Samstag, 15. Juli 2017

Oxytocin - Kuschel- und Muthormon

Die Rolle von Oxytocin bei der Stressreaktion vermittelt uns neue Einsichten in die Vielschichtigkeit dieses Phänomens und wirft auch ein Licht auf den Unterschied von Eustress und Distress.

Oxytocin (OXT) ist ein Oligopeptid aus 9 Aminosäuren, das im Hypothalamus gebildet wird. Es ist dem Vasopressin strukturell ähnlich und wirkt im Gehirn als Neurotransmitter und im Körper über die Blutbahn als Hormon.

Oxytocin wird während der Geburt, beim Stillen und bei lustvoll empfundenem körperlichem Kontakt freigesetzt. Es heißt deshalb „Kuschelhormon“ oder „Liebespeptid“.  Auch eine soziale Problematik, die zu ihrer Lösung viel Vertrauen erfordert, führt zu einer Oxytocin-Ausschüttung.

Die Wirkungen von Oxytocin


Viele der Wirkungen von Oxytocin haben mit der sozialen Bindungsfähigkeit zu tun:

  • Stimulation der Uteruskontraktion unter der Geburt: Förderung des Geburtsvorgangs und gleichzeitig einer emotionalen Bindung an das Kind.
  • Stimulation der Milchsekretion durch Kontraktion der Muskulatur um die Drüsenbläschen.
  • Senkung des Blutdrucks, Auslösung eines Wohligkeitsempfindens.
  • Beruhigung von Entzündungsreaktionen.
  • Festigung sozialer Bindungen durch Förderung von Vertrauen und Abbau von Aggression sowie durch erhöhte Bereitschaft, Fehler von Gruppenmitgliedern zu vergeben. Insbesondere spielt das Oxytocinsystem für die Paar-Bindung und die Mutter-Kind-Beziehung eine entscheidende Rolle.
  • Förderung der Stressbewältigung; dabei agiert Oxytocin als Gegenspieler des Stresshormons Kortisol.
Die Oxitocinwirkungen hängen von der Wechselwirkung mit seinen Rezeptoren im Körper ab, wodurch Menschen in Situationen, in denen Oxytocin ausgeschüttet wird, unterschiedlich reagieren können. 

Der „Single Nucleotide Polymorphism“ (SNP) rs53576 des Oxytocinrezeptor-Gens (OXTR) kodiert für die genetische Variante A. Die A- und G-Allele des Rezeptors lösen je nach ihrer Kombination etwas unterschiedliche Wirkungen aus. Menschen können daher geringfügig unterschiedlich in Situationen reagieren, in denen Oxytocin ausgeschüttet wird.

Oxytocin und Einsamkeit


Das Gefühl der Einsamkeit ist ein verbreitetes Phänomen vor allem in der Adoleszenz, einer Lebensphase, in der es um den Abschied von der Herkunftsfamilie mit dem Ziel einer eigenen Familiengründung geht. In dieser Umbruchsphase wird das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Kontakt mit anderen Menschen häufig nicht ausreichend befriedigt. Dabei reagieren Menschen unterschiedlich: Solche, die sich leichter einsam fühlen, suchen eher erneute Kontakte zum sozialen Schutz als solche, bei denen das Gefühl weniger stark ausgeprägt ist. Das Gefühl der Einsamkeit als Drang, aktiv eine Gemeinschaft aufzusuchen und Kontakte zu knüpfen, ist offenbar genetisch determiniert, allerdings in unterschiedlich starker Ausprägung (abhängig von den genetischen Varianten der A- oder G-Allele).  (Zur Quelle)


Oxytocin und Stressbewältigung


Viele Studien haben nachgewiesen, dass stabile Sozialkontakte die Anfälligkeit für Depression, Angst, Drogenabhängigkeit und Krankheiten reduzieren. Umgekehrt kann sozialer Stress, insbesondere Vereinsamung oder Ausgrenzung (soziale Isolierung, Mobbing etc.) zu erheblichem Stress und zu Stresskrankheiten führen. Auf diese Zusammenhänge wird weiter unten noch genauer eingegangen. 

