohne die Revolten der Jungen geht der Saft schnell aus und die Gesellschaft versteinert oder vergreist. 

Das globale Bewusstsein vor dem Erwachsenwerden

In der Gesellschaftsentwicklung zeigen sich immer wieder Parallelen zum individuellen psychophysischen Wachstum. Die Entstehung des Kapitalismus ist verbunden mit dem Ausbrechen aus Wirtschaftsformen, die dem Großteil der Bevölkerung kaum ein Auskommen geboten haben sowie von Privilegien und extremen sozialen Ungleichheiten begleitet waren. Gegenüber der Subsistenzwirtschaft des Mittelalters brachte der Kapitalismus eine völlig neue Dynamik, die Zug um Zug die ganze Welt in Bann schlug. Es entstand der Anschein, der sich beim Zusammenbruch des kommunistischen Sowjetsystems 1989 zu bestätigen schien, dass mit dieser Wirtschaftsform für die größtmögliche Zahl an Menschen die größtmögliche Form des Glücks und Wohlstands entstehen würde. Voraussetzung ist einzig und allein, dass das Wachstum möglichst unbehindert voranschreiten kann. Die neoliberale Ideologie schien den endgültigen Triumph über alle anderen Wirtschaftsmodelle davonzutragen.

Doch der Schein trog, denn in ihrem Überschwang hatten die Wachstumsbegeisterten übersehen, dass sie wichtige Faktoren nicht bedacht hatten, die Endlichkeit der Ressourcen und die Begrenztheit der Fähigkeiten der natürlichen Systeme, die Folgen des kontinuierlichen Raubbaus auszugleichen. Diese systematische Achtlosigkeit gleicht der Rücksichtslosigkeit, mit der Teenager oft ihren Freiheitsdrang ausleben. Sie denken nicht an ein Morgen, weil sie den Eindruck haben, dass es ein solches für sie nicht gibt oder zu geben braucht. Das Leben im Moment mit aller Leidenschaft auszukosten und auszureizen,  kennzeichnet die Aufbruchsenergie der Jugend. Irgendwann neigt sie sich ihrem Ende zu und das Erwachsenwerden setzt ein. Damit wächst der Realismus, während der Übermut schwächer wird.

Ein Zeitalter der Verantwortung und der Vernunft steht an

Im Bereich der Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung dauert die pubertäre Phase schon weit über die Maßen an und der Übergang zu einer Erwachsenenperspektive wird viel zu lange hinausgezögert. Der rücksichtslose Egoismus der Menschengattung verursacht eine Katastrophe nach der nächsten, engstirnig und selbstbesessen taumeln wir dahin. Wir tun so, als hätten wir noch die Kontrolle, obwohl wir sie schon lange verloren haben.

Wir verfügen schon längst über genügend erwachsenen Realismus, um zu durchschauen, dass wir uns in einer Sackgasse befinden, der wir nur mit allen konzentrierten Anstrengungen entkommen können. Dazu muss die Rücksichtslosigkeit und Unbekümmertheit in Bezug auf andere Menschen und auf die Natur durch Nachhaltigkeit und Respekt ersetzt werden. Statt ohne Hemmung weiter zu expandieren, wie es typisch für die Adoleszenz ist, geht es um Schrumpfung und Verringerung. Um diese Wende zu schaffen, muss die pubertäre Einstellung überwunden werden. Alle die, die in ihr verharren wie z.B. die sogenannten Klimaleugner, die sich allem Wissen zum Trotz mit der Sturheit eines Teenagers im Recht fühlen, oder jene, die das Illusionstheater bedienen, mit dem sie ihr Nichthandeln und Hinauszögern begründen, haben nichts mehr an den Schalthebeln der Macht verloren. Sobald genügend Mitglieder der Zivilgesellschaft aus ihren pubertären Träumen aufwachen und die Kraft der Verantwortung spüren, die den treibenden Schwung der erwachsenen Weltsicht ausmacht, werden die politischen Entscheidungen aus der Vernunft und nicht aus dem Emotionalcocktail der Pubertät getroffen, den die Populisten bedienen. 

Wir sind alle Träger einer globalen Verantwortung, und je reicher die Gesellschaft ist, in der wir leben, desto höher ist diese Verantwortung und desto mehr müssen wir uns dafür einsetzen, dass die Vernunft an die Macht kommt. Unsere Handlungen oder Unterlassungen haben einen größeren Einfluss auf das Schicksal der Menschheit als das, was die Ärmeren und Benachteiligten tun oder nicht tun. Unsere Handlungsspielräume sind größer, nur müssen wir sie auf vernünftige und global ausgewogene Weise nutzen. Und davon sind wir noch weit entfernt. Haben wir den Mut, die Pubertät hinter uns zu lassen und erwachsen zu werden!

Zum Weiterlesen:
Ästhetik des Schrumpfens
Vom Ende der Wachstumsgesellschaft und von der Verfeinerung der Einfachheit
Realoptimismus angesichts der Klimakrise


Donnerstag, 18. Mai 2023

Ästhetik des Schrumpfens

Seit wir leben, stehen wir im Bann des Wachsens. Nicht nur wir selber als Menschen sind gewachsen, die Menschheit insgesamt ist an Zahl gewachsen, und die Wirtschaft seit dem 2. Weltkrieg ebenso. War dieses Wachstum mal schwächer, gab es eine Menge besorgter Stellungnahmen und Forderungen an die Politik, Gegenmaßnahmen zu setzen, z.B. durch staatliche Investitionen die Wirtschaft wieder auf Wachstumskurs zu bringen. 

Das Klimaproblem stellt die Menschheit vor eine völlig neue Herausforderung, für die wir über keine Erfahrungen verfügen. Wir können die Folgen der Klimaentgleisung nur abfangen und sozial verträglich bewältigen, wenn wir das Wirtschaftswachstum beenden, denn jede Form des materiellen Wachstums, auch ein „grünes“ Wachstum, von dem manche träumen, geht nicht ohne Ressourcenverbrauch und Treibgasemissionen. 

Ein Beispiel ist der Autoverkehr. Die Verbrennungsmotoren, die trotz aller technischer Verbesserungen einen Wirkungsgrad von 20% vor allem Abwärmeproduzenten und sehr ineffektiv. Aber auch die E-Autos verursachen in ihrer Produktion eine Menge von Emissionen und brauchen für ihren Betrieb Strom, der noch immer nur zu einem geringen Teil klimaneutral hergestellt werden kann. Der mit vielen Hoffnungen erwartete Wasserstoff als Antrieb benötigt bei seiner Herstellung Unmengen von Energie. Außerdem wird bei jedem Auto die meiste Energie dafür verbraucht, das Auto mit seinem Gewicht um eine Tonne zu bewegen. Die 1,3 Personen, die im Schnitt befördert werden, fallen da fast nicht ins Gewicht. Die Autonutzung ist also eine höchst verschwenderische Aktivität, die wir uns zukünftig überhaupt nicht mehr oder nicht mehr im heutigen Ausmaß leisten können, wenn wir insgesamt mit weniger Energie auskommen müssen.

Das bedeutet, dass die Autonutzung insgesamt zurückgehen muss, wenn die Emissionswerte in den entwickelten Ländern auf ein global verträgliches Maß zurückgeschraubt werden sollen. Dieser Bereich muss also schrumpfen. Es geht sich nicht aus, wenn die Leute immer mehr Auto fahren und neue Autos kaufen. Sie tun das weiterhin, auch wenn der CO2-Verbrauch bepreist oder der Kauf von Autos stärker besteuert wird. Denn das Auto und das Autofahren haben einen hohen Prestigewert im modernen Bewusstsein.

