Samstag, 18. Dezember 2021

Langeweile: Keine Abenteuer im Kopf

Die Langeweile, die in die Länge gedehnte Weile, hat viele Gesichter. Sie kann ein kurzzeitiges Gefühl sein, das kommt und wieder geht. Sie kann sich bei bestimmten Gelegenheiten regelmäßig melden, bei denen wir irgendetwas, was gerade los ist, nicht interessant finden. Sie kann den Arbeitsprozess begleiten, wenn wir Tätigkeiten machen müssen, für die wir keine Motivation aufbringen und die unseren Neuigkeitsdrang nicht befriedigen. 

Wenn wir die Langeweile von innen her betrachten, können wir sie als eine Art Erschöpfungs- und Erstarrungsreaktion des Denkens verstehen. Sie ist ein mentales Phänomen und tritt auf, wenn wir vom Lebensprozess unseres Körpers abgespalten sind. Wir sind fixiert auf das Denken, das gerade mit dem, was ist, nichts anfangen kann und selber nichts Neues, Interessantes zustande bringt.

Dem Rest des Körpers ist nie fad. Die Nieren, die Leber, die Milz haben immer etwas zu tun, ebenso jede Zelle, jedes Gewebe, jeder Muskel. Der Körper ist dauernd in Bewegung, in Schwingungen, in Veränderungsprozessen. Informationen werden ausgetauscht und Prozesse optimiert, damit das komplizierte Regelwerk reibungslos funktioniert. Auch unsere Wahrnehmung ist im Wachzustand beständig aktiviert, die Augen und die Ohren müssen sogar die Menge an Eindrücken filtern, die von außen einströmen, damit sie mit ihrer Fülle zurechtkommen. 

Die Ablenkungsmaschinerien

Die Langeweile existiert also nur in einem kleinen Teil des Kopfes. Dennoch hat dieser Teil eine große Macht über unsere Befindlichkeit. Denn die Gefühle der Langeweile erleben wir als ziemlich unangenehm und lästig und wollen sie schnell loswerden. Die moderne Unterhaltungsindustrie hat ein riesiges Geschäftsmodell entwickelt, um die Menschen vor ihrer Langeweile zu bewahren. Trotz des massiven Angebots an Zerstreuung scheint es nicht so zu sein, dass die Menschen weniger an Langeweile leiden. Vielmehr ist es offenbar so, dass sich die Unterhaltungsangebote immer mehr selbst entwerten. Wir brauchen uns nur Fernsehshows anzuschauen, die wir vor dreißig Jahren lustig und abwechslungsreich gefunden haben und die heute träge und mäßig amüsant erscheinen.

Der Suchtcharakter der Unterhaltung

Die Zerstreuung als Gegenmittel zur Langeweile hat also Ähnlichkeiten mit Suchtmechanismen: Wir brauchen immer mehr, wir gieren nach Neuem und Intensiverem, um der Fadesse zu entrinnen. Deshalb müssen die Produkte der Ablenkungsindustrie immer greller, schneller und hektischer werden, um unsere Reize zumindest für einige Zeit zu fesseln. Es sind nicht mehr die Themen und Erzählstränge, die einen Film interessant machen, sondern die Reizkaskaden, die das Nervensystem der Zuschauer in Bann halten sollen. Ein Film oder ein Roman darf keine Längen und Leerläufe haben, eine Pointe muss die nächste jagen, sonst werden die Konsumenten nicht ihrer Langeweile gerettet, die sich in jeder Lücke, in der etwas Entspannung eintritt, melden wird. Schon ist das Publikum für immer verloren.

Langeweile und Routine

Immer wieder die gleichen Handgriffe zu machen, stereotype Bewegungen fortwährend zu wiederholen, die gleichen Gedanken nach vorne und nach hinten zu wälzen, routinierte Abläufe wieder und wieder auszuführen führt zu einer Form der Langeweile, in der sich die Zeit scheinbar ins Unendliche dehnt. Geistige Unterforderung wirkt genauso belastend wie Überforderung. Der Mangel an Anregungen lässt das Innere abstumpfen. Wo in der Erfahrung die Ecken und Kanten fehlen, die neue Reaktionen herausfordern, wo es keine unerwarteten Unterbrechungen in gewohnten Vorgängen gibt, die das Geschehen in eine unvorhergesehene Richtung lenken, geht die kreative Spannung verloren. 

Es ist diese aufregende Spannung, die uns ein besonderes Gefühl von Lebendigkeit und Wachstum gibt. Die Spannung der Neugier, die das Überraschende entdeckt und sich in seinen Zauber ergibt, bringt uns unmittelbar mit den expansiven Kräften des Lebens in Kontakt. Wo sie fehlt oder ausgezehrt ist, versiegt der Zugang zu diesen Lebensquellen. Auch wenn solche Routinetätigkeiten körperlich nicht anstrengend und geistig nicht beanspruchend sind, können sie Zustände von Erschöpfung und Ausgelaugtsein hervorbringen, die schwerer zu ertragen sind als die Arbeit von Möbelpackern.

Was können wir tun, um bei Laune zu bleiben, wenn wir Routine-Tätigkeiten machen müssen? Schlecht haben es jene, die sich mit eintöniger Arbeit ihr Einkommen verdienen müssen. Manche schätzen zwar die Überschaubarkeit und Gleichförmigkeit solcher Arbeiten, aber für viele stellen sie eine nagende Belastung dar, die zu drückenden Gefühlen und Verstimmungen als Folge einer Sinnentleerung führen kann. Hier können nur arbeitsorganisatorische Veränderungen helfen, um die Arbeitsabläufe menschengerechter zu gestalten, z.B. durch Job-Rotation.