Oxytocin und Vertrauen


Vertrauen ist eine unabdingbare Voraussetzung für Liebe, Freundschaft und im geschäftlichen und politischen Leben. Ohne Vertrauen können keine dauerhaften persönlichen Beziehungen und stabile Gemeinschaften aufgebaut oder Verträge und Abkommen geschlossen werden. Oxytocin spielt dabei eine tragende Rolle.

Oxytocin verbessert die kognitive Empathie  (bekommen Versuchspersonen das Hormon über einen Nasenspray, so können sie besser an der Augenpartie eines Gegenübers abzulesen, wie es diesem geht, aber auch mehr Mitgefühl mit Menschen in Belastungssituationen entwickeln) und reduziert die Aktivität der Amygdala, also des Angstzentrums. 

Die Schattenseiten des Liebesmoleküls


Allerdings verstärkt das Hormon ein gruppen-egoistisches Verhalten. Und damit kommen auch die Schattenseiten des hochgeschätzten Kuschelhormons zur Sprache: es spielt auch bei Neid, Unachtsamkeit und Vertrauensseligkeit sowie bei der Bevorzugung der eigenen Gruppe vor fremden eine wichtige Rolle. Oxytocin ist dafür verantwortlich, die Beziehungen in der eigenen Gruppe zu stärken. Der Schutz nach innen erfodert oft die Ablehnung nach außen, wie sich im Aggressionsverhalten von Muttertieren und auch Vätern zeigt, wenn die Nachkommen angegriffen werden. Es ist allerdings ein Missverständnis, wenn man meint, dass das Hormon zum Schüren von Fremdenhass geeignet wäre. Vielmehr zeigt sich, dass Oxytocin Aggressionen eindämmt und soziale Ängste reduziert. (Zur Quelle

Bei Trennungsstress werden die positiven emotionalen Wirkungen von Oxytocin unterdrückt. Studien konnten nachweisen, dass nach dem Ende einer Partnerschaft, verbunden mit dem Verlust an emotionaler Sicherheit, die Freisetzung des Stresshormons CRF (Corticotropin-releasing Faktor) die Aktivität des Oxytocin-Systems drastisch reduziert. Trennungserfahrungen führen zu starker CRF-Ausschüttung, womit die beruhigende Wirkung des „Kuschelhormons“ außer Kraft gesetzt wird. Der Trennungsschmerz mit seinen starken Gefühlen wirkt mit voller emotionaler Macht. Möglicherweise soll er bewirken, dass die Beziehung doch wieder aufgenommen wird. Das könnte erklären, warum manche Menschen nach einer Trennung doch wieder in die Partnerschaft zurückkehren, obwohl diese stark dysfunktional ist wie z.B. in einer Alkoholiker-Coalkoholiker-Beziehung.  (Zur Quelle)

Es gibt in der Oxytocin-Forschung eine Kontroverse, seit Hinweise aufgetaucht sind, dass Beziehungsängste und schlechte Beziehungsqualität mit gesteigertem Oxytocin-Spiegel verbunden sind. Allerdings scheint eine umfassende Forschungsarbeit das Liebeshormon zu rehabilitieren: In einer US-Studie, die Paare über mehrere Wochen begleitete, konnte gezeigt werden, dass die Beziehungsqualität positiv mit dem Oxytocin-Spiegel korrespondiert. Paare, die sich gut verstehen, haben einen höheren Spiegel, und Paare mit angespannter Beziehung einen niedrigeren. (Zur Quelle)

Eine neue Liebesdroge?


Sollen Oxytocin-Nasensprays verteilt werden, um die Menschen menschenfreundlicher werden zu lassen? Genügen ein paar Schnupfer des Hormons, und schon sind wir lieb miteinander?