Die Notwendigkeit des Schrumpfens

Es gibt der Bereiche noch viele, die zurückgefahren werden müssen, weil sie zu viel Energie verbrauchen. Worum es hier geht, ist die Notwendigkeit des Schrumpfens, also das Gegenprogramm zum Wachstumskurs. Im Sinn einer intellektuellen Redlichkeit nach Thomas Metzinger müssen wir uns eingestehen, dass die wirtschaftliche Wachstumsorientierung keine Zukunft hat. Denn die Ressourcen, die beim Wachsen verbraucht werden, sind endlich, und die Abfälle und Abgase, jedes Wachstum erzeugt, haben Ausmaße erreicht, die an allen Ecken und Enden das Bio-Ökosystem überfordern und zum Kippen bringen. Wir müssen uns darauf einstellen, dass nach einer langen Zeit des Wirtschaftswachstums eine Zeit des Schrumpfens eintreten wird, früher oder später. Wir können uns vor dieser Vorstellung durch die eine oder andere Wunschfantasie retten, doch kommt irgendwann für alle der Zeitpunkt, wo es nicht mehr anders geht als die Augen zu öffnen. Jean-Paul Sartre hat einmal geschrieben: „Wenn ihr eure Augen nicht gebraucht, um zu sehen, werdet ihr sie brauchen, um zu weinen.“

Die Rhythmik der Natur

Je früher wir uns mit dem Schrumpfen vertraut machen, desto leichter wird uns dieser Übergang fallen. Die Betrachtung der Natur hilft uns dabei. Es gibt in unserer natürlichen Umwelt nichts, das endlos weiterwächst (außer Krebsgeschwüre). Viele Pflanzen kennen den Rhythmus von Wachsen und Schrumpfen, der häufig mit den Jahreszeiten verbunden ist. Das Ausbreiten im Frühjahr und das Zurücknehmen im Herbst bilden einen natürlichen Rhythmus. Wir erleben ihn in unserem Lebenszyklus, der unweigerlich nach Phasen der Expansion in Phasen der Reduktion übergeht. Und wir erleben ihn tagtäglich, indem unsere Aktivitäten durch den Tag anwachsen und gegen Abend immer weniger werden, bis sie in der Nacht ganz zum Stillstand kommen. Schließlich macht uns jeder Atemzug auf diese Dynamik aufmerksam: Einatmend weiten wir uns, ausatmend schrumpfen wir.

Pubertärer Wachstumswahn

Wir können uns mit der Vorstellung vertraut machen, dass zu jedem Wachsen ein Schrumpfen gehört, zu jedem Größerwerden ein Kleinerwerden. Wir hängen viel zu sehr in der pubertären Erwartung fest, dass es so etwas wie ein unendliches Weiterwachsen gibt. In der Adoleszenz hängen wir dem Glauben an, dass die Möglichkeiten unbegrenzt sind und wir in unserer Expansion an keine Grenzen stoßen. Das ist auch gut so, weil durch diese Illusion Kräfte freiwerden, die sich dann an der Wirklichkeit abarbeiten können und Neues in die Realität bringen. 

Der Prozess des Erwachsenwerdens besteht gerade darin, den jugendlichen Überschwang mit einer nüchternen Realitätssicht zu verbinden. Wir brauchen den optimistischen Zug zum Öffnen neuer Räume und wir brauchen den vernunftgeleiteten Blick auf die Bedingungen der Umwelt. Das, was sich an Möglichkeiten weitet, wenn wir inspiriert werden, schrumpft auf ein realisierbares Maß zusammen, wenn wir an die Umsetzung gehen. Das erwachsene Bewusstsein enthält die Perspektive des Maßhaltens und Zurücknehmens. Es weiß um die Notwendigkeit des Platz- und Raumgebens für andere Menschen und für die Natur. Es grenzt die ungezügelten Expansionsbestrebungen des Egos ein. Es versteht die Grenzen jedes Wachstums und kennt die Vorzüge des Schrumpfens.

Die Schönheit in der Reduktion

Denn das Schrumpfen hat seine Schönheit. Sie entspringt aus dem Horizont eines größeren Rahmens. Wenn wir uns z.B. mit den Weiten des Universums in Relation setzen, indem wir den Sternenhimmel betrachten, kommen wir in Frieden mit unserer Winzigkeit und Beschränktheit. Jedes Zurücknehmen der eigenen Expansionsimpulse, um anderen den Vortritt zu lassen oder ihnen die Bühne zu gönnen, ist ein Akt der Würde. 

Wir schrumpfen nicht, indem wir vom Überfluss in einen Mangel kippen, sondern indem wir unsere Maßstäbe ändern: Von der Quantität zur Qualität, von den Mengen und Unmengen zur Einzigartigkeit. Wir entdecken Wege, die uns aus der Komplexität und dem Überfluss an Gütern zurück zur Schönheit der Einfachheit führen. Es ist wie das Erlernen eines neuen Schauens, das sich auf das Wesentliche statt auf das Illusionstheater von ständige wechselnden Reizen richtet.

Das innere Wachsen

Alle, die verstanden haben, dass es ein inneres Wachstum gibt, wissen, dass es dafür keine Grenze gibt und keine Grenze braucht. Denn es werden keine Ressourcen verbraucht und keine Schadstoffe produziert. Die Innenräume erstrecken sich auf eine immaterielle Weise ins Unendliche. Es ist eine Gnade, erkennen zu können, dass das innere Erwerben und Gewinnen lohnender und wichtiger ist als das äußere. 

Mangelgefühle, Gier und Konkurrenz, die emotionalen Treibsätze hinter dem Wachstumsfetischismus, werden nie durch äußere Ereignisse gestillt. Im Gegenteil, nach jeder Befriedigung öffnet sich sofort der nächste Zyklus einer Unzufriedenheit. Nichts nützt sich schneller ab als ein materieller Gewinn. Dieses Suchtverhalten ist der Motor des Kapitalismus und seiner Wachstumsideologie. 

Wir können ihm nur Einhalt gebieten, wenn wir aus unserem Inneren die Einsicht gewonnen haben, dass wir nicht mehr und mehr an Dingen brauchen, sondern mehr und mehr an innerem Reichtum und Frieden. Mit dieser Erkenntnis schrumpfen wir im Äußeren ohne Bedauern und wachsen im Inneren. Jeder innere Wachstumsschritt macht uns unabhängiger von den Verlockungen der Konsumangebote und der Scheinsicherheit, die uns das wirtschaftliche Wachstum vorspiegelt. Wir spüren deutlich, was unsere ganz eigenen Bedürfnisse sind und durchschauen die Bedürfnisse, die uns anerzogen und aufgeschwatzt wurden.  

Das soziale Wachsen

Zu unseren ganz eigenen Bedürfnissen gehören auch die nach Geselligkeit und zwischenmenschlichem Austausch. Auch hier braucht es kein Schrumpfen, vielmehr könnten wir uns vorstellen, dass die Entlastung vom kapitalistischen Leistungs- und Konkurrenzdruck zu mehr entspannten Zeiten führen wird, in denen die Kontakte um ihrer selbst willen gepflegt werden können. Viele nutzen die Treffen mit Freunden oder Verwandten, um sich mit ihnen zu vergleichen oder die eigenen Besitztümer und Errungenschaften zu präsentieren. Den Stress, die anderen zu beeindrucken, können wir loslassen, indem sich die Macht äußerer Güter verringert, je weniger wir davon haben.

Wir brauchen einander beim Übergang und beim Einüben in eine zurückgenommene nachhaltige Lebensform. Wir brauchen die soziale Rückversicherung, auch unter geänderten Außenbedingungen und verringerten Möglichkeiten gut leben zu können. Wir brauchen tragfähige soziale Netzwerke, die die Solidarität aufrechterhalten und von der Idee des sozialen Ausgleichs getragen sind. Wir können die Herausforderungen, die auf uns zukommen, nur gemeinsam, mit dem Zusammenschluss unserer Kräfte bewältigen. In diesem Zusammenhalt versichern wir uns, dass niemand unter die Räder kommen wird, auch wir selber nicht. Es besteht die Hoffnung, dass die Menschengemeinschaft im Erkennen, was sie versäumt und vermasselt hat, mehr zueinander findet und besser zusammenarbeitet. Das Ende oder Schrumpfen des Kapitalismus könnte auch ein Ende der Entsolidarisierung sein und die Gesamtverantwortung auf die gleiche Stufe wie die Einzelverantwortung heben.

