Sonntag, 16. Juli 2023

Die eigene Geschichte und das Schicksal

Es gibt kein Schicksal in der äußeren Wirklichkeit, sondern nur Abläufe und Geschehnisse. Der Begriff Schicksal entsteht in unserem Denken, er ist ein Konzept des Bewusstseins. Es handelt sich um die Benennung und Bewertung unseres Erlebens in bestimmten Momenten, als Bezeichnung für eine Erfahrung, die etwas Unbegreifliches enthält. Das Schicksal stößt uns zu, gewissermaßen ruckartig und gewaltsam tritt es in unser Leben und nimmt uns voll in Beschlag. In der Rückschau ragen die schicksalhaften Erlebnisse wie mächtige und dunkle Marksteine aus der Umgebung heraus: Nach solchen Vorkommnissen war nichts mehr wie früher, das Leben wurde ein anderes.

Wenn wir an das Schicksal denken, fallen uns sofort äußere Ereignisse ein, die uns stark betroffen haben: Unerwartete Todesfälle, Unfälle, Krankheiten und andere emotional belastende Erfahrungen. Wir erleben sie als von außen kommend, die dann unser Inneres ergreifen und erschüttern. Was hat es nun mit unserem Innenleben auf sich, ist da auch die Macht des Schicksals aktiv?

Unverfügbare Abläufe in unserem Inneren

Wir haben den Eindruck, dass wir unsere innere Situation immer beeinflussen und regulieren können, zum Unterschied von der Außenwelt, auf die wir in nur sehr geringem Maß Einfluss haben. Allerdings ist auch dort vieles vorgegeben, also „Schicksal“. Denn unsere Impulse, Stimmungen und Gedanken werden von Vorgängen erzeugt, die im Organismus und seelisch im Unterbewussten, also ohne unsere bewusste Mitwirkung ablaufen. Wir haben keine Macht darüber, was als Gefühl oder als Gedanke auftaucht. Wir sind ihm ausgeliefert wie einem Schicksalsschlag, obwohl Gefühle und Gedanken in der Regel viel harmloser sind als das, was wir als schicksalhaft beschreiben.

Sobald allerdings etwas in unser Bewusstsein getreten ist, können wir darauf einwirken, indem wir die Kraft unserer Aufmerksamkeit einsetzen. Den Inhalten unseres Bewusstseins, denen wir Aufmerksamkeit geben, verleihen wir mehr Macht als jenen, die wir übergehen oder beiseite stellen. Wir verfügen also über die Fähigkeit, Bewusstseinsinhalten, die uns angenehm und förderlich erscheinen, mehr Bedeutung zu verleihen, als jenen, die uns runterziehen oder in ungewollte Gewohnheiten verstricken. Wir sind nicht Herr (Frau) unseres unmittelbaren Erlebens, sondern der Verarbeitung dieses Erlebens. Unsere Einflussnahme kommt also immer hinten nach, gleichwohl wirkt sie längerfristig darauf ein, was als erstes auftaucht. Denn Bewusstseinsinhalte, die wir durch unsere Aufmerksamkeit pflegen und stärken, melden sich öfter als solche, die wir vernachlässigen oder ignorieren. So können wir mit unseren Gedanken umgehen, und Ähnliches gilt für Gefühle. Wir sind in der Lage, belastenden Gefühlen weniger Bedeutung zuzumessen und befreienden Gefühlen mehr Raum zu geben. Auf diese Weise schwächen wir die einen und fördern die anderen.

Das ist der Weg, auf dem wir die Verantwortung für unser Erleben übernehmen, sprich für die Übersetzung dessen, was uns im Außen begegnet, in unser Inneres. Wir haben keine Zuständigkeit für das, was wir erleben, sind aber dann zuständig für das, was nach der Bewusstwerdung geschieht. Wir können nicht verhindern, dass die Erde zu beben beginnt und dass wir in Panik geraten. Aber wir können beeinflussen, wie wir mit dieser Erfahrung umgehen: Ob wir in der Panik bleiben oder ob wir schnell wieder zur Ruhe finden und das Vernünftige tun.