Abgesehen von Gewöhnungseffekten, die bewirken, dass der Körper aufhört, das Hormon selber zu produzieren, wenn es von außen zugeführt wird, ist noch viel zu wenig darüber bekannt, wie das Hormon im Körper aufgenommen wird und mit anderen Botenstoffen zusammenwirkt, und ob sich durch eine äußere Zufuhr langfristige Verhaltensänderungen erzielen lassen. Natürlicher ist es wohl, mit Umarmungen oder zärtlichen Berührungen wechselseitig mehr Oxytocin in Umlauf zu bringen und positive soziale Gefühle zu verstärken („a hug a day keeps the doctor away“).


Eustress und Distress: Mit oder ohne Oxytocin


Oxytocin gilt als allgemeines Antistress-Hormon, das den Kortisolspiegel sowie den Blutdruck senken kann. Damit hilft es, während Phasen von Stress und Entzündungen die Homöostase aufrechtzuerhalten. Es wird nicht nur durch das Stillen oder während sexueller Begegnungen, sondern auch durch warme Temperatur, sanfte Berührungen, Klänge und andere soziale Signale ausgeschüttet. Es wird nicht nur in der Zirbeldrüse oder im Hypothalamus produziert, sondern auch von der Gebärmuttern, den Eierstöcken, den Hoden, Blutgefäßen und vom Herzen.

Die entzündungshemmenden und antioxidanten Eigenschaften des Hormons sowie seine Wirkungen als Modulator der Schmerzempfindlichkeit sind deshalb wichtig, weil sie deutlich machen, wie wichtig soziale Netzwerke und Absicherungen für die Aufrechterhaltung der Gesundheit sind. Stress als solcher ist nicht notwendigerweise negativ, aber mit Stress ohne mitmenschliche Unterstützung umgehen zu müssen, kann sich stark auf die Gesundheit schlagen. (Zur Quelle)

Damit ist Oxytocin ein Hinweis auf die Wagschale zwischen gutem und schlechtem Stress, also zwischen Eu- und Distress: Je nachdem, ob genügend soziale Unterstützung sowie die Kontrolle über die Umstände des Stresses verhanden sind, wird Stress zur Herausforderung oder zur Belastung. Es gibt die Kampf-Flucht-Reaktion (fight/flight), die durch Stress ausgelöst wird, aber auch den Freundschaftsimpuls (tend and befriend), der bei Frauen stärker ausgeprägt ist als bei Männern, und er hängt wieder mit der Oxytocin-Regulation zusammen. In Situationen, die mit Angst verbunden sind und die wir als Bedrohung erleben, gibt es uns Sicherheit, wenn wir jemanden um uns haben, dem wir vertrauen können. Soziale Isolierung dagegen wird in sich schon als gefährlich erlebt und schwächt zusätzlich den Körper und seine Immunreaktion. 

Wir alle wünschen uns ein stressfreies und belastungsfreies Leben, keine Sorgen, Unglücksfälle und Katastrophen. Allerdings ist ein Leben aus lauter Glückssträhnen alles andere als förderlich für unsere Gesundheit. Denn für die Oxytocin-Balance ist ein Zuwenig an Ungemach ebenso ungünstig wie ein Zuviel; gerade genug Stress zu erleben hilft, dass das Hormon gut im Fluss bleibt und damit unseren Körper stärkt, so sagen zumindest die Forscher. 

Wenn wir das Hormon und seine Wirkungsweise verstehen, können wir auch leichter verstehen, warum früh erlebtes Missgeschick später die Bewältigungsstrategien im Leben fördern oder behindern kann. Wissenschaftler sehen eine U-Kurve: Mäßige seelische Belastungen wirken sich stärkend auf die Gesundheit aus, nämlich in einem geringen Ausmaß an Depressionen und posttraumatischen Stresssymptomen sowie in höherer Lebenszufriedenheit. 

Wie können wir für einen höheren Oxytocin-Spiegel sorgen?


Wie die Stanford-Psychologin Kelly McGonigal behauptet, hängt das hormonelle Profil einer stressreichen Erfahrung daran, wie wir sie selber sehen, also in welchen Kontext wir sie einfügen. Sie unterscheidet zwischen einer Kampf-Flucht-Reaktion und einer Herausforderungsreaktion. Die letztere ist dadurch gekennzeichnet, dass wir Stresssituationen als Chance für das Verbessern der eigenen Leistungsfähigkeit nehmen, als Gelegenheit zum Lernen. Voraussetzung dafür ist es, während des Erlebens in der Bewusstheit und Achtsamkeit zu bleiben. Weiters hilft es, andere um Hilfe zu bitten oder anderen zu Hilfe zu eilen, die gerade einer belastenden Situation ausgesetzt sind.