Dankbarkeit in der Einfachheit

Schließlich geht es auch in zwischenmenschlichen Austausch um die gegenseitige Bestätigung in der Dankbarkeit für das, was ist. Auch wenn die Lebensumstände abgespeckt sein werden, gibt es immer genügend Gründe für Dankbarkeit. Wir finden zurück zur Einfachheit, die eine besondere Art darstellt, das Leben zu genießen. 

Mit vielleicht etwas Wehmut und Verwunderungen werden wir einmal auf das kurze Zeitfenster zurückschauen, in der wir zu den wenigen Glücklichen gehörten, die überall auf der Welt hinfliegen konnten, wohin sie nur wollten. Wir können uns nach wie vor auf Kosten unserer Nachfahren in unserer Reiselust austoben, doch nicht mehr sehr lange. Aber wie wir auf frühere Lebensphasen mit ihren besonderen Quellen der Lebensfreude zurückblicken und zugleich wissen, dass sie nie mehr wiederkommen werden, lernen wir zu verstehen, dass es immer, in jeder Situation, Zugänge zur Lebensfreude gibt. Nur suchen wir sie nicht mehr in Formen von ressourcenintensiven Gütern und Dienstleistungen im Außen, sondern in uns selbst und im sozialen Austausch.

Zum Weiterlesen:
Vom Ende der Wachstumsgesellschaft und von der Verfeinerung der Einfachheit
Bescheidenheit als Überlebensnotwendigkeit
Realoptimismus angesichts der Klimakrise
Atemresilienz angesichts der Krise
Einfachheit und Komplexität


 

Sonntag, 14. Mai 2023

Realoptimismus angesichts der Klimakrise

Ein Blick auf die Realität mit Hilfe der wissenschaftlichen Berechnungen zeigt: Unsere Situation als Menschheit ist äußerst besorgniserregend. Die einhelligen Befunde deuten auf sehr unsichere klimatische Zeiten mit unabsehbaren Folgen für das Leben von Menschen, Tieren und Pflanzen. Gibt es berechtigte Anlässe für eine Hoffnung auf eine zeitgerechte Wende ohne große Einbußen? Ist es überhaupt sinnvoll und richtig, optimistisch zu sein? 

Die Vorteile der Zuversicht  

Die optimistische Einstellung hat auf der psychologischen Ebene einige Vorteile. Sie gibt uns ein gutes Selbstgefühl, das zur Aktivität anregt und uns motiviert, Hand anzulegen und Dinge zu verändern. Vollbrachte Taten wiederum stärken den Tatendrang und geben dem Optimismus weiteren Auftrieb. Wir suchen Lösungen zu den anstehenden Problemen. Wir können besser durchhalten, wenn es schwierig wird, weil wir darauf vertrauen, dass wir es schaffen. Bei Krankheiten erzeugt eine optimistische Einstellung einen heilsamen Placebo-Effekt. Sie dient auch dazu, das Gefühl der Selbstwirksamkeit zu verstärken und den Eindruck zu erwecken, dass die Situation unter Kontrolle ist. Sie verhilft auch andere Menschen zur Zuversicht, indem er ansteckend wirkt. Die Zuversicht, die Optimisten ausstrahlen, wirkt gewinnend und sympathisch, weil sie Mut ausstrahlt und ermutigt. Außerdem schätzen viele die Aussicht, dass alles wieder gut wird, um die eigenen Ängste und Sorgen zu beschwichtigen. Optimisten zuzuhören schafft freudvolle Gefühle, Pessimisten zuzuhören führt leicht in gedrückte Stimmungen oder sogar Depressionen.

Denn eine pessimistische Einstellung befindet sich in der Nähe der Resignation und kann zu Passivität und zum Trübsinn führen. Fruchtlose und selbstquälerische Grübeleien sind typisch für viele pessimistische Menschen. Statt ihre Energien aktiv in Gang zu bringen, knotzen sie herum und versinken im Missmut. 

Zwischen Optimismus und Pessimismus hat der Realismus seinen Platz. Während die ersten beiden Orientierungen in die Zukunft weisen und entweder von positiven oder negativen Erwartungen ausgehen, hat der Realismus in der Gegenwart seinen Bezugspunkt. Er ist frei von emotionalen Färbungen und Stimmungen und verfügt über eine nüchterne Sicht auf das, was gerade ist, möglichst frei von Bewertungen, also ohne Beschönigung oder Schwarzmalerei.

Die Schattenseiten der Optimisten

Es ist wichtig, die Kehrseiten des Optimismus in Betracht zu ziehen. Optimisten neigen zur Unterschätzung der anstehenden Problematik und zum Übersehen von wichtigen Aspekten, die die so leichthin angepeilten Lösungen zu Scheinlösungen machen. In Bezug auf den Klimawandel gilt es sich einzugestehen, wie träge die verschiedenen involvierten Systeme sind. Sie müssten sich radikal ändern, um z.B. die CO2-Emissionen nachhaltig auf ein verträgliches Niveau zu bringen, doch vergehen Jahre um Jahre, in denen es kleine Fortschritte mit geringem Einfluss auf die Entwicklung gibt. Viele Optimisten hoffen auf technologische Wunder, die alles rückgängig machen können, was schon aus dem Ruder gelaufen ist. Realistisch betrachtet, gibt es viele Ansätze, um z.B. CO2 zu neutralisieren, doch sind diese entweder sehr teuer, wenig effektiv oder brauchen selber so viel Energie, dass es zu vielleicht zu Einsparungen kommt, aber nicht zu einem Null-Wachstum von Emissionen. 

Andere Optimisten setzen auf eine Systemänderung, mit der ein Neuanfang auf allen Ebenen gelingen könnte. So wünschenswert dieser radikale Ansatz ist, so realitätsfern mutet er sich an. Denn die meisten Menschen in den entwickelten Ländern fühlen sich noch so behaglich im aktuellen System, das ihnen so viele Vorteile beschert, dass sie gegenüber allen radikalen Änderungsvorstellungen skeptisch bis abwehrend sind. Außerdem ist unklar, wie ein System ausschauen soll, das die Klimakatastrophe abwenden kann. Kann das „grüne Wachstum“, das viele Politiker anpreisen, überhaupt funktionieren? Was wären die Umweltkosten, wenn die ganze Welt mit Solarpaneelen und Windrädern ausgestattet ist? 

Sozialpsychologische Untersuchungen haben den optimism bias enthüllt, der die spezielle Neigung von Optimisten zu kognitiven Verzerrungen beschreibt. Es handelt sich um Fehlurteile aus Optimismus. Z.B. glauben die meisten Menschen, dass etwas Schlimmes, das in der Zukunft passieren könnte, die anderen mehr betreffen wird als einen selber. Die „Klimaleugner“, also Menschen, die glauben, dass die Klimaveränderungen nicht menschengemacht sind, täuschen sich mit ihren naiven Optimismus über die realen Gefahren hinweg, die auf uns zukommen. Viele Ökonomen oder Techniker setzen auf innovative Lösungen für die Zukunft, ohne die jeweiligen Auswirkungen dieser Maßnahmen auf die Ökobilanz insgesamt miteinzubeziehen. Oder es wird eine vage Hoffnung als Sicherheit präsentiert, wie die deutsche Lufthansa, die verkündet, bis 2050 klimaneutral fliegen zu können und sich auf eine Grundlagenforschung beruft, von der aber „heute noch nicht alle Lösungen bekannt sind.“

Viele Politiker, vor allem wenn sie an der Regierung sind, huldigen einem Zweckoptimismus als einer Art der Selbstrechtfertigung, schließlich müssen sie die eigenen Maßnahmen anpreisen und die Hoffnung verbreiten, dass sie für eine gute Zukunft sorgen, wie unrealistisch das auch immer sein mag. Sie rechnen damit, dass die meisten Bürger nur so ungefähr über die Lage informiert sind und, wie wir Menschen eben sind, unangenehme Prognosen und Szenarien beiseiteschieben oder mittels Zweifel und Skepsis abschwächen. Bei denen können sie sich beliebt machen, indem sie Optimismus und Tatkraft ausstrahlen und so tun, als hätten sie die Lage im Griff. 