Verantwortung beruht auf Bewusstheitsschulung

Es gibt noch eine weitere Ebene dieser Zugangsweise. Sie liegt darin begründet: Das Bewusstmachen des Inneren wird erst möglich, wenn jemand beginnt, am eigenen Schicksal und an den Verstrickungen, die die Seele damit macht, zu arbeiten. Menschen mit wenig Bewusstheit ihrer selbst bringen die Aufmerksamkeit nicht auf, die es braucht, das Innenleben zu beeinflussen. Solche Menschen werden oft von Gefühlen überschwemmt und finden schwer wieder heraus. Andere sind von Gedanken dominiert, die auch aufs Gemüt drücken können. Die Annahme dabei ist, dass alles im Inneren geschieht und dass es keine Einflussmöglichkeiten darauf gibt.

Es ist wiederum das Schicksal, das manche auf den Weg der Selbsterforschung bringt und andere nicht. Es ist nicht eigentlich ein Verdienst, eine bewusste Verantwortungsübernahme, die zu diesem Schritt führt, sondern etwas, das sich ergeben hat, vielleicht aus drängender Not oder aus Neugier, vielleicht auf Anraten oder unter Druck, vielleicht durch traumatische Erfahrungen oder durch eine sensible Persönlichkeitsstruktur. Natürlich braucht es eine freiwillige Zustimmung, sich auf den Erforschungsweg zu begeben, aber die Bedingungen dafür, dass es dazu kommt, liegen nicht in der eigenen Entscheidungsbefugnis. Das Schicksal entscheidet darüber, ob sich jemand einer Therapie unterzieht, auf ein Meditationsretreat geht, einen anderen Selbsterfahrungsweg wählt oder in den unbewusst geprägten Gewohnheitsmustern verharrt.

Das geheimnisvolle Reich des Unverfügbaren

Wenn allerdings das Tor zur Innenerforschung einmal aufgetan wurde, wird klar, dass es in der eigenen Verantwortung liegt, immer wieder hindurchzugehen und mehr Bewusstheit ins eigene Leben und Erleben zu bringen. Es wird einsichtig, dass es einen Bereich der Verantwortung dem eigenen Erleben gegenüber gibt, der genutzt werden kann, um die Selbstregulation im Innenbereich zu verbessern. Ein einfaches Werkzeug bietet unsere Atmung, die wir bewusst steuern können. Mit der Regelung unserer Atmung können wir Einfluss nehmen auf unser Nervensystem und auf unsere Stimmung. Vor allem zur Stressreduktion ist sie prädestiniert.

Dennoch kann es geschehen und geschieht es immer wieder, dass der Pfad ins Neuland der Seele wieder verlassen wird und die alten Geleise die Regie übernehmen. Die Fähigkeit zur Verantwortungsausübung in diesem Bereich geht verloren. Wir vergessen, was wir schon gelernt haben und denken beispielsweise nicht daran, das Ausatmen zu entspannen, wenn wir uns gestresst fühlen.

Damit kommen wir zu einer weiteren Ebene, auf der wir auch zugeben müssen, dass das Übernehmen von Verantwortung selber wieder ins Reich des Unverfügbaren gehört. Es gelingt manchen leichter und anderen schwerer. Diese Fähigkeit hängt letztlich wiederum von Faktoren ab, die nicht in der eigenen Verantwortung liegen.

Also sind unsere Verantwortungsbereiche beständig von Bereichen des Vorgegebenen und des Geschehenden eingegrenzt und umgeben. Unsere Verantwortung nehmen wir wahr, weil es uns in bestimmten Momenten gegeben ist und wir vernachlässigen sie, weil uns in anderen Momenten kein Zugang dazu gewährt ist. Je näher wir hinschauen, desto deutlich wird, welch großen Raum all das einnimmt, was wir nicht kontrollieren können, was ohne unser Zutun in uns wirkt, was unserer Bewusstmachung immer voraus ist.