McGonigal geht davon aus, dass die Stressreaktion kein Feind ist, der besiegt werden muss, sondern ein Verbündeter, der hilft, schwierige Situationen zu überwinden. Sie weist auch darauf hin, dass bei mäßigem Stress Oxytocin freigesetzt wird, um die Angstreaktion im Gehirn zu dämpfen und den Flucht- und Erstarrungsinstinkt zu unterdrücken und statt dessen soziale Verbindungen aufzubauen. Das Liebeshormon ist also auch ein Muthormon. Beispiele für diese Form der Stressreaktion sind, wenn Eltern ihre Kinder beschützen oder wenn jemand sein Team oder seine Gruppe vor Ungerechtigkeiten verteidigt. (Zur Quelle)

Eustress besteht also darin, einer belastenden Situation einen positiven Sinn geben zu können und damit das Selbstbewusstsein zu steigern, die Schwierigkeit überwinden zu können. Wie andere Forschungen belegen, geht es auch darum, dass wir in der Stresssituation das Gefühl haben, die Umstände kontrollieren zu können, dass wir also über einen Handlungsspielraum verfügen, den wir zur Meisterung der Schwierigkeit nutzen können.

Der Schutz des Herzens


Oxytocin stärkt die Herzgesundheit. Das Herz verfügt über spezielle Oxytocin-Rezeptoren, und das Hormon hilft, dass sich die Herzzellen nach kleinen Schäden wieder selbst regenerieren und reparieren können. Es ist also nicht so, dass Stress grundsätzlich schädlich fürs Herz ist, sondern dass auf die Art des Stresses ankommt. Sobald der Stress mit Oxytocin-Ausschüttung verbunden ist, wenn es sich also um Eu-Stress handelt, hilft er dem Herzen und seiner Gesundheit. Dabei aktiviert sich die Resilienzkomponente in der Stressreaktion.

Geschlechtsunterschiede


Allerdings ist noch anzumerken, dass Männer und Frauen in der Oxytocin-Thematik unterschiedlich reagieren. Während beide Geschlechter in der Kortisol- und Adrenalinausschüttung ähnlich sind, ist die Stressreaktion bei Frauen mit deutlich stärkerer Oxytocin-Freisetzung verbunden als bei Männern. Hier haben wir die biologische Grundlage für das bekannte Phänomen, dass in Belastungssituationen Männer dazu tendieren, das Problem proaktiv und selbständig zu lösen, während Frauen Hilfe bei anderen suchen. Es ist ja nicht weiter verwunderlich, dass Frauen im Stress leichter Oxytocin ausschütten als Männer, weil sie das Hormon sowohl bei der Geburt als auch beim Stillen brauchen. (Zur Quelle)

Mittwoch, 12. Juli 2017

Die Erderwärmung lange nach zwölf

Wir wissen ja, dass sich die Erde erwärmt und dass das nicht gut ist für uns. Aber wissen wir auch, dass wir halbblind auf eine Katastrophe zusteuern, selbst wenn die im Vorjahr in Paris beschlossenen Klimaziele erreicht werden? Und sind sich die verantwortlichen Handlungsträger dessen bewusst oder verdrängen sie das Problem, weil es ja auch so viele andere, aktuellere und besser vermarktbare Themen gibt? Wer hier weiterliest, wird sich schwer tun mit dem Verdrängen. 