Optimismus und Heuchelei

Zur Heuchelei wird der Optimismus dort, wo wider besseres Wissen behauptet wird, dass sich alles zum Guten wenden wird oder dass wir uns keine Sorgen zu machen brauchen. Das Heucheln dient der Verdrängung des Widerspruchs im eigenen Selbst, und sein Preis der Heuchelei ist fast immer, dass über kurz oder lang aufgedeckt wird, was die Lüge war, und damit das Vertrauen verspielt ist. 

Thomas Metzinger schreibt dazu: "Wir können uns den inneren Konflikt, der mit Heuchelei und selbstgefälligem Optimismus einhergeht, nicht mehr leisten. Für alle, die wirklich ein Teil der Lösung sein wollen, sind Selbsttäuschung, die angenehme Illusion von Selbstwirksamkeit sowie blauäugiger Idealismus keine nachhaltigen Selbstmotivierungsstrategien.

Zweckoptimismus führt mittelfristig fast immer zu emotionalem Ausbrennen und zu einem Gefühl der Verbitterung, denn es handelt sich dabei um eine gezielte und vorsätzliche Verzerrung des eigenen inneren Modells der Realität. Daher kann Zweckoptimismus manchmal sogar aus dem Ruder laufen und in einem wahnhaften Zustand enden." (Bewusstseinskultur 2023, S. 13)

Stellen wir uns einmal vor, wie die Bevölkerung reagieren wird, wenn die Klimakrise einmal voll zuschlägt und alle erkennen, dass der Scheinoptimismus der Politiker nur aus hohlen Phrasen zusammengebastelt war. Wer kann dann noch Vertrauen in die Politik haben? Wie aber kann dann eine Gesellschaft noch handlungsfähig bleiben, was ja angesichts von Katastrophen besonders wichtig wäre?

Realistischer Optimismus

Nachdem der Pessimismus keine förderliche Alternative zu einem naiven oder blinden Optimismus bietet, stellt sich die Frage, ob wir mit einem nüchternen Realismus das Auslangen finden können oder ob es einen Weg gibt, die positiven Elemente des Optimismus auf eine sinnvolle Weise zu nutzen. Denn auch wenn eine durchbrechende Wende zum Besseren unwahrscheinlich ist und es jetzt nur mehr um das Abfedern der ärgsten Auswirkungen geht, brauchen wir alle psychischen Kräfte, um mit den zunehmend anwachsenden Herausforderungen fertig zu werden. Die Haltung des Optimismus enthält eine Reihe positiver emotionaler und sozialer Elemente, auf die wir nicht verzichten sollten, wenn es darum geht, die Aufgaben zu meistern, die auf uns zukommen.

Wir müssen auf der Hut sein vor den Schattenseiten des Optimismus, die in die Nähe von narzissmusgesteuerten Selbsttäuschungen führen. Jenseits dieser Schwächen verfügen wir über eine Form des Optimismus, der den klaren Blick auf die Realität beibehält, aber von der Zuversicht geleitet wird, dass wir über genug Energien und Kräfte verfügen, mit allen Herausforderungen der Zukunft umgehen zu können. Wir müssen uns nicht in unsere Taschen lügen, was die Lage anbetrifft, sondern orientieren uns an dem, was uns die Wissenschaften an Informationen bieten und was die Techniker an Innovationen entwickeln. Wir können alle Alternativen, die sich bieten, nüchtern abwägen und vernünftige Entscheidungen treffen. Der Optimismus hilft uns, einen kühlen Kopf zu bewahren und realitätsgerecht zu handeln. 

Pessimisten neigen dazu, mehr in sich selber zu kreisen. Für die Bewältigung jedweder Krise ist es aber zentral, nicht nur an die Rettung der eigenen Haut zu denken, sondern auch an das Schicksal der Mitmenschen mit einzuschließen. Im Optimismus steckt die Zuversicht, es gemeinsam zu schaffen. Ohne die Perspektive der sozialen Ausgewogenheit und der Rücksichtnahme auf die Schwächeren und Benachteiligten in der Gesellschaft wird es keinen Ausweg aus der Krise geben. Selbst wenn es ein paar Superreichen gelingt, ihre Felle irgendwo ins Trockene zu bringen, selbst wenn sich die reicheren Staaten gegenüber anderen abschotten, sind das nur punktuelle oder temporäre Auswege. Die unabsehbaren wirtschaftlichen Auswirkungen einer aufgrund von Klimakatastrophen einbrechenden Produktion in allen Sektoren betreffen alle gleichermaßen, und möglich ist sogar, dass das Finanzsystem seine Bedeutung verliert und damit die Milliardenvermögen nichts mehr wert sind. 

Ein Planet, der allen Bewohnern gehört

Inseln der Seligen inmitten einer verwüsteten Erde kann es nicht geben, auch das sind nur Illusionen. Wir haben einen Planeten, und seine Reichtümer und Schätze haben gleichermaßen allen Menschen zur Obsorge und Pflege übertragen bekommen. Dieser Grundsatz kann durch noch so viel Egoismus nicht ausgehebelt werden, und er ist ein Ausgangspunkt für einen realitätsgerechten Optimismus.

Zum Weiterlesen:
Über die Pflicht zum Optimismus
Die Wissenschaftsskepsis und das Versagen der Klimapolitik
Atemresilienz angesichts der Krise


Donnerstag, 11. Mai 2023

Die Wissenschaftsskepsis und das Versagen der Klimapolitik

25 % der deutschen Bevölkerung glauben, dass Wissenschaftler:innen beim Klimawandel übertreiben, um mehr Geld und Anerkennung zu bekommen. Das hat eine repräsentative Umfrage im Jahr 2022 ergeben. Die Zahlen dürften für Österreich und die Schweiz ähnlich liegen. Denn es ist schon länger bekannt, dass die skeptische Einstellung gegenüber den Wissenschaften vor allem in den deutschsprechenden Ländern besonders stark ausgeprägt ist. Die Leerstelle, die durch die Ablehnung der Wissenschaften entsteht, wird vor allem durch Verschwörungstheorien und esoterische Glaubensformen gefüllt. Die Corona-Zeit hat dem Misstrauen gegenüber den Wissenschaften einen zusätzlichen Aufschwung beschert, vor allem dadurch, dass polemische Wissenschaftskritiker ein großes Publikum über soziale Medien und kommerzielle Fernsehsender erreichen konnten, ohne selber auf wissenschaftliche Standards Rücksicht nehmen zu müssen. 

Ist der Ruf der Wissenschaft nun mal in einem Bereich ramponiert, kann das Misstrauen leicht auf andere Forschungsbereiche übergreifen: Vielleicht wird uns die Klimakrise nur eingeredet, von den Mainstream-Medien, die ja nur die Interessen von Regierungen und Konzernen vertreten und nur Wissenschaftler zu Wort kommen lassen, die diesen Interessen gehorchen.

