Donnerstag, 25. Juli 2013

All-Erfahrung und Nicht-Dualität

Ich habe in dem Blogbeitrag über „Dualitäten und Illusionen“ ein Minimalmodell vorgestellt, wie das Leib-Seele-Problem „gelöst“ werden kann. Das Modell kommt aus meiner Sicht der Allgemeinvernunft unserer Zeit am nächsten und erscheint deshalb mit sehr vielen verschiedenen anderen Sichtweisen der Wirklichkeit kompatibel oder diskursreif. Es beruht auf möglichst wenigen Vorannahmen und enthält deshalb auch möglichst wenige Widersprüche. Es entspricht unserer rationalen Denkfähigkeit und deckt sich mit der raum-zeitlichen Wirklichkeitserfahrung durch unsere äußeren Sinne.

Was heißt hier die „Lösung“ eines Problems? Wittgenstein schreibt: „Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems.“ (Tractatus logico-philosophicus 6.521) Die Lösung eines Problems kann darin bestehen, dass es nicht mehr im Weg steht, dass es also keine Brüche mit der Erfahrung aufweist. Es behindert unser praktisches Leben nicht mehr, weil wir mit ihr besser zurecht kommen können, wenn wir dieses Modell im Hintergrund haben.

Das oben erwähnte Minimalmodell erhebt in diesem Sinn den Anspruch, „praktisch“ zu sein, d.h. mit wenig Aufwand an Annahmen und Elementen über einen großen Erklärungswert zu verfügen, also viele Fragen klären und Widersprüche beseitigen zu können. Es möchte auch Sinn geben. Es erhebt allerdings nicht den Anspruch, die Welt als Ganze erklären zu können oder das einzig mögliche Modell zu sein.

Denn es deckt es nicht alle Erfahrungsbereiche ab. Wie im Beitrag über die Illusionen angesprochen, können wir in eine Sphäre des Erlebens gelangen, die über die Alltagsvernunft unserer modernen oder postmodernen Lebenswelt hinausgeht. Es ist die Sphäre der Spiritualität oder der Mystik, die wir als Zustand der inneren Freiheit bezeichnen können. Dort gibt es keine Seele und keinen Körper und damit auch kein Leib-Seele-Problem mehr. Es gibt auch keine religiösen Fragen nach dem Woher (vor der Empfängnis) und Wohin (nach dem Tod). Es ist das Eintauchen in eine raum-zeitlose Erfahrung, die deshalb alles enthalten kann, was jemals war und irgendwann sein kann. Es ist eine Erfahrung der Verbindung mit allem und jedem.

Und es ist eine Erfahrungssphäre, aus der wir ohne jedes Problem wieder heraussteigen können, aus der wir „zurück kommen“ können, so wie ein Begleiter einer Atmenden nach einer tief entspannten Atemsitzung sagen kann: Komm langsam, ganz in deiner Zeit, wieder zurück (in die Zeit und in den Raum und in den Körper). Häufig erleben wir uns dann so, als würden wir die Wirklichkeit unserer äußeren Sinne verändert und reichhaltiger wahrnehmen.

Da wir in einem derartigen Prozess erleben können, wie die Aufmerksamkeit aus der mystischen Realität der Raum-Zeitlosigkeit wieder in die Welt der Dualitäten zurückkehrt und dies verbunden ist mit der Erfahrung, in den Körper „zurück“-zukommen, ist es möglich, dass wir deshalb den Körper „verantwortlich“ für die Dualität machen, was dann die Idee bilden oder verfestigen kann, dass Körper und Seele zwei getrennte „Dinge“ sind, die in der Zeit zueinander finden und dann wieder auseinander gehen.

Die Erfahrung der inneren Freiheit jedoch gehört weder dem Körper noch der Seele, sondern sie übersteigt beide, enthält sie zwar, aber nicht mehr als Polaritäten, sondern als Elemente eines großen Spieles oder Tanzes der Existenz.

Solche Erfahrungen sind nicht in einem rationalen Diskurs kommunizierbar. Denn dieser setzt Menschen voraus, die sich im raum-zeitlichen Erfahrungsmodus befinden. Auf sie trifft deshalb der berühmte Satz von Ludwig Wittgenstein zu: „Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.“ Er steht ja am Ende des Tractatus logico-philosophicus, gewissermaßen am Ende des rationalen Vernunftraumes. Wer darüber hinaus gelangt ist, ist oft besser beraten, über seine Erfahrungen schweigen, weil sie von denen, die den Schritt darüber hinaus nicht getan haben, nicht verstanden werden können und damit Missverständnisse unvermeidlich werden, die bis zu Kriminalisierung und Pathologisierung führen können (vgl. Spirituelles Erleben und Krankheit). Im rationalen Diskursraum können wir über alles Mögliche diskutieren, streiten, unterschiedliche Meinungen haben und trotzdem den wechselseitigen Respekt aufrecht erhalten, dass wir eine gemeinsame Vernunft und Sprache teilen.

Wir können aber keine sinnvollen Diskurse zwischen dem Innen- und dem Außenbereich dieser Diskursrealität führen, weil wir in ein strukturelles Ungleichgewicht kommen: Der, der außen steht, versteht zwar, was der im Inneren Stehende meint, weil er die Innenwelt auch kennt, während jener nicht verstehen kann, was der Außenstehende meint, weil ihm die Erfahrungsgrundlagen dazu fehlen. Der Dialog im rationalen Vernunftraum will jedoch immer wieder die strukturelle Gleichheit der Partner herstellen, weil jedes Argument grundsätzlich das gleiche Gewicht haben sollte, und sich im Spiel des Argumentierens eine gemeinsame Wahrheit bildet. Das strukturelle Gefälle, das entsteht, wenn ein Kundiger der Außenwelt mit einem eingefleischten Bewohner der Innenwelt redet, kann nur Missverständnisse und Frustrationen hervorbringen.

Dieses Dilemma hat Platon im Höhlengleichnis thematisiert. Die Personen, die in der Höhle an einem Wandschirm die Schatten von Gegenstände sehen und meinen, dass die Schatten die wirklichen Dinge sind, können nichts damit anfangen, was jemand zu sagen hat, der aufgestanden ist und aus der Höhle hinausgegangen ist und erfahren hat, wie die Dinge in Wirklichkeit sind. Sie werden auf ihn mit Verwirrung und Zorn reagieren und ihn fortjagen. Vgl. Eso-Hasser). Doch wer von der Frucht der Mystik gekostet hat und heil aus ihrer Welt wieder zurückgekehrt ist, kann nicht schweigen. Er wird Menschen suchen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben oder die bereit sind, die Grenzen des Vernunftraumes der Rationalität zu verlassen.

Wittgenstein setzt den oben zitierten Satz über das Verschwinden des Problems fort: „Ist nicht dies der Grund, warum Menschen, denen der Sinn des Lebens nach langen Zweifeln klar wurde, warum diese dann nicht sagen konnten, worin dieser Sinn bestand?“ Es fehlt uns die Sprache, die einen rational denkenden Menschen erreichen könnte, wenn wir aus der Sphäre der Ganzheit berichten möchten. Denn wir berichten über eine zutiefst subjektive Erfahrung aus einer Welt, die nicht vor Augen liegt, sondern sich nur dem inneren Sinn erschließt. Wir können auf nichts verweisen, was alle sehen würden, wenn sie die Augen öffnen. Vielmehr erlebt jede Person diese innere Tiefenerfahrung in anderer Weise und doch ganz ähnlicher Struktur.

So fällt die Kommunikation mit jemandem, der diese Welt kennt, nicht schwer, und deshalb sind die Aussagen der Mystiker und Weisen von einer großen Ähnlichkeit und Übereinstimmung geprägt. Sie unterscheiden sich nur dann, wenn sie über Themen sprechen, die mit dem innersten Kern der Wahrheit nichts zu tun haben, sondern in die Welt des Diskurses der Alltagsvernunft gehören, wie z.B. die Fragen nach dem Woher und Wohin. Sie unterscheiden sich auch, wenn sie ihre Methode empfehlen, den „einzig wahren“ Weg nach Shangri-La. Doch bekanntlich gibt es so viele Wege, wie es Menschen gibt.