Die eigene Geschichte und das Schicksal

Mit dem Einsehen, dass der eigene Verantwortungsbereich schmal ist im Vergleich zu dem, was ohne unsere bewusste Mitwirkung geschieht, ändert sich der Blick auf die eigene Lebensgeschichte. Wir können sie auf neue Weise erzählen. Viele Ereignisse in unserer Vergangenheit, über die wir hadern und mit denen wir uns nicht abfinden können, erscheinen in einem anderen Licht, wenn wir die Grenze zwischen Verantwortung und Schicksal genauer erkennen. Die Möglichkeit, für unser Handeln Verantwortung zu übernehmen, war zu den kritischen Zeitpunkten, mit denen wir im Unfrieden sind, viel kleiner, als wir jetzt annehmen. Nachträglich ist uns manches bewusst geworden; damals verfügten wir nicht über diese Bewusstheit. Deshalb konnten wir nicht anders handeln als wir gehandelt haben. Deshalb ist etwas geschehen, was wir heute als Fehler erkennen und so nicht mehr machen würden. Wir sind in dieser Hinsicht bewusster geworden und haben aus der Erfahrung gelernt. Jetzt können wir damit aufhören, von uns selber eine Bewusstheit für die Vergangenheit zu verlangen, die uns erst nachträglich zuteil wurde. Jetzt können wir damit aufhören, uns selber mit dem heutigen Besserwissen zu quälen.

Die Lücken der Verantwortung

Wir müssen immer wieder anerkennen, dass wir die Verantwortung nur in Lücken, die sich im dichten Gewebe des Seins öffnen, ausüben können. Wenn wir aber diese Lücken ausnutzen, um unsere Bewusstheit zu vertiefen, dann werden diese Lücken umso häufiger auftreten, sodass uns ein Wachsen in der geistigen Reife geschenkt wird.

Wir gelangen zu unserer vollen Wirkmacht nur dann, wenn wir ein klares Gefühl für die Grenzen unserer Einflussnahme haben. Wo diese Grenzen unklar und verschwommen sind, vergeuden wir unsere Kräfte, weil sie in Scham- und Schuldgefühle fließen. Mit der Einsicht in die Grenzen verstehen wir, wie wir unsere Autorität und Verantwortung in den kleinen Bereichen leben können, die unserer Kontrolle unterliegen, und wie wir sie durch Übungen in der Bewusstheit vermehren. Dem Unverfügbaren gilt es in Respekt und Demut sowie mit Gelassenheit zu begegnen. Wir sind nicht die Meister:innen unseres Schicksals, aber die Gestalter:innen unseres bewussten Lebens.

Zum Weiterlesen:
Schicksal und Verantwortung
Schicksal und Scham

Mittwoch, 12. Juli 2023

Schicksal und Scham

Die Scham an der Schicksalsgrenze

Es gibt eine Scham, die entsteht, wenn wir ein Schicksal nicht als Schicksal akzeptieren und meinen, wir hätten etwas versäumt, das das Schicksal abgewendet hätte. Eine wichtige Grenze verläuft zwischen Verantwortung und Schicksal, zwischen dem Verfügbaren und dem Unverfügbaren. Es ist die Grenze der Selbstmächtigkeit: Bis hierher kann ich wirksam sein und Einfluss ausüben. Darüber hinaus habe ich nichts mehr zu sagen.