Vom Nutzen der Wissenschaftsskepsis für die eigene Bequemlichkeit  

Was bringt die Wissenschaftsskepsis? Die Wissenschaft bietet abgesicherte Informationen nach dem jeweils aktuell besten Stand der Erkenntnis und außerdem ein kritisches Korrektiv für jede Form von Wissen, einschließlich des wissenschaftlichen Wissens. Wir verfügen über kein besseres Wissen über die Realität als das, das durch die Wissenschaften erzeugt wird. Wir wissen überhaupt nur aus diesen Quellen, dass es überhaupt eine Klimakrise gibt. In den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts haben Wissenschaftler das Ozonloch entdeckt und die Verursacher, die Flourkohlenwasserstoffverbindungen identifiziert, die daraufhin verboten wurden. Ohne Wissenschaften wären viele Menschen an Hautkrebs verstorben, ohne dass die Ursachen gefunden worden wären. Damals hat es übrigens keinen Zweifel gegenüber diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen gegeben.

Auch was die Klimakrise anbetrifft, geht alles, was wir darüber wissen, auf die Wissenschaften zurück. Niemand von uns hat je den CO2-Gehalt der Atmosphäre gesehen, gerochen oder sonst wie erfahren. Allenfalls nehmen wir abnorme Wetterphänomene wahr, aber ohne wissenschaftliche Daten könnten wir nur raten oder fantasieren, was die Ursache dafür sein könnte. 

Was aber diese Daten zeigen, was eben von Tausenden von Wissenschaftlern auf der ganzen Welt erforscht, dokumentiert und berechnet wurde, ist in hohem Maß beängstigend. Es geht nicht mehr darum, ob es zu einer Klimakatastrophe kommt, sondern nur darum, wann, wo und in welchem Ausmaß sie eintritt. Das Szenario ist düster, nur die Schattierung und der Dunkelheitsgrad sind offen und hängen davon ab, welches der Wahrscheinlichkeitsmodelle über Temperaturanstiege man für realistisch hält. Wir wissen, dass wir auf eine Katastrophe zusteuern und dass das, was wir dagegen tun, viel zu wenig und viel zu zaghaft ist. Die Klimaziele, also die Reduktion der Treibhausgasemissionen, sind im Vertrag von Paris 2015 nach langen und schwierigen Verhandlungen festgelegt worden. Die Erderwärmung sollte auf unter 2 Grad begrenzt werden – eine aus wissenschaftlicher Sicht minimale Übereinkunft, da selbst bei einer Erderwärmung von 1,5 Grad zu unabsehbaren Folgen mit wahrscheinlich irreversiblen Kipppunkten führen wird. In Bezug auf die Klimaziele der EU (die Reduktion der CO2-Emissionen auf 55% der Werte von 1990 bis 2030 und das Erreichen der Treibhausgasneutralität bis 2050) wissen wir jetzt schon, dass sie z.B. Österreich bis 2030 nicht erreichen wird. 

Skepsis und das politische Geschäft

Ein gewichtiger Faktor bei der Verzögerung der Maßnahmen zum Schutz vor einer Klimakatastrophe liegt bei der verbreiteten Wissenschaftsskepsis, die sich auch durch die politische Landschaft zieht und von vielen Politikern geteilt wird. Regierungen zaudern auch deshalb mit dem Beschluss von Maßnahmen, weil sie der Bevölkerung keine einschränkenden Änderungen der Lebensweise vorschreiben wollen, was ihre Wähler vergraulen würde. Sie nutzen die Ambivalenz in der Haltung der Bevölkerung, die durch das Misstrauen in die Wissenschaften verschärft wird, um sich zurückzulehnen und auf irgendwelche Zaubermittel zu warten.

Wenn die Politiker aber die Wissenschaften und zugleich die eigene Verantwortung als maßgebliche Entscheidungsträger ernst nähmen, hätten sie schon längst einschneidende Maßnahmen beschlossen und umgesetzt. Bei der Pandemie ist das relativ rasch gelungen, weil die Menschen schnell gespürt haben, dass es um Leben und Tod geht. Bei der Klimakrise muss niemand akut um sein Leben fürchten, und die mittel- oder langfristig wirkenden Schäden kennen wir in ihrer Massivität nur aus den Szenarien der Wissenschaftler. 

Da setzt ein Beschwichtigungsmechanismus ein, der besagt, dass alles nicht so schlimm werden wird. Wir wollen uns lieber selbst täuschen und in die eigene Tasche lügen als uns mit dem Bedrohungsszenarien auseinandersetzen, die die Wissenschaften vor unseren Augen ausbreiten. Und was wir – die Bevölkerung – als Wirklichkeitsverzerrung nutzen, kommt ebenso den Politikern zu pass, die sich da vor unangenehmen und unpopulären Maßnahmen schrauben können. Sie geben ihre Verantwortung ab und können sich darauf ausreden, dass  ja der Wille zu Veränderungen in der Bevölkerung nur schwach ausgeprägt ist und für die meisten andere Themen wichtiger sind.

Immer wieder erscheinen Umfragen mit dem Ergebnis, dass sich die Menschen große Sorgen wegen des Klimas machen (die Informationen aus den Wissenschaften sind angekommen) und dass sie ihr Verhalten nur minimal ändern wollen (die Verantwortung wird nicht übernommen). Diese Diskrepanz entsteht auch dadurch, dass die Ergebnisse der Wissenschaften verharmlost und abgeschwächt und mit der eigenen Bequemlichkeit gegengerechnet werden. Genau darum geht es bei den Sonntagsreden der Politiker, die gravitätisch ihre Sorgen ausdrücken und zugleich betonen, dass schon genug geschehen ist und dass eine Einschränkung des Wohlstandes und der luxuriösen Lebensweise nicht notwendig sein wird.

Anerkennen des Versagens

Wir müssen anerkennen, dass wir es als Menschheit viel zu weit haben kommen lassen. Wir haben versagt, die Katastrophe rechtzeitig abzuwenden, obwohl wir seit Jahrzehnten wissen, dass sie eintreten wird, wenn wir keine energischen Gegenmaßnahmen setzen. Diesen Tatsachen in die Augen zu schauen, macht Angst und beschämt. Ein einfacher Ausweg aus diesen unangenehmen Gefühlen ist es, die Überbringer der Unheilsnachricht  in Verruf zu bringen: Wir stellen sie als Übertreiber oder gar als Lügner hin, unterstellen ihnen selbstsüchtige Interessen oder werten sie emotional ab: Solche Hysteriker! Verantwortlich sind nicht wir aufgrund unserer Versäumnisse, sondern die, die uns darauf aufmerksam machen. 

Das Ernstnehmen der Schlussfolgerungen der Wissenschaften würde bedeuten, den eigenen Lebensstil radikal zu überdenken und neu aufzustellen. Angesichts der erdrückenden Faktenlage bliebe keine Wahl, für sich selbst die nachhaltigste Form des Lebens zu übernehmen, die nur irgendwie möglich ist. Es hieße, sich einzugestehen, selber am Elend kommender Generationen eine Mitschuld zu tragen. Denn all die Ressourcen, die man selber verbraucht hat, stehen nicht mehr zur Verfügung, stattdessen müssen unsere Nachfahren noch dazu an den klimatischen Folgen des eigenen Überkonsums leiden. 

So aber, wenn es gelingt, den Wissenschaftstreibenden unlautere selbstsüchtige Interessen oder Wichtigtuerei zu unterstellen, werden die düsteren Zukunftsaussichten in ein neutraleres Licht getaucht: Diese Leute sind ja wie alle anderen Menschen auch käuflich und korrupt. Was sie an scheinbaren Fakten verbreiten, hat nichts mit der Realität zu tun. Die Realität ist eben nur das, was man selber direkt erlebt – sonnige und regnerische Tage, heiß war es schon immer im Sommer, was soll da das Problem sein? Die Überschwemmungen, Wirbelstürme und Trockenheitsperioden sind schlimm, aber solange sie einen selber nicht betreffen, genügt ein kurzes Bedauern der leidenden Menschen. Der Anstieg des Meerwasserspiegels findet vielleicht irgendwo statt, auf 500 Metern Meereshöhe wird einem schon nichts passieren. 