Der US-Autor David Wallace-Wells hat mit vielen Klimaforschern gesprochen und einen Artikel für das New York Magazine verfasst, in dem die Ergebnisse zusammengefasst sind. Er lugt dabei über die wissenschaftliche Zurückhaltung hinaus: Wissenschaftler sind gerne vorsichtig, was die Interpretation ihrer Ergebnisse anbetrifft und welche Szenarien für die Zukunft daraus geschmiedet werden. Aller Vorsicht zum Trotz, das Weltklima und damit die Menschheit bewegen sich auf eine Katastrophe zu, die Frage ist nur, ob sie überschaubar und bewältigbar ist oder ob sie weit darüber hinausgeht, was die Menschheit auch mit kollektiver Anstrengung noch in den Griff bekommen könnte.

Ich fasse im folgenden den Artikel zusammen.

Das dominante Fantasiebild von der Welterwärmung zeigt die steigenden Ozeane: Ertrinkende Städte und Landstriche. Doch reicht es nicht, aus solchen gefährdeten Gegenden zu fliehen. Denn es könnte sein, dass bis zum Ende dieses Jahrhunderts viele Teile der Welt unbewohnbar werden.

Im vergangenen Winter waren die Temperaturen über einige Tage 15 bis 20 Grad über dem Normalwert. Der Saatgut-Tresor in Svalbard (im norwegischen Spitzbergen), der dort vor zehn Jahren errichtet wurde, weil man dachte, dass die Samen im Permafrost am besten gesichert wurden, muss ab heuer kontinuierlich überwacht und mit speziellen Geräten geschützt werden, weil durch die Erwärmung der Umgebung immer wieder Wasser eindringt.

Dieser Vorgang sollte uns daran erinnern, dass der arktische Permafrost 1,8 Billionen Tonnen Kohlenstoff enthält, mehr als doppelt so viel als die Erdatmosphäre zur Zeit enthält. Es kann bei Erwärmung als Methan entwichen, das, bezogen auf ein Jahrhundert, 34mal stärker als Treibhausgas-Wärmedecke wirken kann als Kohlendioxid, bezogen auf zwei Jahrzehnte ist es 86mal so mächtig.

Warum schrillen keine Alarmglocken? Die Wissenschaftler rechnen vorsichtig mit Wahrscheinlichkeiten, und da kann man sich immer noch die günstigste Variante aussuchen. Den Ton geben die Technokraten an, die selbstbewusst verlautbaren, dass jedes Problem gelöst werden kann, bzw. Politiker, die meinen, dass der Klimawandel eine Erfindung von Verschwörern ist. Da sie für dieses Problem keine populistischen Lösungen anbieten können, leugnen sie es einfach. Schließlich sieht man ja kaum etwas, weil die Entwicklung scheinbar so langsam verläuft. Was sind schon zwei Grad? Und wie sollen wir uns 1,8 Billionen Tonnen vorstellen? Die Ungewissheit ist ja selber ungewiss. Und wenn schon was passieren sollte, wird es woanders sein und mit uns selber nichts zu tun haben. Schließlich schafft es Unbehagen, wenn wir uns ein Problem vorstellen, das, wenn überhaupt, sehr schwierig zu lösen ist. Und wo das Unbehagen zur Angst wird, wird die Neigung zur Verleugnung nur noch größer.

Die folgenden Aussagen wollen keine Voraussagen über das, was geschehen wird, machen, denn was geschehen wird, ist hochgradig davon abhängig, wie die Menschheit darauf reagieren wird, und das lässt sich wissenschaftlich nicht berechnen. Vielmehr geht es um ein Portrait über die Zukunft des Planetens, wenn keine massiven und entschlossenen Handlungen gesetzt werden.

Die Gegenwart des Klimawandels und die Zerstörung, die wir schon in unsere Zukunft hineingebacken haben, ist erschreckend genug. Wir denken vielleicht, dass Miama und Bangladesh noch eine Chance auf Überleben haben; doch die meisten Wissenschaftler nehmen an, dass diese Gebiete bis zum Ende des Jahrhunderts verloren sind, auch wenn wir im kommenden Jahrzehnt vollständig mit der Verbrennung von fossilen Treibstoffen aufhören. Zwei Grad Erwärmung wurde als die Schwelle für eine Katastrophe angesehen, nun ist es das Ziel seit den Pariser Klimaverträgen, und viele Experten gehen davon aus, dass diese Ziele nicht erreicht werden.