Wenn uns diese Grenze nicht klar ist oder wenn wir sie unwissentlich überschreiten, öffnen sich Räume für Selbstzweifel und Selbstbeschuldigungen. Denn im Reich des Schicksals können wir mit unseren Ambitionen und Absichten nur scheitern. Es ist ein geheimnisvolles Reich mit Gesetzmäßigkeiten und Regeln, die uns nicht zugänglich sind und die wir einzig mit Demut zur Kenntnis nehmen können. Es gibt ja den Spruch: „Wenn du gegen Gott kämpfst, wirst du immer verlieren.“

Ausufernde Verantwortung

Alle Formen der Selbstinfragestellung sind Ausdruck von Scham. Die Scham sagt uns zweierlei: Du hast möglicherweise etwas falsch gemacht und Schuld auf dich geladen. Und dahinter: Du hast die Grenze zwischen Schicksal und Verantwortung überschritten und deine Macht über das zulässige Maß hinaus ausgedehnt und erweitert. Denn wenn wir uns vormachen, das Schicksal läge in unserem Verantwortungsbereich, machen wir uns zu Richtern oder Herrschern über das Schicksal. Wir stellen fest, das es seine Arbeit schlecht gemacht hat. Doch hat diese angemaßte Richterposition keinerlei Auswirkungen auf die Realität, denn sie richtet sich überhaupt nicht danach. Die einzige Konsequenz ist ein Konflikt in uns selbst.

Zu solchen selbstaggressiven Selbstanklagen kommt es vor allem bei existentiellen Erfahrungen, die uns schwer treffen und unsere Kapazität im Akzeptieren überfordern. Es sind z.B. Grenzerfahrungen, die mit schweren Krankheiten oder mit dem Tod verbunden sind. Viele Menschen neigen dazu, sich selbst Vorwürfe zu machen, wenn wenn nahestehende Personen sterben. Diese Vorwürfe sind dann von Scham- und Schuldgefühlen begleitet. Weil es schwerfällt, das Schicksal zu akzeptieren und in die Haltung der Demut zu gehen, wird der innere Konflikt gewählt, durch den noch der Schein der Handlungsfähigkeit aufrecht bleibt. Wir tun so, als könnten wir die Realität nach unseren Vorstellungen fabrizieren, indem wir sie in unserer Fantasie umgestalten. Die Ohnmacht, die mit dem Annehmen des Schicksals verbunden ist, ist mit so großer Angst und so starken Schamgefühlen verbunden, dass wir alles Mögliche veranstalten, was uns scheinbar aus der Ohnmacht befreit, und sei es auch nur eine Scheinermächtigung.

Stirbt ein Mensch, der einem nahe steht, so kann schnell der Gedanke auftauchen, etwas versäumt oder übersehen zu haben, was das Leben des Menschen verlängert oder den Tod abgewendet hätte. Die Selbstvorwürfe können auch auf etwas gerichtet sein, was sich diese Person noch gewünscht hätte und was ihr nicht erfüllt wurde. Oder darauf, dass man beim Tod nicht anwesend sein und sich deshalb nicht auf die richtige Weise verabschieden konnte. Solche Gedanken sind mit unangenehmen Gefühlen und inneren Konflikten verbunden, die oft über längere Zeiten andauern und mit jeder Erinnerung an den Todesfall aktiviert werden. Die Scham über die eigene Fehlerhaftigkeit und Unachtsamkeit ist der zentrale Motor bei solchen Selbstgeißelungen. 

Identifikation mit einer Illusion

Die Sturheit, mit der wir oft am Nichtakzeptieren der Wirklichkeit und der Geschicke, mit denen sie uns konfrontiert, festhalten, hat mit Identifikation zu tun. Wir sind mit einer fantasierten besseren Version der Wirklichkeit identifiziert, mit der wir die misslungene Vergangenheit überschreiben wollen. Wir rufen sie uns wieder und wieder in die Vorstellung, nur um anzuprangern, was wir in der Vergangenheit falsch gemacht, übersehen oder versäumt haben. Damit agieren wir wie ein strenger und unerbittlicher Richter gegen uns selbst und verurteilen uns fortwährend zu einem miesen Selbstgefühl.