Und im Übrigen kommt die nächste Eiszeit bestimmt. Oder ein Komet macht dem Planeten den schnellen Garaus. Die Welt steht auf kan‘ Fall mehr lang, hat schon Nestroy als Knieriem 1834 gesungen, und sie steht noch immer. Also alles nur Angstmache von mieselsüchtigen Schlechtmachern.

Sobald die Wissenschaft in bestimmten Kreisen delegitimiert ist, also ihrer Deutungsmacht entkleidet wird, lässt es sich so weiterleben und weiterkonsumieren wie bisher. Der mehr oder weniger luxuriöse Lebensstil kann beibehalten werden, das Gewissen ist beruhigt. Ändern sollen sich allenfalls die anderen, die noch viel mehr als man selbst verbrauchen, wie auf dem Cartoon, wo ein Mann von sich gibt, dass die Chinesen endlich ihren Treibgasausstoß reduzieren sollen und auf allen Gegenständen um ihn herum einschließlich seiner Kleidung steht „Made in China“.  Plumpe Ausreden zu finden, ist einfacher als die komplexen Modelle der Wissenschaften zu studieren. Sie dienen der trägen Anhänglichkeit an die gewohnten Lebensformen und ihre Vorzüge. 

Geschäftsinteressen und Wissenschaftsskepsis

Natürlich gibt es viele Profiteure der Wissenschaftsskepsis. All die Firmen und Konzerne, die ihre Geschäfte mit der Zerstörung des Lebens auf dem Planeten machen, haben ein vitales Interesse daran, dass möglichst viele Menschen nicht auf die Wissenschaft vertrauen, sondern deren Ergebnisse bezweifeln und relativieren. Wir wissen nicht genau, mit welchen Mitteln die Wissenschaftsskepsis von diesen Konzernen betrieben und gefördert wird; wir kennen allerdings aus der Vergangenheit die Bemühungen der Zuckerindustrie, mittels gekaufter Studien die Gefahren des Zuckerkonsums zu widerlegen, sowie ähnliche Bestrebungen der Tabakindustrie, die die Harmlosigkeit des Rauchens belegen sollten. Für viele Bereiche der Industrie, vor allem jene, die mit dem Vertrieb von fossilen Energieträgern leben, stellen die Schlussfolgerungen aus den Erkenntnissen der Klimaforschung eine Bedrohung dar. Für ihre Betreiber ist es nur logisch, dass sie alles tun, um den Glauben an die Wissenschaften zu unterminieren.

Das Streuen von Fake-Informationen hat immer den Seiteneffekt, dass Leute sagen, sie wissen nicht, wer Recht hat, und eine Haltung einnehmen, die sich nicht festlegt, sodass schließlich erfundene „Fakten“ gleichrangig neben erforschten Fakten stehen. Damit steht es im subjektiven Belieben, sich z.B. aus Bequemlichkeit oder zur Gewissensberuhigung einer wissenschaftsskeptischen Position anzuschließen.

Und jeder, der sich aus freien Stücken, aber ohne grundlegende Kenntnisse in der Wissenschaftstheorie, der Wissenschaftsskepsis anschließt, indem er z.B. ein Klimawandelleugner wird, sollte sich im Klaren sein, dass er diesen Geschäftsinteressen, die auf der Ausplünderung des Planeten beruhen, einen willkommenen Dienst erweist.

Zum Weiterlesen:
Atemresilienz angesichts der Krise
Impfen, Wissen und Wissenschaft
Zwischen Wissenschaft und Lügenproduktion
Die Eso-Hasser und das Skeptiker-Syndrom
Wenn Fiktion zum Faktum wird
Nachhaltigkeit in der Demokratie


Sonntag, 7. Mai 2023

Atemresilienz angesichts der Krise

Die Klimakrise findet statt, wie wir täglich bemerken, wenn wir uns die Wetterphänomene bei uns und anderswo anschauen. Was Tausende von Wissenschaftlern erforscht und prognostiziert haben, tritt ein, fraglich ist nur die Geschwindigkeit, mit der Katastrophen eintreten, und deren volles Ausmaß ist noch nicht gewiss. Es ist also offen, wann der befürchtete Kipppunkt eintritt, der viele Systeme zum Zusammenbruch führen wird. Es ist, wie es so schön heißt, nur eine Frage der Zeit. Ungewiss ist auch, was die Folgen des Kipppunktes sein werden, d.h. wie die Menschen, die Gesellschaften und die Staaten darauf reagieren werden. 

Das Außergewöhnliche an dieser Krise ist, dass es in der Menschheitsgeschichte nichts Vergleichbares gegeben hat. Sie betrifft die gesamte Menschheit, die Tierwelt und die Natur, also alles Leben auf diesem Planeten. Sie entwickelt sich schleichend und fast unmerklich, sodass sie solange ignoriert oder verleugnet werden kann, bis irgendwo das Wasser zum Hals steht. Dazu kommt noch, dass wir seit Jahrzehnten wissen, was auf uns zukommt und dass die meisten, und vor allem die politischen Verantwortungsträger, trotz des Wissens so getan haben und bis heute so tun, als wäre alles nicht so schlimm und als würde irgendein technologisches Wunder in letzter Minute Abhilfe verschaffen. Diese verantwortungslose Naivität ist eine der Ursachen, warum es versäumt wurde, der in die Katastrophe führenden Entwicklung rechtzeitig gegenzusteuern. 

Doch das Zeitfenster, in dem effektive breitflächige Maßnahmen ohne allzu hohe Kosten die Emissionen reduzieren hätten können, hat sich schon geschlossen. Stattdessen haben die Politiker mit Zustimmung der Bevölkerungen den gegenteiligen, schon gewohnten Kurs gewählt: Die stetige Steigerung des Ausstoßes der Treibhausgase, die stetige Steigerung des Wohlstandes, der Industrieproduktion und des Konsums und damit die stetige Steigerung von Kohlendioxid in der Erdatmosphäre. 

Vertrauensverlust

Die Pandemie-Krise hatte eine Ähnlichkeit mit der alles umfassenden Klimakrise, dass sie global war und keine vergleichbaren Vorläufer hatte. Es gab also keine Erfahrungen für das Management einer solchen Krise in komplexen Gesellschaften, deshalb wurde in vielen Staaten aus einer Gesundheitskrise eine gesellschaftliche Krise mit viel Verunsicherung und Verwirrung. Die politischen Verantwortlichen verloren durch die Fehler im Pandemiemanagement bei vielen Bürgern an Vertrauen, und damit wurden auch die politischen Systeme, die sie repräsentierten, in Zweifel gezogen. Der Zuwachs an antidemokratischen Strömungen ist eine Folge der Infragestellung der Demokratie und stellt eine zusätzliche Belastung für das Management der Klimakrise und der daraus resultierenden Katastrophen dar. Denn ähnliche Kritikpunkte, mit denen populistisches Kleingeld gesammelt werden kann,  zeichnen sich schon jetzt ab. Wenn erst handfeste Probleme mit Überhitzung, Austrocknung, Meeresspiegelanstieg usw. in der engeren Umwelt auftauchen, scheint eine gesellschaftliche Radikalisierung unvermeidlich. Doch können keine politischen Proteste oder krude Verschwörungstheorien den Klimawandel aufhalten, vielmehr ist ihm eine zerstrittene Gesellschaft noch viel wehrloser ausgeliefert als eine homogene, die mit geeintem Willen und mit dem Augenmerk auf soziale Gerechtigkeit und ökologische Verträglichkeit mit den Krisenfolgen umgeht.

Die vergleichsweise harmlose Corona-Welle hat zu enorm vielen Ängsten und daraus stammenden Verschwörungstheorien geführt und für einen Zulauf zu rechten und rechtsextremen Gruppen und Parteien gesorgt. So ist damit zu rechnen, dass bei noch massiveren Krisenerscheinungen noch mehr gesellschaftliche Polarisierungen auftreten werden. Je stärker die Betroffenheit ist, desto mehr Ängste entstehen, und desto mehr irrationale Reaktionen werden auftreten. Die Frontlinien, die dann die Gesellschaft auseinanderreißen können, sind von cleveren Parteimanagern schon markiert, die Schützengräben werden fleißig ausgehoben.