Montag, 15. Juli 2013

Ambition - ein Traum, der uns von uns selbst entfernt


I hold ambition of so airy and light a quality that it is but a shadow's shadow. - Then are our beggars bodies, and our monarchs and outstretched heroes the beggars' shadows.  (Hamlet, 2, 2)

"Mir scheint der Ehrgeiz von so lustiger und loser Beschaffenheit, dass er nur der Schatten eines Schattens ist. - So sind also unsre Bettler Körper, und unsre Monarchen und gespreizten Helden der Bettler Schatten."

Ambition im Sinn dieses rätselhaften Zitates von Shakespeare ist ein Wille, der über sich hinauswachsen will. Er folgt nicht dem inneren Fluss der Bedürfnisse, die sich äußern und Erfüllung finden wollen, er folgt aber auch nicht den Ideen, die aus den Tiefen unseres Unterbewusstseins aufsteigen und wie ein innerer Ruf und eine Lebensaufgabe verwirklicht werden wollen. Die Ambition folgt einer Fantasie, die Erwartungen erfüllen will, die nicht aus uns selber kommen, sondern von außen in uns gelangt sind: Eltern, die wollen, dass etwas Besonderes wird aus ihren Sprösslingen, Lehrer, die ihre Schüler zu herausragenden Leistungen bringen wollen, Vorgesetzte, die von ihren Untergebenen das Äußerste verlangen. 

So strebt die Ambition zur Erfüllung dieser Erwartungen und kann eine innere Spannung erzeugen sowohl zur Landschaft der eigenen Bedürfnisse wie zu der der inneren Bestimmung. Der Ambitionierte will größer werden als er selbst ist. Er will seine Seele überdehnen und überstrecken, sodass sie nicht mehr in sein Wesen passt. Deshalb meint Shakespeare, dass sie nur wie ein Schatten eines Schattens ist und die Könige und Helden, deren Macht und Ruhm auf solchen Ambitionen beruht, keine wahre Kraft repräsentieren, sondern nur die Aufblähung der eigenen Bereitschaft, sich fremden Erwartungen unterzuordnen.

Fremd sind nicht nur die Erwartungen, die andere an uns gerichtet haben, wie z.B. die unbewussten Aufträge, die Eltern an ihre Kinder richten - du musst einmal einen besseren Beruf kriegen als ich, du musst die gleiche Rolle als Frau spielen, wie ich sie in meinem Leben gespielt habe usw. Fremd sind auch die Erwartungen, die wir an uns selber richten, nicht nur jene, die auf unsere Eltern zurückgehen, sondern auch jene, die ihre Quellen irgendwo in unserer Umgebung haben - Ambitionen, die wir aus Vorbildern und Idolen der Medienwelt übernehmen, aus Begegnungen mit anderen Menschen, die uns faszinieren, aus Biographien, die wir lesen, aus flüchtigen Eindrücken, die an unserem Bewusstsein vorbeihuschen und sich in irgendeinem Winkel unseres Gehirns zu einem Komplex zusammenfinden. 

Schließlich gibt es noch jene Erwartungen, die wir aus grundlegenden Glaubenssätzen ableiten, die wir in frühen Frustrationserfahrungen gebildet haben.

Vielleicht, so mutmaßen viele, war es Ambition, dem Vater zuliebe, die George Bush jr. zur Wiederaufnahme des Krieges gegen den irakischen Diktator motiviert hat. Es ist kein sinnvolles und rationales machtpolitisches Kalkül in dieser Aktion zu sehen, noch weniger die Tat eines echten Helden.

Vielleicht will der gegenwärtige Präsident der USA ein besonders guter Amerikaner sein, weil seine unmittelbaren Vorfahren aus anderen Kontinenten kommen. Deshalb plagen ihn wohl keine ethische Bedenken, wenn sein Geheimdienst die Kommunikationen auf der ganzen Welt bespitzeln und wenn seine Armee in jedem anderen Land der Welt missliebige Personen sowie zufällig sich in der Nähe aufhaltende Personen mittels Drohnenangriffen eliminiert. 

Ein weiteres Merkmal der Ambition kann darin liegen, dass an ihrer Richtung festgehalten wird, koste es, was es wolle, und dass die inneren oder äußeren Stimmen, die einen Kurswechsel oder den Abbruch der Aktion fordern, unterdrückt oder verdrängt werden. Wer sich im Sog seiner Ambition vorwärts drängt, fürchtet nichts mehr als den Zusammenbruch und muss deshalb jede Irritation ausschalten.

Wenn wir uns in der Schiene der Ambition befinden, gibt es immer jemanden, dem wir etwas beweisen wollen. Unsere Handlungen sollen dazu dienen, andere Personen zu beeindrucken, oder zumindest deren Missbilligung hintan zu halten. Wenn ich Arzt werde, kritisiert mich mein Vater nicht mehr ist, sondern ist vielleicht sogar stolz auf mich. Er hört mir dann zu und lässt meine Meinung gelten.

Die Frage, ob ich selber, aus mir heraus, wirklich Arzt werden will, stellt sich in diesem Fall gar nicht. Sie kann sich allerdings erst später äußern, wenn z.B. Widerstände im Studium auftauchen oder wenn nach einiger Zeit der Arbeit in dem Beruf die Freude verschwunden ist und ein Burnout diagnostiziert wird.


Befreiung von Erwartungen


Die Ambition hat zwar ihr Ziel erreicht - der Vater ist angetan. Die Frage ist, wie lange dieser Eindruck anhält. Außerdem, und das ist noch bedenklicher, hat die Erfüllung der Ambition nichts zur Verwirklichung des eigenen Wesens beigetragen, und die Aufgabe der Entfaltung des inneren Kerns, des Ausdruck unserer Individualität ist noch offen. Erst wenn wir uns von den Erwartungen der Umwelt befreit haben, dringen wir zu diesem Bereich in uns vor und erkennen, was wir wirklich mit diesem Leben anfangen wollen.

Wir befreien uns von unseren Ambitionen, indem wir uns fragen, wemzuliebe wir bestimmte Entscheidungen treffen. Wen wollen wir damit glücklich machen oder zumindest versöhnlich stimmen? Wer soll stolz auf uns sein, oder wen wollen wir beeindrucken? 

Wir können uns dann fragen, ob wir wirklich bereit sind, Teile unseres Lebens für die Anerkennung und Zuneigung von anderen Menschen zu verkaufen. Ist das wirklich ein fairer Handel? Schließlich geht es um unser eigenes Leben, für das wir selbst die unmittelbare Verantwortung tragen. Und wir selber haben alle Folgen zu tragen, wenn dieses Leben misslingt oder zumindest in wichtigen Teilen freudlos und unerfüllt bleibt.

Wir sind unseren Eltern und allen anderen Vorbildern und Leitfiguren nicht zu einer bestimmten Lebensführung verpflichtet. Sie haben ihr Leben, das sie in ihrer Verantwortung führen und wir haben für unser Leben die Berufung, etwas ganz Neues zu erschaffen. Dieser neue Entwurf wird sich immer auch an Elementen orientieren, die andere schon voher gelebt haben, aber er soll und muss unsere eigene ganz individuelle Handschrift tragen und unsere eigene ganz individuelle Form finden. 

Wenn wir uns selber vergegenwärtigen, was wir eigentlich von unseren Kindern erwarten, ist es nicht, dass sie unsere ungelebten Ambitionen ausführen, sondern dass sie das leben, was ihren inneren Anlagen und ihrem eigenen Wesen entspricht, dass sie das leben, was sie selbst glücklich macht. Als Eltern wollen wir für unsere Kinder nur dieses: ihr ganz eigenes Glück. Und wir wünschen uns sehnlich, dass sie frei seien von allen Ambitionen, die wir möglicherweise unbewusst auf sie übertragen haben könnten.