Wir verkennen dabei, dass dieser Teil von uns, der auf dem Richtstuhl sitzt, unsere Überheblichkeit repräsentiert. Er verhält sich wie eine Elterninstanz, die das Kind immer wieder wegen eines Fehlers beschimpft, herabsetzt und beschämt und selber nichts falsch macht. Es ist die Instanz, die nicht versteht, was im Kind abläuft und was es auf der emotionalen Ebene bräuchte. Jedes Nichtverstehen, jede Abwertung demütigt, und jede Demütigung verringert den Selbstwert, bis am Schluss eine resignative Depression steht.

Es gibt zwei Bereiche unserer Erlebenswirklichkeit: Das Kontrollierbare und das Unkontrollierbare, den Bereich, in dem wir Macht und Einfluss haben, und den anderen, in dem wir ohnmächtig, ausgeliefert sind, in dem wir dem unterworfen sind, was wir das Schicksal nennen. Im einen Bereich sind wir verantwortlich für das, was mit uns und um uns geschieht; im anderen Bereich wirken andere Kräfte und Mächte, jenseits unseres Wollens und unserer Einflussnahme, also auch jenseits unserer Verantwortung. Das Schicksal macht uns darauf aufmerksam, dass es unüberwindliche Grenzen unseres Könnens, Wissens und Beeinflussens gibt. Wir können z.B. den Zeitpunkt unseres Todes nicht steuern, nicht einmal den Ablauf und die Phasen unseres Sterbeprozesses.

Die säuberliche Unterscheidung zwischen diesen beiden Bereichen, eben zwischen Schicksal und Verantwortung ist wichtig für unsere Lebensqualität und für den Schutz vor toxischen Schamgefühlen und Selbstabwertungen. Denn sobald wir verstehen, dass es höhere Mächte sind, denen wir ausgeliefert sind, und wenn wir das Geschehen als Schicksal akzeptieren, lösen sich die Schuld- und Schamgefühle auf. Wir können das vergangene Ereignis besser verstehen und neu bewerten. Auf diese Weise schließen wir Frieden mit uns selbst und verabschieden das Geschehene in die Vergangenheit.

Wo beginnt die Verantwortung?

Das eigene Erleben ist das eigene Erleben, es ist folglich in dieser Hinsicht selbst erzeugt. Aber den Inhalt dieses Erlebens liefern Einflüssen der äußeren und der inneren Wirklichkeit. Die eigene Zutat besteht in der Interpretation, Bewertung und Kategorisierung. Die Inhalte selbst unterliegen nicht der Macht des eigenen Denkens oder Wollens, vielmehr erreichen sie das Bewusstsein vor jeder bewussten mentalen Aktivität. Sie sind also schon längst da, wenn unser Bewusstsein beginnt sich mit ihnen zu beschäftigen. Sie werden immer erst nachträglich vom Denken bearbeitet und in die bewusste Innenwelt eingebaut.

Die Inhalte unseres Erlebens, Fühlens und Denkens gehören folglich zur Sphäre des Unverfügbaren. Der Bereich unserer Verantwortung beginnt erst dann, wenn das Erleben in unser Bewusstsein tritt. Erst ab diesem Moment können wir Einfluss nehmen und die Inhalte unseres Erlebens sowie das daraus abgeleitete Handeln steuern und verändern.

Der Raum, in dem unsere Verantwortung gefragt ist, ist relativ klein und wir überschätzen ihn meistens, vor allem wenn wir aus der Schule der Selbstkreatoren kommen. Wir können den Ansprüchen nicht gerecht werden, die die Theorien der universalen Selbstermächtigung vorschreiben. Und immer, wenn wir Erwartungen und Zumutungen nicht gerecht werden, folgt ein Schamgefühl.