Zwanghaftes Wachstum

Wir müssen aus der Zwangsfixierung auf materielles Wachstum heraus, je früher, desto besser. Sie führte uns direkt in die Klimakatastrophe und verschärft sie kontinuierlich. Sie hat keine Zukunft, denn der Planet verfügt nur über begrenzte Ressourcen, und wenn die Wirtschaft weiterläuft wie bisher, wird irgendwann das Wachstumssystem kollabieren. Es verspricht uns kurzfristig eine scheinbare Atempause, während es in Wirklichkeit die Entwicklung beschleunigt. Es sägt zunehmend und zuverlässig den Ast ab, auf dem wir sitzen und auf dem auch zukünftige Generationen einigermaßen bequem sitzen möchten. 

„Der Kapitalismus kann ebenso wenig überredet werden, das Wachstum zu begrenzen, wie ein Mensch überredet werden könnte, mit dem Atmen aufzuhören.“ (Murray Bookchin)

Der ideologische Treibsatz hinter dem kapitalistisch-neoliberalen Wirtschaftssystem hat eigentlich schon lange ausgedient, denn er hat inzwischen genug angerichtet.  Er ist dennoch fix in unseren Gehirnen in ihren Belohnungs- und Bestrafungszentren verankert. Er wird tagtäglich durch die Selbstbetätigungen verstärkt, die wie rundum laufende Mantren in der Leistungs- und Stressgesellschaft, im Bildungssystem und in den Medien bis hin zur Unterhaltungsindustrie eingepflanzt sind und uns als Ohrwürmer plagen: „Leiste mehr, besser, schneller, dann kriegst du deine Belohnung.“

Mit dem Mitspielen aufhören

Es liegt an uns, ob wir der Wachstumsideologie noch länger dienen und uns ihr und ihren Zwängen wider besseres Wissen unterwerfen. Wir haben die Wahl, uns immer wieder aus den diversen Hamsterrädern auszuklinken, indem wir uns auf das besinnen, was uns wirklich wichtig ist, und da werden wir kaum darauf stoßen, dass uns die Anhäufung von noch mehr Gütern ein Hauptanliegen ist. Wir brauchen also die Kraft unserer Bewusstheit, die uns darauf aufmerksam macht, wann wir uns im Bann des Wachstumswahns befinden. Sie ist es, die uns zu uns selber zurückführt. Der Atem ist eine wichtige Unterstützung für die Bewusstheit, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf ihn lenken. Er befreit uns vom Stress und bringt uns zum inneren Gleichmut. Er gibt uns die Gewissheit, dass wir unsere Selbstachtung behalten können, wie auch immer sich die Lebensumstände ändern werden.

Wir sollten darauf achten, unsere Energien nicht zur Bewältigung von Stress zu verbrauchen, den wir uns infolge der Anstiftung des wahnhaften Leistungssystems selber machen. Entledigen wir uns des Getriebenseins, der Ruhelosigkeit und suchen wir den Frieden in uns, mit der Hilfe einer entspannten Ausatmung und mit der Bewusstheit auf die Ressourcen, die uns das Leben geschenkt hat, im Inneren wie im Außen. Wir brauchen alle unsere Kräfte, um das zu tun, was notwendig und richtig ist. Hören wir auf, mitzuspielen in einer Stressmaschine, die uns ausbeutet und abhängig machen will. Hören wir auf, uns Gier und Menschenverachtung einprägen zu lassen durch eine Lebensweise, mit der wir weit über unsere globalen Möglichkeiten hinaus konsumieren und unsere Nachfahren mit den Folgen belasten. Weiten wir unseren Horizont, indem wir die Welt als Ganze im Blick behalten und in unserem Handeln nach dem streben, was das Beste für dieses Ganze ist und in unseren Möglichkeiten liegt. 

Dieser Artikel ist inspiriert von Thomas Metzinger: Bewusstseinskultur (Berlin-Verlag 2023)

Zum Weiterlesen:
Krisen und Krisenresilienz
Brauchen wir Krisen, um die globalen Probleme zu lösen?
Ausstieg aus dem Funktionsmodus
Funktions- und Flussmodus
Funktional und fließend wahrnehmen
Geschehenlassen und Funktionieren
Tun und Geschehenlassen


Montag, 1. Mai 2023

Ausstieg aus dem Funktionsmodus

Unsere Gesellschaft ist geprägt vom Leistungsdenken und von dem daraus resultierenden Leistungsdruck, der sich mit der fortschreitenden Kapitalisierung der Wirtschaft konstant steigert. Im Zug dieser Entwicklung wird der Wert des menschlichen Lebens immer mehr an dem festgemacht, wie sehr sich jemand anstrengt und wie erfolgreich diese Anstrengung ist. Wer sich weder anstrengt noch mit seiner Anstrengung viel erreicht, verdient keinen Wert und seine Existenzberechtigung ist in Frage gestellt. 

Dieses Denken und die damit verbundenen Erwartungen erfassen die Kinder spätestens mit dem Schuleintritt, falls nicht schon im Kindergarten im Sinn einer Vorschule die Leistungsorientierung eingeführt wird. Dieser Druckmechanismus ist im weiteren Leben vor allem im beruflichen Feld bestimmend und schwappt von dort aus auch auf den Freizeitbereich über. Er wirkt daran mit, dass viele Menschen mit ihrer Pensionierung, beim Eintritt in den „Ruhestand“, in eine Krise geraten, weil sie das beschämende Gefühl bekommen, nichts mehr wert zu sein. 

Als Folge der Ausbreitung des kapitalistischen Wirtschaftssystems ist der Wert eines Menschen also mit seiner Leistung und seiner Leistungsfähigkeit gekoppelt. Manche verweigern sich dieser Zuordnung und beschließen, nichts oder nur das Allernotwendigste zu leisten. Sie scheren aus dem allgemeinen Gerenne nach dem Sich-Beweisen und Erfolg-Haben aus und versuchen, sich auf alternativen Bahnen die eigene Existenz zu sichern. Sie befinden sich in einer Konterposition zur herrschenden Leistungsideologie, können sich aber dennoch nicht von deren Druck befreien. Denn diese Ideologie ist so mächtig, dass sie jeden schon ergriffen und durchdrungen hat, ehe man sich eines Besseren besinnt. 

Systematische Druckausübung

Ein zentraler Teil dieser Ideologie ist, dass ohne Druck nichts weitergehen würde: Freiwillig würde niemand mehr arbeiten, alle würden sogleich auf der faulen Haut liegen. Es würde niemand früh aufstehen oder Termine einhalten, und die Wirtschaft würde schließlich zusammenbrechen. Der beständige Druck von oben nach unten ist demnach als ein scheinbar unerlässlicher Bestandteil im Leistungssystem und seiner Ideologie eingebaut. Im neoliberalen Denkgebäude herrscht das Menschenbild vor, dass wir eine im Grund arbeitsscheue und faule Gattung sind, die nur durch Anreize, Manipulation oder nackte Gewalt zum Arbeiten gebracht werden kann. Dass das Aktiv- und Tätigsein aus einem inneren Antrieb stammen könnte, hat keinen Platz in dem System, ebensowenig wie die Erkenntnis ernst genommen wird, dass Menschen unter Druck weniger und schlechtere Leistung erbringen als wenn sie aus eigenem Wollen schaffen. 