Also können wir hier und jetzt anfangen, uns vom Ballast der Erwartungen zu befreien und alle aus Anpassung übernommenen Ambitionen fallenzulassen. Dann werden unsere Bestrebungen von luftigen und flüchtigen Gebilden zu klaren Richtlinien unseres Lebens, getragen und geleitet von einem kraftvollen Willen.

Samstag, 13. Juli 2013

Die Entdeckung der Langsamkeit in der Meditation

Wir leben in einer hektischen Welt, wer hätte das noch nie gesagt oder gehört? Wer hat noch nie den Eindruck gehabt, dass sich das Tempo der Welt immer mehr beschleunigt? Wer hat bei diesen Erfahrungen noch nie die Sorge gehabt, dass diese Hetzerei in eine Richtung geht, die uns als Menschen nicht gut tun kann?

Es sind unsere äußeren Sinne, die uns dauernd mit neuen, sich ständig verändernden Reizen füttern. Wir kriegen soviel Input, dass wir 99% davon gleich wieder wegfiltern, damit uns die wichtigsten Reize bewusst werden können. Die Reize wechseln so enorm schnell, vor allem, wenn wir uns im Großstadtgetriebe bewegen, dass sich unsere Filter dauernd weiterentwickeln müssen, wie die Spamfilter im Computer. Wir kommen einfach nicht mehr mit, sodass immer wieder Schrott in unserem Bewusstsein landet, Informationen, die wir überhaupt nicht brauchen. Unsere Filtersysteme sind dauernd überfordert oder veraltet, wie ein Handy aus einer vorsintflutlichen Zeit vor fünf Jahren. Also läuft unser Nervensystem beständig auf Hochtouren, wenn wir "in der Welt" oder "am Marktplatz" unterwegs sind. 

Folglich suchen wir immer wieder die Natur auf. Dort sind die Übergänge sanfter und das Reizangebot ist einfacher und ruhiger. Es ist, als würden in der Natur auch unsere Augen und unsere Ohren sanfter, einfacher under ruhiger und als würde unsere Nase weicher. 

Andererseits entwickeln wir, einmal an die permanente Überfütterung durch Außeneinflüsse gewöhnt, einen Hunger nach Reizen, der uns schnell der Einfachheit der Natur wieder überdrüssig werden lässt. Wir brauchen frisches Futter für unser reizhungriges Nervensystem. Also tauchen wir ein in das Larifari der Unterhaltungskultur, das uns schnell wieder mit Chunkfood aufpäppelt, damit wir keine Entzugserscheinungen kriegen.

Den Preis der Schnelligkeit, in die uns die kurzatmige Reizüberflutung stürzt, zahlt unser Körper. Er kann zwar schnell reagieren, an der Peripherie, und das braucht er vor allem in Kampf- und Fluchtsituationen, also bei Stress. Zuviel Stress und zuwenig Erholung führen jedoch zu den unterschiedlichsten Krankheiten, daran gibt es keinen Zweifel mehr. Wenn wir uns hauptsächlich im Sympathikus, dem schnellen Teil unseres Nervensystems aufhalten, betreiben wir Raubbau an unseren Ressourcen und schwächen das Immunsystem. Deshalb ist es geradezu überlebenswichtig, darauf zu achten, dass das vagale Nervensystem - Smart Vagus und Parasympathikus - in reichem Maß aktiv und dominant sein kann, dass wir also unser Augenmerk darauf legen, bewusst zu entschleunigen und unser Tempo zu drosseln. 


Meditation zum langsamer Werden


Ein ausgezeichnetes Mittel für die bewusste Verlangsamung ist die Meditation. Es gibt "aktive" Meditationsformen, die mit Bewegungs- und Ausdrucksteilen beginnen, also mit einer Sympathikus-Aktivierung, und dann in einen parasympathischen Teil münden, und es gibt die stille Meditation, die nur der Innenschau gewidmet ist. 


Wenn wir mit solchen Meditationstechniken lernen, unsere Aufmerksamkeit nach innen zu richten, also uns auf unseren inneren Sinn zu konzentrieren - indem wir z.B. ruhig den Atem beobachten -, begegnen wir einer anderen, viel langsameren Geschwindigkeit. Die inneren Vorgänge und die Gefühle, die sie begleiten, laufen in einem ruhigeren Tempo ab als die Außenwahrnehmungen. 

Unser Verdauungssystem nimmt sich Stunden Zeit, um die Nahrungsmittel, die wir vielleicht in unserer Hektik schnell in uns hineingefuttert haben, aufzuschlüsseln und zu verstoffwechseln. Gefühle, die wir erleben, kommen und gehen gemächlich und langsam - wenn es unangenehme Gefühle sind, leider oft zu langsam für unseren Geschmack. Unsere Innenwelt hat eine andere Zeitstruktur als die über unsere Außensinne wahrgenommene Außenwelt.

Deshalb tut es oft so gut, die Augen zu schließen und einen stillen Ort aufzusuchen. Wenn die Außenreize zurücktreten, wird alles langsamer, und wenn wir nach einiger Zeit der Innenschau wieder nach außen gehen, kann es uns so gehen, als liefe dort alles in einem verrückten, unwirklichen Durcheinander ab. 


Zen and the City


Ich habe vor einigen Jahren mit ein paar Leuten einen Zenwalk in der City organisiert. Wir haben uns am Gehsteig  der Mariahilferstraße, einer der belebtesten Straßen von Wien, getroffen, und haben dann, die Augen nur halboffen nach unten blickend, begonnen, mit ganz kleinen Schritten, also fast unendlich langsam, zu gehen. Ringsum strömten die Menschen vorbei, in einer unwirklichen Hektik, während die Innenwelt immer ruhiger wurde. Manchmal blieben Leute stehen und fragten etwas, doch wir hatten uns ausgemacht, nicht zu reagieren. Als wir das Experiment nach einer halben Stunde beendeten und den Blick nach oben hoben, war das wie ein Schock für das Nervensystem - Millionen von Reizen, die sich gegenseitig an Attraktivität überboten, drängten ins Innere, sodass sich die Augen gleich wieder schlossen, mit Ekel und Abscheu. Erst langsam gelang es, sich wieder in diese verrückte Welt, die für uns die normale ist, einzuklinken.

Was wir dabei von außen wahrnehmen, ist der Stress, ist die Unmenschlichkeit der Abläufe, die offensichtlich alle antreibt, und die uns gar nicht auffällt, wenn wir mitmachen. Sobald wir bewusst heraustreten und unsere Innenwelt wichtiger nehmen als das Getriebe im Außen, erkennen wir, was die Wirklichkeit und was die Illusion ist. Die Wirklichkeit liegt in der Form der Innenwahrnehmung mit ihren gemächlichen Abläufen, die es uns ermöglicht, bewusst dabei zu bleiben und uns nicht zu verlieren. so schaffen wir es, mit uns verbunden zu bleiben und uns zugleich mit "etwas" zu beschäftigen. Die Illusion ist die kollektive Vorstellung, mittels Sich-Antreibens und Sich-Beschleunigens etwas Sinnvolles erreichen zu können. Die Illusion ist, dass aus Angst heraus etwas Gutes erwachsen kann.


Flexibilität lernen


Wie aber sollen wir, wenn wir einmal von der Innenwelt der Meditation erfahren haben, mit der äußeren Welt, die ja fordert, in ihrem Tempo mitzulaufen, zurechtkommen? Wie sollen wir im Gedränge und Geschiebe der Reizfluten dieser Welt bei uns und unserer inneren Mitte bleiben können?

Die Kunst liegt darin, dass wir uns die Flexibilität aneignen, von einer Erfahrungsebene zur anderen zu wechseln, ohne uns selbst, d.h. ohne den Innenbezug, zu verlieren. Wir nehmen die Wirklichkeitserfahrung der Meditation in jede andere Erfahrungsform und in jeden anderen Kontext mit, wie einen zentralen Bezugspunkt, um den sich alles dreht, während das, was sich dreht, an Dringlichkeit und Wichtigkeit verliert.

