Die Scham, die damit verbunden ist, das eigene Leben aus eigenen Kräften schaffen zu müssen, heißt Autarkiescham. Sie drückt sich in dem Glaubensprogramm aus, nichts wert zu sein, wenn man es alleine nicht schafft.
Die Verfügung über Geld ist ein Symbol oder sogar Synonym für Freiheit und Autarkie in unserer Gesellschaft. Geld öffnet alle Türen und ist der Schlüssel für den Zugang zu wichtigen Ressourcen, die wir zum Überleben und leben benötigen. Wenn wir kein Geld haben, brauchen wir jemanden, der uns erhält oder der uns Geld gibt. Ohne Geld sind wir also abhängig vom Wohlwollen von anderen und können uns selbst nicht erhalten.
In unserer Gesellschaft wird deshalb auch der Wert eines Menschen in den meisten Alltagsabläufen über Geld definiert, und das geht bis zur Frage der Überlebensberechtigung: Wer genug davon hat, kommt überall durch, wer mehr als genug davon hat, kann sich Luxus leisten, wer nicht genug davon hat, muss im Mangel leben, und wer nichts davon hat, muss darum betteln, um überleben zu können. Bettler erinnern uns an den schamvollen Zustand, der entsteht, wenn wir ohne Geld sind; Bettler werden aus manchen Städten vertrieben, weil sie uns darauf aufmerksam machen, an welch dünnem Faden unsere eigene wirtschaftliche Existenz hängt. Wir wollen nicht sehen, wie abhängig wir sind. Und wir wollen nicht sehen, wie ungerecht die Ressourcen und der Zugang zu Geldquellen in der Welt verteilt sind. Außerdem wollen wir die eigene Scham nicht spüren, die uns befällt, wenn wir Unseresgleichen im Elend sehen.
Der Mangel an Geld beschämt
Die Autarkiescham ist wie von selbst und unweigerlich aktiv, sobald ein Mangel an Geld auftritt. Wir fühlen uns weniger wert, so als würden wir zu einer minderen Klasse von Menschen gehören. Alle anderen sind autark, sie können sich leisten, was sie brauchen und wollen, wir selber müssen uns einschränken und sind im äußersten Fall abhängig von Almosen, also von der Willkür der Vermögenden.
Diese Schamform wirkt ins Sozialsystem hinein, das deshalb geschaffen wurde, um die Existenz möglichst vieler Mitglieder der Gesellschaft abzusichern und auch jenen, die es nicht schaffen, sich selbst zu erhalten, oder die ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können, noch einen Notgroschen zukommen zu lassen. Das Überleben soll für alle auf einem untersten Niveau garantiert werden. Doch sollten sich jene, die „der Allgemeinheit auf der Tasche liegen“, dafür schämen, denn die Scham könnte sie motivieren, sich aus der Not herauszuziehen. Verstärkt wird die Schambelastung dadurch, dass die anderen, die genug haben, auf sie mitleidig und verächtlich herabschauen. Es ist also eine beschämende und beschämte Situation, kein Geld selbst zu erwirtschaften und von mehr oder weniger gnadenhalber gewährten Zuwendungen abhängig zu sein.
Selbst Arbeitslose leiden unter dieser Scham. Zwar handelt es sich theoretisch um einen Versicherungsvorgang: In die Arbeitslosenversicherung einbezahltes Geld wird im schlagenden Fall zurückgezahlt. Aber viele davon Betroffene reagieren mit Schuld- und Schamgefühlen, die immun gegen die rationale Einsicht sind, dass einem das Arbeitslosengeld zusteht und keine Gnadengabe ist. Sie haben das Existenzsymbol der kapitalistischen Gesellschaft internalisiert: Existieren darf, wer genug Geld hat, um es sich leisten zu können. Existieren darf, wer sich selbstständig die notwendige Menge Geld erwirtschaften kann. Wer das nicht schafft, ist es zwar noch wert, am Leben erhalten zu werden, zumindest dort, wo es einen Sozialstaat gibt. Aber er soll sich dafür schämen. Diese Schamverordnung hat den Zweck, einen Druck zu erzeugen, der die Betroffenen dazu zwingen soll, sich „zusammenzureißen“ und wieder zu wirtschaftlich wertvollen Elementen der Gesellschaft zu werden.
Wenn wir Glück hatten, spielte die Autarkiescham keine Rolle in der frühen Kindheit. Wir sind mit dem Grundgefühl aufgewachsen, dass die Grundbedürfnisse abgedeckt sind: Nahrung, Kleidung, Wohnung usw. sind einfach da. Unter anderen, prekären Umständen ist diese Schamform von Anfang an da: Ein Kind wird geboren, und die Eltern wissen nicht, wie sie es wirtschaftlich schaffen sollen. Das Kind spürt die Ängste und Sorgen der Eltern und fühlt auch, dass es dafür verantwortlich ist. Es schämt sich dafür, dass es da ist und die Nöte der Eltern verursacht, was eine Form der Urscham darstellt. Außerdem wird die Grundlage gelegt, dass sich, sobald ein Verständnis für Geld und seine Macht entwickelt ist, die Autarkiescham einstellt. Sie ist also häufig eine Ableitung aus einer Existenzscham, indem Existenz und Geldbesitz gleichgestellt werden, eine Gleichung, die zu den Leitlinien des kapitalistischen Systems gehört.
Selbst wenn unsere Anfänge frei von Existenzängsten und Versorgungssorgen waren, kann die Autarkiescham in Verbindung mit dem Geld später auftreten. Kinder sammeln häufig die ersten Erfahrungen mit der Bedeutung des Geldes, wenn sie Taschengeld bekommen. Sie fangen dann an, ihren Geldbesitz mit dem ihrer Kolleginnen im Kindergarten und in der Schule zu vergleichen. Diese Vergleiche bringen entweder Stolz oder Scham im Schlepptau mit sich: Stolz, wenn der Anschein entsteht, finanziell besser dazustehen als andere Kinder, und Scham, wenn es umgekehrt ist.
So wachsen die Kinder in eine Gesellschaft hinein, in der der finanzielle Status einen wichtigen bis ausschlaggebenden Anteil am Selbstwert verkörpert. Die Lebens- und Entfaltungschancen werden nach diesem Maßstab bemessen, und wer hier schlecht abschneidet, kommt schwerlich ohne Schamgefühle damit zurecht. Das Leistenmüssen wird zum Antrieb, um diesen unangenehmen Gefühlen zu entrinnen, und führt in vielen Fällen zur Selbstausbeutung, getrieben von Versagensängsten.
Die vielen Burnout-Erkrankungen, die vielen psychosomatischen Erkrankungen und die vielen depressiven Störungen, die zu unrühmlichen Kennzeichen der modernen Welt geworden sind, treten als Folge des inneren Drucks auf, der durch die Autarkiescham ausgelöst wird. Wir sollten uns gegenseitig darin bestärken, dass der Wert von Menschen nicht über Geld definiert werden darf, und wir sollten uns dafür einsetzen, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse so gestaltet werden, dass niemand durch den Rost fallen und in eine schamvolle Armut geraten kann. Wir können selber nur schamfrei in einer Gesellschaft leben, in der alle genug zum Auskommen haben. Es ist ein zentraler Teil der Menschenwürde, ohne Existenzängste ein gutes Leben führen zu können.
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