Folglich sind selbstbestätigende Regelkreise entstanden, in denen immer mehr Druck immer mehr Druckvermeidung produziert, auf die wieder mit mehr Druck reagiert wird. Druck erzeugt Widerstand, der sich in den seltensten Fällen nach außen wendet (wie z.B. bei einer Maschinenstürmerei oder bei Demonstration gegen unerträgliche Arbeitsbedingung); über Generationen hat sich verinnerlicht, dass der Druck eben „dazugehört“ und dass jeder lernen muss, sich den Erwartungen anzupassen und unterzuordnen. Jeder Mitspieler in dem System hat die Verantwortung verinnerlicht, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute den Widerstand zu überwinden und sich zur Leistung zu motivieren, gleich ob es einem passt oder nicht. Und verinnerlicht ist auch die Maxime, dass das Handeln im Sinn des wirtschaftlichen Schaffens die eigene Existenz rechtfertigt und das Nichtstun die eigene Existenz in Frage stellt.

Es geht eine Unmenge Energie ins Druckmachen, in den Widerstand gegen den Druck und in seine Überwindung. Diese Kräfte fehlen auf der produktiven Seite, denn sie fließen nur in die Aufrechterhaltung des Systems. Die Folge ist, dass weniger geschaffen wird, einerseits, weil die, die oben sind, ihre Energie ins Druckerzeugen stecken, und die, die unten sind, unter Druck und wegen ihrer Widerstandsüberwindung weniger leistungsfähig sind. Automatisch steigt dadurch der Druck und ebenso wächst der Widerstand dagegen. Der riesige Koloss des Wirtschaftssystem hält sich am Leben wie ein Fahrzeug, das dauernd mit angezogenen Bremsen fährt und den doppelten Energieverbrauch benötigt, ohne mehr Leistung zu erbringen.

Die Angst regiert beide, die oben und die unten, und sie reduziert genau das, was produziert werden soll, nämlich Leistung. Menschen leisten mehr und besser, wenn sie frei von Druck, aus sich selbst heraus schaffen. Aber solange wir glauben, dass wir nur durch Angst getrieben aktiv werden, können wir uns keine angstbefreite Schaffenskraft vorstellen und füttern damit das System, das uns tendenziell ruiniert, als Einzelne, als Gesellschaft und als Menschengattung.

Individuelles Ausklinken

Hier geht es nicht darum, dass das widersinnige System der Ausbeutung und Selbstausbeutung überwunden und transformiert werden muss. Dieser Prozess ist langwierig, weil er verschiedene Trägheitsschwellen überwinden muss, z.B. die Macht, die bei den Nutznießern des Systems konzentriert ist oder die neoliberalen Ideologien, die für viele so selbstverständlich geworden sind, dass sie wie unumstößliche Wahrheiten wirken. Es wird – falls es nicht zu einem dramatischen Kollaps als Folge einer globalen Klimakatastrophe kommt – Jahrzehnte oder Jahrhunderte dauern, bis der Kapitalismus auf ein menschenverträgliches Maß zurückreguliert ist. 

Hier geht es darum, wie wir uns als Einzelne als dem Räderwerk von ökonomischen, soziologischen und psychologischen Prägungen ausklinken können. Es macht keinen Sinn, solange mitzuspielen und mitzuleiden, bis sich irgendwann einmal das System zugunsten der Menschlichkeit ändert. Wir sind für uns selber verantwortlich, für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden, das predigt uns der Neoliberalismus Tag für Tag. Wir müssen also selber dafür sorgen, dass wir angesichts eines systemisch wirksamen Wahnsinns heil bleiben. Dazu brauchen wir die Kraft unserer Bewusstheit, die wir immer wieder aktivieren müssen, wenn wir dem Zugriff der Selbstentfremdung entkommen wollen. Der Funktionsmodus ist tief in uns verankert und mit der eigenen Weltsicht und dem eigenen Selbstwert verflochten. Es sind massiv wirksame gesellschaftliche Prägungen, die sich mit Hilfe einer kollektiven Amnesie entwickelt haben, also mit einer kollektiven Verdrängung. Diese Entwicklung ist seit der neolithischen Revolution vor 12 000 Jahren in Gang, die durch den modernen Kapitalismus ab dem 18. Jahrhundert verschärft und globalisiert wurde. Sie weist die Merkmale einer kollektiven Traumatisierung auf. 

Wir sollten die Macht dieser Traumlast nicht unterschätzen und haben viel zu tun, wenn wir uns ihren Sog entziehen wollen. Doch je eher und je öfter wir uns ausklinken, desto weniger Schaden nehmen wir an Leib und Seele. Diese Distanzierung von der Druckausübung geht nur mit klaren und präsenter Bewusstheit, denn der Funktionsmodus ist tief verankert und mit dem eigenen Selbstwert verflochten. 

Die Macht der Bewusstheit

Theodor W. Adorno hat zwar einmal geschrieben, dass es kein richtiges Leben im falschen geben kann, dass also ein unmenschliches System alle seine Mitglieder von sich selbst entfremdet und ein Entkommen davon nicht möglich ist. Aber dieser Fatalismus übersieht die Möglichkeiten unserer Bewusstheit, die nicht zur Gänze durch gesellschaftliche Prägungen und kollektive Traumatisierungen gelähmt werden kann. Sie erhält unsere Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit. Sie ermöglicht uns, uns auf uns selber zu besinnen und klar zu werden, was wir wollen und was nicht. 

Es erfordert eine bewusste Entscheidung, vom Funktionsmodus auszusteigen und damit in den Flussmodus zu wechseln. Sie passiert nicht von selber, denn die Prägungen und die daraus abgeleiteten Gewohnheiten sind das, was von selber geschieht. Mit der bewussten Entscheidung für den Flussmodus setzen wir diese Prägungen außer Kraft und lassen zu, was von sich selber geschehen will. Wir tun das, was zu tun ist, in entspannter Weise. Oder: Es geschieht, was geschehen soll. 

Diese Entscheidung ist kein einmaliger Akt, der dann für immer gilt. Denn wir kippen allzu leicht wieder in den Funktionsmodus, den uns alle anderen vorleben. Wir sind einer permanent wirksamen Ansteckungsgefahr ausgesetzt. Wir entkommen ihr nur, wenn wir bewusst innehalten und uns klar machen, was wir wirklich wollen und wie wir gestalten wollen. Schon die Einsicht, dass Dinge geschehen, viele mit unserem Zutun und die meisten ohne unsere Mitwirkung, kann erleichtern. Das Müssen tritt hinter das Geschehenlassen zurück und führt aus dem Funktionieren, Müssen und Druckaushalten heraus. 

Chronischer Stress kann die Gehirnzellen süchtig nach Stresshormonen machen.  Darum machen sich viele Menschen Stress in Situationen, die andere gelassener nehmen würden. Sie merken nicht, dass es die Bewertung ist, die sie zu der Situation aufstellen, die den Stress auslöst, und nicht die Situation selbst. Zugleich haben sie den Eindruck, dass ihnen der Stress von außen aufgeladen wird. 

Die Erkenntnis, dass der Stress durch die innere Bewertung und nicht durch einen äußeren Einfluss entstanden ist, hilft beim bewussten Ausklinken aus den verbreiteten Stressmustern und trägt zur Stress-Entwöhnung bei. Eine wichtige und effektive Unterstützung bietet die Konzentration auf den Atem und vor allem die bewusste Entspannung beim Ausatmen. 

Die Weisen haben es leicht und sagen: Es geht nicht ums Erreichen, es geht ums Loswerden. Oder: Wichtig ist nicht, was wir im Leben schaffen, sondern was wir an Lasten ablegen können, um in die Freiheit zu gelangen. Der Dichter sagt: „Man muss den Dingen die eigene, stille, ungestörte Entwicklung lassen, die tief von innen kommt, und durch nichts gedrängt und beschleunigt werden kann; alles ist austragen – und dann gebären...“ (Aus: Rainer Maria Rilke: Brief an den jungen Dichter)

Zum Weiterlesen:
Funktions- und Flussmodus
Funktional und fließend wahrnehmen
Geschehenlassen und Funktionieren
Tun und Geschehenlassen
Das Geschehen und der Verstand