Eine einfache Methode, um aus dem Getriebe in das Jetzt der inneren Erfahrung zurückzufinden, liegt in der Fokussierung auf den Atem. Wo immer ich gerade unterwegs bin, ist es möglich, den eigenen Atem zu spüren. Wir können, sobald wir unseren Atem wahrnehmen, das Tempo zurückfahren, wenn es uns zu schnell erscheint. Wir verlangsamen und dehnen das Ausatmen und atmen dann wieder ruhig ein. So kommen wir zurück zu einer angenehmen Balance zwischen Innen und Außen und können die Geschwindigkeit so regulieren, wie sie für uns selbst am besten ist.

Dann fließt die konzentrierte Kraft und Wahrheit in jede Wirklichkeitserfahrung ein  - in die ruhigen und in die schnellen Abläufe. Dann gelingt es, auch in der Schnelligkeit, wie sie in der Außenwelt manchmal gefordert ist, innerlich langsam zu bleiben. Wir werden nicht zur Schnelligkeit, die nur eine Illusion verkörpert, sondern wir spielen mit ihr, während das eigentlich Bedeutsame in uns selbst spürbar und zugänglich bleibt.

Vgl. Zu schnell, zu viel

Freitag, 12. Juli 2013

Die Manifestation und das Ego

Die weise, befreite Person kennt in ihrer idealen Form keine Begierden mehr. Materielle Dinge sind ihr nicht wichtig. Sie nimmt alles so, wie es ist, und bewegt sich von Moment zu Moment. Sie setzt sich keine Ziele, weil sie der göttlichen oder universellen Weisheit vertraut, immer das Richtige und Gute ins Werk zu setzen.

Geht es beim Setzen, Verfolgen und Verwirklichen eigener Ziele und Wünsche also um Aktivitäten, die unserem Ego und seiner Ausweitung dienen? Wollen wir dabei unsere selbstsüchtigen und eigennützigen Interessen durchsetzen und unser neurotisches Sicherheitsbedürfnis durch die Anhäufung von Gütern und das Sammeln von persönlichen Erfolgen bewältigen? Sind die Techniken und Methoden, die wir dabei nutzen, manipulativ - uns selbst und anderen gegenüber?

Kreative und reaktive Lebensorientierung


Ein wichtiger Teil unseres Lebens besteht daraus, dass wir uns Ziele setzen. Das Erreichen dieser Ziele gibt uns ein besonderes Gefühl, wir erleben uns selbst als lebendig und erfüllt. Wir sind stolz auf uns und auf das Geschaffene und schöpfen aus unseren Erfolgen die Energie für neue Ideen und 
Projekte. 

Wir können dieses Lebensmuster nach Robert Fritz als kreative Lebensorientierung bezeichnen. Sie geht von dem aus, was in unserem Inneren als Wunsch oder Wollen entspringt, als Idee, die zur Verwirklichung drängt. Die Schlüsselfrage dazu ist: Ist das (mein Wunsch, meine Idee, meine Vision) etwas, das ich will? Dabei ist es wichtig, darauf zu achten, dass in der Frage sowohl das "Ich" als auch das "will" betont werden kann. Kreatives Schaffen kommt also nicht aus einem Sollen oder Müssen, sondern entspringt der Freiheit. Und es ist etwas, das wir selbst wollen, und nicht etwas, wozu uns andere drängen oder zwingen.

Im Gegensatz zur kreativen Orientierung kommt die Motivation bei der reaktiven Orientierung nicht von innen, sondern von außen (extrinsische Motivation). Wir werden aktiv, weil die Probleme einen (Leidens-)druck erzeugen, weil wir handeln müssen, damit es nicht noch schlimmer wird. Sobald das Problem gelöst und der Druck erleichtert ist, versiegt der Impuls wieder, und wir werden passiv, solange, bis sich das nächste Problem meldet.

Zur kreativen Lebensorientierung brauchen wir die Fähigkeit, Verantwortung für unsere Gefühle, Motivationen und Handlungen zu übernehmen. Wir akzeptieren in uns selber keine Ausreden, die uns von der Verwirklichung unserer Ziele abbringen wollen. Wenn wir Pausen einlegen (sei es, um uns von der Anstrengung der Arbeit an einem Ziel zu erholen, sei es, um ein Projekt gegenüber einem anderen zurückzustellen), so sind sie in die kreative Orientierung einbezogen. Das Nichtstun in einer Erholungsphase verstehen wir als notwendig zur Herstellung der inneren Balance und zur Regeneration für die Mühen der kreativen Arbeit.

Nach der Transaktionsanalyse ist das Erwachsenen-Ich die Instanz, die selbstverantwortlich Ziele verwirklicht. Es holt sich dafür zwei Unterstützungsquellen aus der Seelenlandschaft: die einen stammen aus den heil gebliebenen Anteilen des Kindheits-Ichs, die anderen aus der transpersonalen Sphäre. Das gesunde Kindheits-Ich steuert z.B. die Neugier, das Experimentieren, das Abenteuerliche und das Staunen bei, während aus der transpersonalen Ebene Reflexionen wie die Besinnung auf den Zweck des eigenen Lebens, die Idee des Dienens in allen Handlungen, eine Berufung oder ein innerer Ruf nützlich sein können.

Mit Hilfe dieser Kräfte bringt das Erwachsenen-Ich seine Qualitäten ein, die in dem Mobilisieren der notwendigen Ressourcen, in der Planung und der Abschätzung der Risken bestehen. Es prüft auch die Bedingungen der jeweiligen Umgebung, in die das Projekt hineingeboren werden soll und berücksichtigt möglichst viele Faktoren, um es zum Nutzen aller zu gestalten.

Hindernisse auf dem Weg zur Manifestation 


Was passiert, wenn wir einen Wunsch haben, der sich wie ein tiefer innerer Ruf anfühlt, wir auch viel Motivation aus unseren leidenschaftlichen und neugierigen Anteil ziehen können, und trotzdem nicht weiterkommen? Es kann sein, dass sich unser Ego eingeschlichen hat, das sich erst selbst zufriedenstellen will, ehe es sich dem größeren Ganzen unterordnen kann.

Viele unserer Wünsche kommen aus unbefriedigten kindlichen Anteilen, aus den verletzten Erfahrungen des Kindheits-Ichs. Ihre Erfüllung soll diese Defizite auffüllen oder ausgleichen. Doch irren wir, wenn wir meinen, durch Erfolge als Erwachsene Wunden aus unserer Kindheit heilen zu können. Dazu ist es notwendig, all die Gefühle von Wut, Schmerz und Hilflosigkeit, die mit solchen frühen Erfahrungen verbunden sind, zu durchleben, also therapeutisch aufzuarbeiten. 

Geschieht das nicht, so können sich die unerlösten Ego-Anteile als häufig subtile Blockaden äußern. Wir verrennen uns in Projekte und erkennen nicht, wann der richtige Zeitpunkt ist, auszusteigen oder aufzuhören. Oder wir machen immer das, was einmal Erfolg hatte, bis wir scheitern. Oder wir setzen uns Ziele, die uns ein paar Nummern zu groß sind, die unsere Kräfte und Möglichkeiten übersteigen, und programmieren damit unser Versagen.

Wenn wir ein Ziel nicht erreichen, kann es also sein, dass sich ein reaktiver (kindlicher) Anteil eingemischt hat. Dabei erweist sich meistens, dass ein solcher Ego-Anteil die transpersonalen Ressourcen blockiert, was der Fall ist, wenn wir z.B. etwas aus Gier erreichen wollen. 

Gier als Ego-Aufblähung


Gier kann als Motor zum Erreichen eines Zieles dienen, doch bringt dieses Ziel, kaum ist es erreicht, keine Erfüllung, sondern fordert nur mehr von Demselben. Es kommt kein weiterer kreativer Zyklus in Gang. Statt dessen läuft sich der Gier-Prozess irgendwann zu Tode und endet häufig in der Depression Dagobert Ducks inmitten seines Berges aus Goldmünzen.