Der Fatalismus

Es gibt auch die Haltung, die den Verantwortungsraum möglichst klein hält. Den Gegenpol zur Hybris der Selbstkreatoren („Ich schaffe alles mit der Kraft meiner Gedanken!“) bildet der Fatalismus, oft verbunden mit Bequemlichkeit und Faulheit. Wir können uns auch auf das Schicksal ausreden, statt aktiv zu werden: Alles ist Kismet, ich kann sowieso nichts ausrichten, weil alles vorherbestimmt ist (auch meine Bequemlichkeit oder Feigheit). Schon wieder habe ich eine Prüfung nicht geschafft. Da waren eben höhere Mächte gegen mich. Es ist wie es ist, damit muss man sich abfinden. Niemand kann von mir verlangen, etwas zu tun, was sowieso nichts wird. Es ist sinnlos, mich anzustrengen.

Auch hier zieht die Scham im Hintergrund die Fäden. Immer wenn die Übernahme der Verantwortung für das eigene Handeln eingeschränkt oder verweigert wird, geht es um ein mangelndes Selbstvertrauen und um einen niedrigen Selbstwert. Eigentlich traut sich die Person nicht zu, die Situation durch eigenes Handeln zu verbessern und rechtfertigt das Misstrauen in die eigenen Fähigkeiten mit der Sinnlosigkeit des Tuns. Es geht um eine erlernte Hilflosigkeit, um Ohnmacht, die aus Frustrationen stammt, die im eigenen Leben erlitten wurden. Es ist also eine Opferhaltung, die den Fatalismus kennzeichnet, und nicht die demütige Annahme des Schicksals dort, wo die eigene Handlungsmacht endet. Das Schicksal kann nicht mehr für Ausreden dienen, sobald wir erkannt haben, ab welchem Zeitpunkt wir das Steuerruder übernehmen müssen und können. Wir sind also verantwortlich für eine fatalistische Haltung, sobald sie uns bewusst wird, und nicht das Schicksal.

Die weise Unterscheidungsfähigkeit

Wie ziehen wir die Grenze in Weisheit? Woran können wir erkennen, was in unserer Einflusssphäre liegt und was sich ihr entzieht?

Die Unterscheidungskraft wächst erst auf dem Boden einer gereinigten Seele. Sie muss sich von frühen Prägungen und Fixierungen befreit haben, um klar zu erkennen, wo die eigene Gestaltungsmacht an ihre Grenze stößt. Diese Blockierungen können zum einen Verantwortungszuschreibungen sein, die in der Kindheit aufgeladen wurden und mit Scham- und Schuldgefühlen aufrecht geblieben sind. Zum anderen gibt es narzisstische Größenfantasien, mit denen wir uns in die Nähe eines allverantwortlichen Gottes versetzen. Schließlich hat auch der resignative Fatalismus mit seiner Verantwortungsverweigerung Wurzeln in unserer Lebensgeschichte.

Immer wenn wir bei der Erinnerung an schicksalhafte Ereignisse zu Schamgefühlen neigen, ist es gut, einen Blick in die eigene Biografie zu werfen. Denn solche Gefühle haben vermutlich ihren Ursprung in kindlichen Erfahrungen des Beschämt- und Beschuldigtwerdens. Es handelt sich also um Introjekte aus solchen Erfahrungen, mit deren Hilfe die innere Richterinstanz aufgebaut wurde, die seither akribisch nach allem Fehler- und Mangelhaften sucht, um es anklagen zu können.

Erst wenn der Blick auf die innere und äußere Realität geklärt und geweitet ist, zeigt sich, was wir an unserer Lebenssituation verändern können und was wir als unverfügbar annehmen und hinnehmen müssen. Es ist diese Erkenntnis, die uns die Last der Scham- und Schuldgefühle wegnimmt. Wir finden zurück zu unserer Würde und versöhnen uns mit unserer Geschichte. Wir können unsere Versäumnisse und Fehler als Teil unserer menschlichen Unvollkommenheit annehmen und daraus lernen.