Das Leben ist impulsiv und spontan

In der Langeweile hoffen wir auf eine Erlösung durch das Äußere. Irgendein Reiz soll kommen, der uns das unangenehme Gefühl nimmt. Wie können wir aber die Brüche in uns selbst erzeugen, die uns dann zum Kitten anregen? Wenn wir genauer nach innen spüren, finden sich dort immer Impulse, die uns aus der Lethargie und der gedehnten Zeiterfahrung führen. Unser Körper ist in dauernder Veränderung, ebenso unser Geist. Es liegt an uns, im richtigen Moment auf einen dieser Impulse aufzuspringen und ihn zuzulassen. Es kann eine überraschende Bewegung sein, die uns aus der langweiligen Routine herausholt oder eine neue Idee. Es kann etwas Unscheinbares sein, das plötzlich als etwas Besonderes erscheint. Wenn wir die kleinen Veränderungen, die in jedem Moment ablaufen, mit Aufmerksamkeit verfolgen, gibt es keine Langeweile mehr.

Wir sind sofort spontan, sobald wir aus den Schleifen der Denkgewohnheiten herausgetreten sind. Offenbar sind es alte, verstaubte Ängste, die uns in diese Schleifen einspannen. Dann stellen sich die öden Gefühle der Langeweile ein. Achten wir stattdessen auf unsere innere Lebendigkeit, dann binden wir uns an den Flow-Zustand an, an das Fließen von einem Moment zum nächsten. Das ist die Spontaneität, das Gegenmittel zur Langeweile. Allerdings können wir sie uns nicht verordnen („Sei doch endlich spontan!“). Wir brauchen sie nur zuzulassen, und das geschieht, sobald wir aus dem Kopfkino aussteigen, das stets die gleichen Filme abspult.

Die Chance in der Langeweile

Die Langeweile kann durchaus etwas Konstruktives und Positives sein, wenn wir nicht mit ihr hadern. Sie macht uns auf eine Pause in der Kette der interessanten Lebensmomente aufmerksam. Wir können diese Unterbrechung zum Nachdenken nutzen und Entscheidungen für eine sinnvolle Gestaltung unserer Lebenszeit vorbereiten. Wir tauchen in eine unerwartete Auszeit ein, die wir als Zeit der Muße definieren können, als ein Ausklinken aus den Funktionsabläufen des Lebens. Damit schaffen wir einen Kontrast zu einer Welt, die dauernd zum Produktivsein und Performen drängt, eine Welt, in der wir fortlaufend unseren Wert beweisen müssen. Wer nichts tut und nichts zu tun hat, ist wertlos. Deshalb darf niemand zugeben, Langeweile zu spüren. Vielmehr gilt es, herauszustreichen, wie gestresst man doch ist. 

Statt dass wir uns den Druck antun, mit dem wir meinen, jeden Moment des Lebens mit Sinn füllen zu müssen, lassen wir eine Pause zu. Dann können wir die Freiheit vom Zwang des Tuns und des Gefallens genießen. Auf diese Weise lassen wir das Quälende der Langeweile hinter uns und entdecken einen eigentümlichen Sinn in ihr, der tiefer gegründet ist als der Sinn, den wir mit unserem Tätigsein erzeugen. Wir kommen mehr zu uns selbst und zu dem, was wir sind, unabhängig von den Erwartungen, Zwängen und Ängsten.

Die Langeweile als Transformationspunkt

Von hier ist es nicht weit zum Portal, das von der Langeweile ins Nirvana führt. Blaise Pascal schreibt dazu: „Nichts ist so unerträglich für den Menschen, als sich in einer vollkommenen Ruhe zu befinden, ohne Leidenschaft, ohne Geschäfte, ohne Zerstreuung, ohne Beschäftigung. Er wird dann sein Nichts fühlen, seine Preisgegebenheit, seine Unzulänglichkeit, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. Unaufhörlich wird aus dem Grund seiner Seele der Ennui aufsteigen, die Schwärze, die Traurigkeit, der Kummer, der Verzicht, die Verzweiflung.“  („Rien n’est si insupportable à l’homme que d’être dans un plein repos, sans passions, sans affaires, sans divertissement, sans application. Il sent alors son néant, son abandon, son insuffisance, sa dépendance, son impuissance, son vide. Incontinent il sortira du fond de son âme, l’ennui, la noirceur, la tristesse, le chagrin, le dépit, le désespoir.“) (Pensées diverses II – Fragment Nr. 25/37)

Die Leere in der Zeit, durch die die quälende Langeweile charakterisiert ist, dreht sich ins Unendliche der Zeitlosigkeit, allerdings nur, wenn wir sie als Drehpunkt verstehen und nutzen, als Chance für eine transformierende Veränderung. Fallen wir jedoch auf uns selber und unser Ego zurück, so landen wir in der von Pascal beschriebenen Verzweiflung; gelangen wir über uns selber hinaus, indem wir uns gewissermaßen in die vollkommene Ruhe und ihr Nichts fallen lassen und jeden Widerstand gegen die in die Länge gedehnte Zeit aufgeben, dann gelangen wir in den Raum der inneren Freiheit. In diesem Raum gibt es keine Langeweile mehr.

Zum Weiterlesen:
Gier und Neugier
Meditation und Langeweile
Langeweile, eine Form der Selbsttäuschung
Muße als Lebenskunst



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