Die Struktur der Gier bildet sich in der Zahlenreihe ab. Deshalb sollten wir darauf achten, Ziele nicht mit Zahlen in Verbindung zu bringen. Die Zahlenreihe ist nach oben hin ins Unendliche hinein offen. Wenn wir uns als Ziel vornehmen, über eine Million zu verfügen, fordert das Ego sofort mehr davon, am besten die nächste Million usw. Wir verfangen uns in der Falle des materialistischen Bewusstseins, in der Welt der an Zahlenreihen aneinander aufgefädelten Dinge. In dieser Welt gibt es keine innere Erfüllung, sondern nur die kurzfristig wirksame Befriedigung von Mangelerfahrungen. Zahlen sind so abstrakt, dass sie kein Leben und keine Gefühle beherbergen können. Zahlen können auf alles und jedes angewendet werden und verhalten sich völlig gleichgültig dem gegenüber, was gezählt wird. 

Ziele, die aus unserem Herzen oder aus unserer Seele kommen, brauchen keine Zahlen, sondern fließende Gefühle, Farben, Töne und Gerüche, sie brauchen Qualitäten statt Quantitäten. Solche Ziele beginnen in unserer Fantasie ein reichhaltiges und buntes Leben zu entfalten, lange bevor sie das Licht der Welt erblicken. Nur solche leb- und leibhaftige Ideen drängen von sich aus zur Verwirklichung, sodass wir uns ihnen nur mehr als Assistenten zur Verfügung stellen brauchen.

Manifestation und äußerer Erfolg


Es liegt nicht in deiner Hand, ob aus deiner Schöpfung ein Erfolg in der Welt der Dinge wird. Es ist wichtig, die Fixierung auf den äußeren Erfolg wie auf den äußeren Misserfolg loszulassen und weiter im kreativen Schaffensprozess zu bleiben. Die kreative Orientierung entfaltet in sich genügend Freude und Genuss, Erfüllung und Bestätigung, dass sie nicht auf äußere Bestätigung angewiesen ist. Für das kreative Schaffen ist es nebensächlich, wieviele Menschen das eigene Produkt oder den eigenen Dienst positiv aufgreifen. 

Ab wann definieren wir überhaupt eine gelungene Verwirklichung als Erfolg? Soundsoviele Exemplare eines Buches müssen verkauft sein, soundsoviel muss ich damit verdienen, soundsowenig darf eine neue Erwerbung kosten... Wir sind hier wieder in der Welt der Zahlen gelandet und ihrer Relativität ausgeliefert. Äußerer Erfolg kann uns innerlich nicht erfüllen, sondern entfesselt allenfalls die Gier nach mehr und mehr.

Es kann zwar frustrierend werden, wenn der Erfolg immer nur im Inneren bleibt, wie bei einem Maler, der hochbeglückt über seine Bilder ist, aber niemanden findet, der sie ihm abkauft. Aber da ist das Erwachsenen-Ich gefragt, um dem eigenen Schaffen auch ein gebührendes äußeres Auftreten zu verleihen, indem es z.B. jemanden sucht, der die Vermarktung der Bilder übernimmt.

Manchmal spielt ein übertriebener Stolz die Rolle des Erfolgverhinderers. So mancher kreativ Schaffender fühlt sich im eigenen Schaffensdrang anderen Menschen überlegen und verachtet sie wegen ihres Unverständnisses. Beleidigt auf die Ignoranz der Welt bleibt er lieber auf seinen Bildern sitzen als sie zu Verkauf anzubieten.

Es gibt aber auch eine gute Rolle des Stolzes. Das Ego will, darf und soll sich über die Fertigstellung eines Produkts, über das Erreichen eines Ziels und die Erfüllung eines Wunsches freuen. Denn ein Ego, das sich freut und sich selbst anerkennen kann, ist lebendig und unterstützt den kreativen Prozess. Es hilft mit, dass nach dem Erfolg die schöpferische Energie wieder freigesetzt wird, um neue Ziele anzustreben.

Egofreie Manifestationen


Wir erkennen, dass ein Ziel von der transpersonalen Sphäre unterstützt wurde, daran, dass wir durch seine Verwirklichung beglückt werden, eine anhaltende Erfüllung spüren, die sich auch dann wiederherstellt, wenn wir uns an das Ereignis zurück erinnern. Es ist, als würde das Universum zustimmen, dass hier eine qualitative Bereicherung stattgefunden hat. Solche Ziele haben auch die systemische Prüfung absolviert, d.h. sie suchen den Einklang mit den Erfordernissen und Bedürfnissen der jeweiligen Umwelt. 

Das Ego findet sich in dieser Form des kreativen Prozesses nur mehr an den Rändern. Er lässt sich nicht durch Selbstzweifel, äußere Kritik oder Selbstüberschätzung aus der Bahn werfen, sondern kann die vielfältigen und subtilen Ängste des Egos rechtzeitig erkennen und beruhigen.

Der kreative Schaffensprozess geht damit Hand in Hand mit der inneren spirituellen Entwicklung und ist ein zentraler Teil einer integralen Lebenspraxis, die die eigenen Aktivitäten auf den größtmöglichen Nutzen für alle und für das Ganze ausrichtet.

Das Leben lädt jeden Menschen immer wieder ein, das Eigene, das unverwechselbar Individuelle beizusteuern. Damit wird das Fließen des Ganzen bereichert und verschönert. Alles, was aus dem tiefen Inneren eines Menschen kommt, erleichtert und erfrischt den gesamten kreativen Lebensfluss. Insofern besteht die weise Lebensführung in nichts Anderem als im beständigen Mitfließen, im gebenden und nehmenden Austauschprozess zwischen dem Ganzen und dem Individuellen.

Literatur: 
Robert Fritz: The Path of Least Resistance. Ballentines 1989
Birgit Ehrmann-Ahlfeld: Mental fit - ein Leben lang. Liber libri 2001
Zur Transaktionsanalyse: Thomas Harris: Ich bin o.k., du bist o.k. Rowohlt 1975

Vgl. Ego-Bestätigung und Berufung

Mittwoch, 10. Juli 2013

Esoterik und Wissenschaft 2: Feinstoffliche Energien - Sinn oder Unsinn


Die Begriffe des Feinstofflichen oder der feinstofflichen Energien haben eine ehrwürdige und verzweigte Biographie, bis sie in der modernen Esoterik einen wichtigen Platz einnehmen. Hier geht es darum, den Begriff auf seine Tauglichkeit in der eso-exoterischen Kommunikation zu überprüfen.

Das Dingliche = das Grobe, das Geistige = das Feine - das spricht uns intuitiv an. Ein Gedanke ist doch viel subtiler als ein Pflasterstein, und ein Gefühl der Zuneigung filigraner als ein Lastwagen. Doch lässt sich das Materielle dem Geistigen überhaupt so einfach gegenüberstellen? Andererseits: Wie hängt das Eine mit dem Anderen zusammen.

Das ist eine uralte Frage. Eine Lösung dafür war die Annahme einer Mittlermaterie zwischen den Welten der Materie und des Geistes. Eine solche wurde schon von griechischen Philosophen, z.B. von Platon angenommen. Dennoch stellt sie vor ein logisches und ein erkenntnistheoretisches Problem: Wie soll eine Materie zwischen Materie und Nichtmaterie vermitteln? Das wäre so, als ob der Exponent einer Streitpartei versuchen würde, im Konflikt mit der anderen Partei zu vermitteln. Oder wäre die Mittlermaterie halb Materie und halb Geist? Wo hört sie auf, das eine zu sein, wo beginnt sie, das andere zu sein? Was passiert an der Schnittstelle? Genau dort stellt sich das Problem erneut, die Lösung ist also nur eine Scheinlösung. 

Wir verstricken uns unweigerlich in ein Paradoxon, wenn wir nach dem Ort oder Nicht-Ort suchen, an dem die Materie in Nicht-Materie übergeht. Da ist kein "Platz" für ein Übergangs- oder Zwischenphänomen, für ein Zwitterwesen. Denn Materie ist als Nicht-Geist und Nicht-Geist als Materie verstanden. Es gibt kein Kontinuum vom einen zum anderen, so, als könnte die Materie immer feiner werden, bis sie schließlich ganz vergeistigt und völlig entmaterialisiert ist. Vielmehr existieren beide Seiten in getrennten Welten und sind dennoch inniglich miteinander verbunden.