Freitag, 7. Juli 2023

Schicksal und Verantwortung

„Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die sich ändern lassen, und die Weisheit, das eine vom andern zu unterscheiden.“ Dieses bekannte Zitat des Theologen Reinhold Niebuhr beschreibt das Verhältnis von Schicksal und Verantwortung. Es gibt eine wichtige Grenze zwischen dem Verfügbaren und dem Unverfügbaren, zwischen dem, was wir mit unseren Kräften beeinflussen und gestalten können, und dem, das unserer Macht entzogen ist. Wir sind für vieles in unserem Leben verantwortlich, während anderes ohne unser Wollen oder Zutun in unser Leben eingreift.

Nehmen wir das Beispiel Krankheit. Es liegt in unserer Verantwortung, unser Leben so zu gestalten, dass es unserer Gesundheit am zuträglichsten ist. Das gelingt uns mehr oder weniger, erfordert oft Disziplin und steht manchmal in einer Spannung mit dem Bestreben nach Lebensgenuss. Wenn wir erkranken, können wir uns fragen, ob wir die Verantwortung für unsere Gesundheit nicht genügend wahrgenommen haben. Um künftigen Krankheiten vorzubeugen, können wir beschließen, unser Verhalten zu verändern, z.B. indem wir uns gesünder ernähren, mit dem Rauchen aufhören oder weniger Alkohol trinken usw. Es ist aber selten so, dass wir eine klare Ursache-Wirkungsbeziehung feststellen können. Denn selbst wenn wir uns unvernünftig verhalten, müssen wir nicht unbedingt krank werden, und wir können erkranken, auch wenn wir uns vernünftig verhalten. Es gibt Menschen, die zu einem hohen Grad so leben, wie wir es gemeinhin als gesund verstehen, aber dennoch plötzlich schwer erkranken, während andere nach vielerlei Maßstäben äußerst ungesund leben und dennoch nie krank werden. Die Frage kann dann auftauchen: Warum gerade ich? Wieso nicht die anderen? An diesem Punkt beginnen wir mit dem Schicksal zu hadern, also mit dem, was wir uns nicht erklären können.

Häufig erleben wir Schicksalsschläge als Ungerechtigkeiten. Warum werde ich mit dieser Krankheit belastet, wo ich doch so ein guter Mensch bin? Oder aber gerade im Gegenteil empfinden wir das Schicksal als Ausdruck der Gerechtigkeit: Eben weil ich kein guter Mensch bin, geschieht es mir recht, dass ich das Opfer eines Verbrechens wurde.

Oder, wenn uns eine Serie von Unglücksfällen betrifft, kommt die resignative Reaktion: „Mir bleibt auch nichts erspart in dieser Welt.“ – angeblich der Kommentar von Kaiser Franz Joseph auf die Nachricht von der Ermordung seiner Frau.  Gegen die Übermacht des Schicksals ist kein Kraut gewachsen und selbst ein Kaiser machtlos.

Allmachtsdenken

Es gibt im Bereich der Esoterik Glaubensansätze zur Überwindung der Macht des Schicksals. Dabei wird der Bereich der Verantwortung ins Unendliche ausgeweitet. Das Unerbittliche des Schicksals schüchtert ein, macht Angst und lässt uns ohnmächtig und klein erscheinen. Deshalb wird es als hilfreich und stärkend erfahren, wenn auch solche Erfahrungen in die Sphäre der eigenen Verantwortung eingebaut werden. Scheinbar wirkt es wie eine erwachsene Haltung, die keine Ausreden auf höhere Einflüsse braucht und alles in Kontrolle hat. Dann heißt es: Du bist der Schöpfer/die Schöpferin deines eigene Schicksals. Alles, was dir in deinem Leben zustößt, ist das Resultat deiner Entscheidungen, der bewussten oder der unbewussten. Du trägst also für alles, was du erlebst, die Verantwortung.