Folglich können wir doch gleich alles, was es gibt, als Mittlermaterie definieren: "halb" materiell, "halb" nicht-materiell. Die Anführungszeichen weisen darauf hin, dass es nicht um Hälften im mathematischen Sinn gehen kann, die eine nummerische oder räumliche Zusammengehörigkeit ausdrücken. Tatsächlich befindet sich ja das Nichtmaterielle nicht im Raum, zumindest nicht im gleichen Raum wie die Materie. Auch kann das Nichtmaterielle nicht, oder nicht in der gleichen Weise wie das Materielle gemessen oder gezählt werden. Sonst hätten wir es ja wieder nur mit Materie zu tun.

Das ist die "Lösung" des Leib-Seele-Problems, wie sie auf dieser Blogseite immer wieder diskutiert wird: Alles, was es gibt, hat einen materiellen wie einen immateriellen Aspekt, es gibt das eine ohne das andere nicht. Nur unserer Wahrnehmung und Erkenntnis, auch unserer Denkfähigkeit erscheinen die zwei Sphären als getrennt, weil uns eine Erkenntnisfähigkeit, die beides als eins sieht, logisch und rational nicht zugänglich ist. Spirituell erfahrene Menschen haben immer wieder von dieser Sichtweise berichtet, doch ist sie noch lange nicht ins Alltagsbewusstsein eingedrungen.

Wenn diese Gedankengänge einen Sinn machen, brauchen wir zur Erklärung der Welt und zu ihrer Erkenntnis keine feinstoffliche Mittlermaterie. Wo bleibt jetzt noch ein Bedarf nach dem Feinstofflichen? Handelt es sich nur um einen Hilfsbegriff für ein Scheinproblem?


Begriffsnöte


Neue Worte werden aus Begriffsnot formuliert. Die Not besteht darin, dass die Erfahrung auf Phänomene stößt, für die die in der Sprache zur Verfügung stehenden Begriffe nicht zureichen. Um eine adäquate Wiedergabe einer Erfahrung in der Sprache zu gewährleisten, werden Begriffe gebildet, die diese Übersetzungsaufgabe leisten sollen. Diese wiederum steht im Dienst der kommunikativen Verständigung, d.h. im Dienst der Absicherung und des Ausbaues einer Kommunikationsgemeinschaft.

Deshalb können wir davon ausgehen, dass jede Begriffsbildung einem Sinnanspruch folgt und nicht "beliebig" sein will, so wie es nicht beliebig ist, das Meer Stern zu nennen, außer es einigen sich alle auf diese Namensgebung. Aber dann ist sie auch wieder nicht beliebig. Das Funktionieren von Sprache erfordert eine Beständigkeit. Verwende ich einen Begriff einmal in dieser und dann wieder in einer anderen Bedeutung, muss ich die jeweilige Kontextveränderung mitteilen, damit ich noch verstanden werde.

Das Feinstoffliche kennen wir z.B. in der Textilkunde. Dort können wir gröbere und feinere Stoffe zu unterscheiden: Seide ist feiner als Schafswolle.  Schwierig wird es dort, wo wir den Begriff des Feinstofflichen auf ein allgemeineres Niveau heben. Als Schlüssel zur Welterklärung wird es dann gar nicht als etwas Stoffliches (Materie) verstanden, sondern soll etwas nicht Greifbares ausdrücken, dessen Existenz postuliert wird, also aus wichtigen Gründen eingefordert wird, aber nicht in der Weise sinnlich präsent ist wie ein Wollpullover. 

Der Begriff soll nicht nur etwas bezeichnen, was vorhanden ist, sondern vor allem verständlich machen, was in der Wirklichkeit Veränderungen erzeugt, die wir nicht anders als mit diesem Begriff erklären können. Er soll Wirkungszusammenhänge verdeutlichen, für die der Wahrnehmungsapparat unserer fünf Sinne keine Sensorien hat - etwas ist gewissermaßen zu "fein" für diese Kanäle der Wahrnehmung. Wie es bei den anderen Sinnen "Stoffe" gibt, welche die Wahrnehmungsreaktion auslösen, z.B. Geruchspartikel oder Luftverdichtungen, muss es bei den feinsinnlichen Wahrnehmungen andere Stoffe geben, die die Wahrnehmungen bewirken. 

Wenn eine Heilerin einer Patientin die Hand auflegt, und diese fühlt sich erleichtert und erfährt eine Heilung, die auch objektiv dokumentiert werden kann, suchen wir nach dem Agens dieser Heilung, nach dem Wirkfaktor, und weil dieser nicht in einer bekannten Form der Gegenständlichkeit gefunden werden kann, nehmen wir an, er befindet sich in einem Bereich jenseits der materiellen Wirklichkeit, eben im Reich des Feinstofflichen.

Demnach muss es in diesem Reich, wenn schon nicht Stoffe, so zumindest "Energien" geben, die Wirkungen in der materiellen Welt erzeugen, z.B. die Auflösung einer Entzündung im Körper. Und es müssen diese Energien von einem anderen Sensorium als dem der fünf Sinne wahrgenommen werden können, das eben für die "feinstofflichen" Energien geeicht ist. 


Gegenständliches Wahrnehmen und Spüren


Hier stoßen wir auf eine Falle unseres gegenständlichen Denkens: Wenn etwas wirkt, muss es eine Substanz haben. Eine Billardkugel rollt nicht von selbst, wenn sie auf einer ebenen Fläche liegt. Sie braucht etwas, das sie anstößt, um in Bewegung zu kommen. Und das muss ein anderer Gegenstand sein, sonst wird es uns unheimlich: Jemand, der die Kugel mit seiner Willenskraft oder Konzentration in Bewegung bringt, flößt uns Irritation und Misstrauen ein.


Wenn etwas verändert wird, ohne dass wir eine äußere Verursachung erkennen können, nehmen wir an, dass es etwas unterhalb oder außerhalb unserer Wahrnehmungsschwelle gibt, das für die Veränderung verantwortlich ist. Wenn unsere Haut rot wird nach einem Sonnenbad, nehmen wir an, dass die Sonne die Verursacherin ist, obwohl wir die Strahlen, die für die Rötung der Haut verantwortlich sind, nicht wahrnehmen können.

Wir suchen also die Ursachen für die Wirkungen, die wir beobachten können, im Rahmen unseres Wahrnehmungsrepertoires und konstruieren dort, wo es nicht ausreicht, Analogien. 

Wir beziehen uns dabei auf den inneren Sinn als Erfahrungsquelle. Das Spüren ist der komplexeste der Sinne, der uns zur Verfügung steht. Dieser Sinn ist am wenigsten erforscht, weil er nach innen gerichtet ist und unweigerlich mit einer subjektiven Komponente verbunden ist. Außerdem verfügt er über kein eigenes Wahrnehmungsorgan, das sich objektiv untersuchen ließe, sondern beruht auf komplexen Nervenverschaltungen, die sich durch den ganzen Körper ziehen. Deshalb zeigen sich in diesem Zusammenhang auch die ungewöhnlichsten Erkenntnisse und deshalb gibt es hier auch die größten Abweichungen zwischen den Menschen. Die Innenerfahrung ist bei jedem Menschen anders. Objektive Daten über die Inhalte dieser Erfahrung zu gewinnen, stößt wegen ihrer grundlegenden Subjektivität auf die Schwierigkeit, nur schwache allgemeine Daten und Wahrscheinlichkeiten hervorbringen zu können. 

Beispiel "Drittes Auge"


Nehmen wir als Beispiel das sogenannte Dritte Auge, der Bereich oder Punkt zwischen den Augenbrauen. Dort befindet sich nach der Chakrenlehre das sechste Chakra, dem bestimmte Funktionen wie Intuition und paranormale Fähigkeiten zugeschrieben werden. Die Wissenschaft wird mit diesem "Energiezentrum" wenig anfangen können, weil (anders als z.B. beim dritten Chakra, dem Sonnengeflecht) im Bereich zwischen den Augenbrauen anatomisch 
keine Besonderheiten vorliegen, die eine privilegierte Position rechtfertigen würde.