Was auf den ersten Blick wie eine Selbstermächtigung ausschaut (für alles wird die Verantwortung übernommen, es gelten keine Ausreden mehr und die Gestaltungsmacht auf das eigene Leben mittels Gedankenkraft ist nahezu unbegrenzt), führt in der Praxis zur maßlosen Selbstüberforderung und entlarvt sich als Ausfluss einer anmaßenden Haltung. Es ist nicht möglich, die Ansprüche, die mit der Übernahme dieser Verantwortung verbunden sind, einzulösen. Denn so viele Bereiche der Wirklichkeit sind unserem Einfluss entzogen, und das beginnt schon beim eigenen Unbewussten, von all dem, das dem Schicksal vorbehalten ist, gar nicht zu reden. Wird das Konzept beibehalten, obwohl immer wieder zum Versagen führt, sind massive Schamgefühle die Folge. All die negativen oder ungewollten Lebensereignisse sind dann allesamt Eigenkreationen, und erst recht wird die Gewissensbelastung ungeheuerlich, wenn sich der Horizont auf die ganze Menschheit ausweitet. Denn wenn alles, was im Leben geschieht, selbst erschaffen und verantwortet ist, gilt das für alles Gute und für alles Schlimme.

Solche Modelle verfangen nur dann, wenn die Scham vor dem Schicksal herrscht. Es kann doch nicht sein, dass uns im Leben Ereignisse zustoßen, denen wir ohnmächtig und hilflos ausgeliefert sind. Es muss eine Möglichkeit geben, auch über solche Erfahrungen die Kontrolle zu erlangen. Sonst wäre unsere Existenz beschämend klein und beschränkt. Das widerspräche der Selbstachtung.

Verantwortungsübernahme: Lernen und Wachsen mit dem Schicksal

All diese Reaktionsweisen sind menschlich, aber helfen uns nicht dabei, mit dem Schicksal konstruktiv umzugehen. Vielmehr wollen wir in Abläufe eingreifen und sie nach unserem Gutdünken gestalten, über die wir keine Macht haben. Wir wollen uns zu den Beherrschern unseres Schicksals machen, vor allem dort, wo es uns unangenehme Erfahrungen beschert. Statt die Verantwortung dafür zu übernehmen, wie wir auf Schicksalsschläge reagieren, klagen wir das Schicksal an und wollen uns zu Richtern aufspielen, die nach dem eigenen Gutdünken entscheiden. Oder wir ordnen uns dem Wirken der Schicksalsmächte willenlos unter und verkriechen uns in fatalistischer Resignation. Mit dieser Einstellung verleihen wir dem Schicksal über seine geheimnisvolle Macht hinaus noch mehr an dämonischer Gewalt und rechtfertigen damit, dass wir uns mit Jammern und Wehklagen in der Ohnmacht versenken.

Unsere Einflussnahme beginnt aber genau dort, wo das Schicksal in unsere Erlebensrealität eintritt. In diesem Moment entscheiden wir, ob wir uns dem Fatalen stellen, um es mit seinem Konsequenzen zu bewältigen, oder ob wir klein beigeben und hadern und jammern. Das Annehmen und Nutzen unserer Handlungsmöglichkeiten bringt uns zurück in unsere Verantwortung. Wir werden wieder zu den Gestaltern unseres Lebens, die den Kurs im tosenden Meer mit seinem Auf und Ab steuern. Wir müssen den Wellengang so hinnehmen wie er ist und unsere Aktionen an ihn anpassen. Wir können dabei den Naturgewalten unsere Kräfte entgegensetzen und in ein Spiel eintreten, in dem wir unsere Fähigkeiten unter Beweis stellen können.

Mit jeder Übernahme der Verantwortung nach einem Schicksalsschlag gewinnen wir mehr Schicksalskompetenz dazu und wachsen in Weisheit und Gelassenheit. Wir erkennen deutlicher die Grenzen zwischen dem Kontrollierbaren und dem Nicht-Kontrollierbaren und können so das in unserem Leben zum Besseren wenden, das unter unserem Einfluss steht, und das in Demut akzeptieren, was einer höheren Regie unterliegt.

Zum Weiterlesen:

Die Macht des Schicksals und ihre Grenzen
Unser Schicksal annehmen