Viele Menschen haben besondere Empfindungen, wenn sie in diesen Bereich hinspüren. Sie können wahrnehmen, ob das Chakra "offen" oder "verschlossen" ist, ob es stärker oder schwächer belebt ist, sich durchlässig oder dicht anfühlt usw. Sie können auch spüren, was sich verändert, wenn sie sich auf das Chakra konzentrieren. Sie erwarten, dass sich die Fähigkeiten, die mit diesem Bereich in Verbindung gebracht werden, verbessern, wenn sie es "öffnen", d.h. wenn sie es gut spüren können. 

Es wird andere Menschen geben, die wenig oder gar nichts wahrnehmen können, wenn sie sich auf dieses Chakra konzentrieren. Darüber zu streiten, ob es das Chakra überhaupt gibt und ob es Sinn macht, mit ihm zu "arbeiten", macht wenig Sinn, solange Menschen einen hilfreichen Wert darin finden, das zu tun, auch wenn andere nichts davon halten. Wenn die Menschen für die Beschreibung der Erfahrungen, die sie mit dieser Arbeit haben, auf den Begriff des Feinstofflichen zurückgreifen, weil ihnen ein passenderer nicht zur Verfügung steht, sollte dagegen nichts einzuwenden sein.


Der großzügige Skeptiker könnte dann z.B. sagen, dass jemand über eine Erfahrung spricht, die er selber nicht hat, und versuchen, in den Kontext der Erfahrung einzusteigen, und dort erkennen, dass der Begriff des Feinstofflichen in diesem Erfahrungskontext durchaus einen deskriptiven Wert hat. Der engstirnige Skeptiker wird die eigenen Vorurteile reproduzieren, sobald er das Wort hört.

Die eso-exoterische Kommunikation kann nur an den Berührungspunkten der Welten in Gang kommen und zu sinnvollen Erkenntnissen führen: Dort, wo großzügige oder reflektierte Skeptiker auf rational denkende Esoteriker treffen. Dogmatische Skeptiker und dogmatische Esoteriker werden schwerlich auf einen grünen Zweig kommen.

Vgl. "Energie" zwischen Esoterik und Wissenschaft
Vgl. Interne Kommunikation
Vgl. Eso-Skeptiker
Vgl. Was ist Esoterik?


Dienstag, 9. Juli 2013

Leistung - was ist denn das?

Der Begriff der Leistung spielt eine wichtige Rolle in vielen Diskussionen und politischen Programmen. Bestimmte Parteien ernennen sich zu Interessensvertreter für die Leistungsträger oder zumindest für die "Anständigen und Tüchtigen". Dabei wird unterstellt, dass wir so genau wüssten, was überhaupt mit Leistung gemeint ist.

Aus der Physik wissen wir, dass Leistung die in einer bestimmten Zeit umgesetzte Energie ist. Je mehr und je schneller umgesetzt wird, desto höher ist die Leistung.

Grundsätzlich bringen wir Menschen, "die etwas leisten", Wertschätzung und Achtung entgegen, während wir "Leistungsverweigerern" mit Misstrauen und Abwertung begegnen. Wer etwas leistet, erweist sich als nützliches Mitglied der Gemeinschaft, wer nichts beträgt, soll auch nicht dazugehören. Deshalb wird der schon von Paulus formulierte Spruch:"Wer nicht arbeiten will, soll auch nichts essen", auch unter Stalin und Hitler propagiert. In "Mein Kampf" steht zu lesen: "Nur dem Starken, dem Fleißigen und dem Mutigen gebührt ein Sitz hienieden."

Die Leistungsträger hier, die Trittbrettfahrer dort - allzu vereinfacht ist die Sichtweise, und deshalb gut für die politische Propaganda geeignet. Denn jedes Tun liefert in einem allgemeinen Sinn eine Leistung, das Ergebnis der betreffenden Aktivität. Nur gelten bestimmte Leistung viel und andere nichts.

Stellen wir uns einen notorischen Faulenzer vor, der den lieben langen Tag im Bett verbringt. Er erbringt keinen sinnvollen und verwertbaren Output. Doch wissen wir nicht, was eines Tages aus diesem nichtsnutzigen Dasein entsteht, vielleicht eine bahnbrechende Idee oder ein unbändiger Fleiß. Wir wissen auch nicht, was dazu geführt hat, dass er seine Zeit lieber im Bett als im Arbeitszimmer verbringt. Vielleicht hat er ein Zuviel an Enttäuschungen, Zurückweisungen oder Misserfolgen erleben müssen, vielleicht haben ihm schwer belastende Erfahrungen die Motivationskraft beschnitten. Wenn wir annehmen, dass jede Form, wie Menschen ihr Dasein leben, einen Sinn macht und zum Ganzen einer Gesellschaft beiträgt, dann verlieren wir die Scheinsicherheit, mit der wir Menschen nach ihren Leistungen beurteilen.

Wir sind ja gewohnt, allzu schnell Maßstäbe anzulegen, die wir nicht auf ihre Herkunft überprüfen und die dem, was sie messen sollen, nicht angemessen sind. Wenn wir davon ausgehen, dass Menschen in jeder Situation das Beste tun, was ihnen in diesem Moment möglich ist, verliert der Leistungsbegriff seine unterscheidende Schärfe. Wir können niemanden mehr aus der "Leistungsgesellschaft" ausschließen, sondern müssen anerkennen, dass jedes und alles, was geschieht, zu den Leistungen und damit zum Gesamtzustand einer Gemeinschaft beiträgt.

Jeder Mensch möchte eine Leistung erbringen, für sich selbst und für die anderen Menschen, außer er ist schwer krank oder innerlich völlig blockiert. Behinderte Menschen möchten nicht bemitleidet werden, sondern einen Beitrag leisten und dafür anerkannt werden. Wer unfähig ist, etwas beizutragen, leidet daran, dass es so ist, und hofft auf Besserung.



Die Angst der Fleißigen vor den Faulen


Wer sich als arbeitsam und fleißig einschätzt, kommt leicht in die (auch von manchen Politikern geschürte) Verurteilung der "Faulen". Benachteilungen und Ungerechtigkeiten, denen sich ein "Fleißiger" ausgesetzt fühlt, werden gerne in eine Ablehnung und Verurteilung jener, die als faul eingeschätzt werden, kanalisiert. Dahinter steckt die Angst der Fleißigen, dass sie von den Faulen um die Früchte ihrer Anstrengungen gebracht werden. Mancher, der viel arbeitet und viel verdient, bekommt den Eindruck, dass das, was er an Steuern zahlen muss, vom Ertrag seiner Leistungen weggenommen wird und in den gierigen Bäuchen der Bequemen und Faulen landet.

Der Fleißige kann sich von der Angst befreien, wenn er sich vor Augen führt, dass der Faule jemand ist, der durch widrige Umstände daran gehindert ist - diese Hindernisse können innerlich oder äußerlich sein -, selber Leistungen zu erbringen. Er, der Fleißige dagegen, befindet sich in einer privilegierten Position, weil das, was er tut, gesellschaftliche Anerkennung und materiellen Erfolg bringt. So scheint es nur recht und billig, dass von diesem Ertrag, den das gesellschaftliche Ganze dem Einzelnen als Gewinn oder Einkommen gewährt, ein Teil wieder an dieses Ganze zurückfließt. 


Die Angst der Faulen vor den Fleißigen


Die Leistungsminimierer hingegen spüren die Abwertung und Verachtung durch die Maximierer. Auf solche Einstellungen reagieren wir entweder mit Trotz ("Die können mich mal!") oder mit Resignation ("Ich schaffe das einfach nicht"). Beide Reaktionsformen sind Selbstblockierungen, die das Problem und die Spannung nur verstärken. Die Auswege aus der Falle der erlernten Hilflosigkeit ist das Erkennen der eigenen Leistungen, Talente und Fähigkeiten. Der erweiterte Blick darauf, dass die Gesellschaft jede Form des Tuns und Beitragens braucht und hoffentlich irgendwo und irgendwann auch schätzen kann, wird helfen, die Blockierungen aufzulösen und den Maximierern den Wind aus den Segeln zu nehmen.


"Wichtige" und "unwichtige" Leistungen


Erst recht unklar wird die Sache, wenn wir uns fragen, was wichtige und was unwichtige Leistungen sind. Der Generaldirektor einer Firma leistet scheinbar wichtigere Arbeit als seine Putzfrau. Vom Erfolg seiner Arbeit können viele Arbeitsplätze abhängig sein, während die Reinigung seines Arbeitsraums kaum von jemandem bemerkt wird und das Geleistete am nächsten Tag schon wieder verschwunden ist. Dennoch tut und leistet der Generaldirektor das Seine und die Putzfrau das Ihre, mal besser und mal schlechter, immer mit dem Einsatz von Energien. Beides ist notwendig, und der Unterschied in der Bedeutung ist nur graduell und abhängig von der Sichtweise und Bewertung dessen, was als wichtig erachtet wird. Es gibt Leistungen, die mehr Folgewirkungen haben als andere, aber das betrifft nicht die Leistung selber. Als Mensch verdient die Putzfrau die gleiche Achtung für ihre Leistung als der Generaldirektor für seine, ob sie diese nun in der Realität auch bekommt oder nicht.


Leistung und Anstrengung


Wir neigen dazu, den Begriff der Leistung mit dem der Anstrengung zu verbinden oder zu verwechseln. Je mehr Schweiß fließt, desto mehr wurde geleistet. Da haben wir das Bild von Stachanow vor uns, dem Rekord-Kohleschaufler und Vorzeigeleistungsträger der stalinistischen Sowjetunion. Die Arbeitsleistung sollte messbar sein in der Menge von Kohlen, die von A nach B geschaufelt werden. Leistung muss mühsam sein. Nur wer sich (oder einen inneren Schweinehund) überwindet, gehört zu den Leistungsträgern.

Ist es überhaupt noch eine Leistung, wenn einem die Arbeit leicht und schnell von der Hand geht, oder gar, wenn sie Spaß macht? Hat sich Mozart angestrengt, wenn er in einer Nacht die Partitur einer Oper fertiggestellt hat? Hat sich Picasso abgemüht, wenn er täglich bis ins hohe Alter ein paar Bilder gemalt hat?

Sicher braucht jeder Künstler Kraft und Energie, um seine Werke zu erschaffen, und neben den kreativen Arbeitsphasen gibt es Zeiten des mühseligen Arbeitens, wie das Lesen von Korrekturfahnen bei einem Schriftsteller oder das Ausbessern von winzigen Ungenauigkeiten bei einer digitalen Komposition.

Offenbar legen wir bei der künstlerischen Leistung einen anderen Maßstab an: Wir sehen dabei das Entscheidende nicht im Ausmaß an investierter Arbeitskraft , sondern in der Qualität des Ergebnisses. Notwendig ist jedoch beides, die Inspiration und die Transpiration.


Leistung und Bewusstseinsstufen


Wir können unseren Blick auf den Leistungsbegriff differenzieren, wenn wir ihn auf das Modell der Bewusstseinsevolution beziehen. Jede Bewusstseinsstufe hat ihren eigenen Leistungsbegriff, das also, was eine bestimmte Bewusstseinsstufe als Leistung versteht und anerkennt.

Die tribale Stufe:
Jedes Mitglied eines Stammes trägt nach den jeweiligen individuellen Möglichkeiten zur Sicherheit des Überlebens der Gemeinschaft bei. Nichtsnutze gibt es nicht, weil die einzelnen Stammesangehörigen gar keine andere Möglichkeit sehen, als in ihrem Rahmen mitzutun. Es ist weniger die Kontrolle, die durch die Überschaubarkeit innerhalb der Gruppe ermöglicht ist, die jedem zu Leistungen motiviert. Vielmehr folgt es aus der Kraft der Zusammengehörigkeit, dass jeder grundsätzlich gerne und mit Freude seinen Beitrag zum Ganzen der Gruppe einbringt. Es ist die Kraft des Selbstverständlichen, die hier wirksam ist.

Die emanzipatorische Stufe:
Leistung gilt hier als das Besondere, über das normale Maß Hinausreichende. Es wird nur das als Leistung anerkannt, was einen gewohnten Rahmen überschreitet, was sich als Verbesserung zu etwas schon Bestehendem herausstellt und was neue Perspektiven eröffnet. Es werden z.B. in dieser Phase erstmals körperliche Leistungen gemessen und verglichen, wie bei den antiken olympischen Spielen. Die dort erbrachten Leistungen wurden lebenslang geachtet und geehrt. Aus dieser Stufe stammt die Wertung von Leistungen: Das Besondere wird hochgeschätzt, das Einfache wird abgewertet und verachtet.

Die hierarchische Stufe:
Typisch für diese Stufe ist das Vorschreiben von Leistungen. Es werden Arbeitsnormen und -regeln definiert, die jeder zu erbringen hat, erzwungen durch Sanktionen. Hier wird das Ausmaß an Zugehörigkeit zur Gesellschaft von der Erfüllung der angeordneten Leistungen festgelegt. Wer nichts oder zu wenig leistet, wird ausgegrenzt und fällt aus dem Maschennetz der Gesellschaft heraus. Zugehörigkeit und damit Lebenserhaltung muss mit Leistung erworben werden. Im Schweiße des Angesichts muss das Brot verdient werden, sonst droht das Verhungern.

Die materialistische Stufe:
Leistung ist, was am Markt erfolgreich ist. Wer sich noch so abrackert und kein Geld damit machen kann, hat Pech gehabt oder ist zu blöd. Der Markt übernimmt die Einordnung der Individuen: je besser sie am Markt reüssieren, desto besser ihre Einstufung und ihre Zuteilung von Lebenschancen Das Leistungsprinzip wird erfunden: Leistung definiert den Menschen, und diese wiederum wird vom Gott des Kapitalismus, dem Markt, definiert. Damit wird die ganze Gesellschaft vom Leistungsdenken überformt, von der Wiege bis zur Bahre.

Die personalistische Stufe:
Leistung zeichnet sich durch die Qualität des Ergebnisses aus. Leistung ist etwas, das die Individualität eines Menschen in einer inspirierenden Weise zum Ausdruck bringt. In dieser Phase werden besonders die künstlerischen Leistungen besonders gewürdigt und hoch angesehen. Es wird vorausgesetzt, dass die "einfachen" Leistungen von den "einfachen" Menschen erbracht werden, während nur die "besonderen" Menschen die "besonderen" Leistungen genießen können.

Die systemische Stufe:
Die Leistungen der Menschen werden im Netz des Ganzen einer Gesellschaft gesehen und als Dienst am Ganzen verstanden. Im systemischen Verständnis wird das Geben äquivalent mit dem Nehmen. Das System der Entlohnungen für Leistungen wird als dynamisch und flexibel angesehen, das sich mit der Dynamik der Gesellschaft weiterentwickelt mit einer Tendenz zur zunehmenden Konvergenz von hohen und niedrigen Einkommen. Es gibt keine absoluten Wertzumessungen für "wichtigere" und "unwichtigere" Leistungen mehr.

Die holistische Stufe:
Wie vieles andere, verliert der Begriff der Leistung auf dieser Stufe seine Kraft. Es ist nicht mehr wichtig, zu leisten, sondern im eigenen Tun zu sein. Alles und jedes, was getan wird, gilt als Leistung oder auch nicht. Das Tun entspringt aus der inneren Mitte und braucht keinen äußeren Maßstab. Es trägt die Anerkennung und Wertschätzung in sich, wie sie auch leicht und offenherzig zwischen den Menschen fließt. Es gehört zum Wesen des Menschen, Leistungen zu erbringen und anderen von Nutzen sein zu wollen.

Vgl. Lotterie und Leistung
Vgl. Die Einatem-Gesellschaft
Vgl. Die Großen und die Kleinen