Der jüngste Bericht des UN- Intergovernmental Panel on Climate Change geht davon aus, dass um 2100 eine Erwärmung von vier Grad erwartet werden muss, wenn die gegenwärtige Entwicklung so weitergeht. Die obere Wahrscheinlichkeitskurve geht auf 8 Grad, und da ist das Schmelzen des Pramfrosts noch nicht eingerechnet. Ebensowenig sind Erwärmungseffekte berücksichtigt, die dadurch entstehen, dass weniger Eis weniger Sonnenlicht reflektiert, mehr Wolken entstehen und die Wärme festhalten, dass Wälder und andere Pflanzenkulturen zurückgehen, die der Atmosphäre Kohlendioxid entziehen. 

Die Geologen wissen, dass die Erde fünf massive Lebensauslöschungen hinter sich hat und dass vier davon von Klimaveränderungen durch Treibhausgase hervorgerufen wurden. Sie begann damit, dass die Erwärmung das arktische Methangas freigesetzt hat; sie endete mit der Auslöschung von 97 Prozent des Lebens auf der Erde. Viele bezeichnen unsere Ära als „Anthropozän“, als Menschenzeitalter, in dem die Menschheit massiv Einfluss auf den Planeten nimmt. Die Eroberung der Natur und die Herrschaft über sie, die Ausbeutung ihrer Schätze, die zunächst in Unwissenheit und später in Verleugnung der Wirkungen erfolgen, führen dazu, dass wir ein Klimasystem erschaffen, das uns selbst die Lebensgrundlagen nimmt. Jeden Tag tragen wir dazu bei.


Der Hitzetod


In der Zuckerrohrgegend von El Salvador leidet ein Fünftel der Bevölkerung an chronischen Nierenkrankheiten, vermutlich als Folge der Dehydrierung durch die Arbeit auf den Feldern, wo sie noch vor 20 Jahren problemlos ernten konnten. Mit der teuren Dialyse beträgt die Lebenserwartung fünf Jahre, ohne sie nur wenige Wochen.

Menschen müssen sich beständig abkühlen, wie auch die anderen Säugetiere. Das geht nur, wenn die Lufttemperatur so niedrig ist, dass die Luft als Kühlung dienen kann, indem sie der Haut Hitze entzieht. Wenn die Temperaturen ansteigen, wird es besonders dort schwierig, wo die Luftfeuchtigkeit hoch ist, wie z.B. in den Urwäldern von Costa Rica: Bei 90 Prozent Luftfeuchtigkeit und 40 Grad Lufttemperatur würde ein menschlicher Körper innerhalb von Stunden zu Tode gekocht, von innen wie von außen.

Klimawandelskeptiker weisen gerne darauf hin, dass sich der Planet schon oft erwärmt und wieder abgekühlt hat. Doch das Klimafenster, das menschliches Leben erlaubt, ist sehr eng. Bei 5 bis 6 Grad Erwärmung würde mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung durch die direkte Hitze sterben. Seit 1980 hat der Planet eine 50-fache Steigerung an Orten erlebt, an denen es zu gefährlicher bis extremer Hitze kommt. Seit 2002 sind die fünf wärmsten Sommer seit 1500 aufgetreten, und bald wird der Aufenthalt im Freien zu dieser Jahreszeit in vielen Teilen der Welt ungesund sein. Bald werden Städte wie Karachi oder Kalkutta unbewohnbar sein, auch wenn wir die Pariser Klimaziele einhalten. Nach Schätzungen der Weltbank werden gegen Ende des Jahrhunderts die kühlsten Monate in den Tropen wärmer sein als die wärmsten Monate am Ende des 20. Jahrhunderts. Klimaanlagen sind da nur ein schwacher Trost, weil sie zur Erwärmung beitragen und weil sie in den ärmsten Gegenden der Welt unerschwinglich sind. Deshalb wird die Krise im Mittleren Osten besonders dramatisch sein, dort ist es schon 2015 zu Temperaturen bis 73 Grad gekommen. In einigen Jahrzehnten wird die Pilgerreise nach Mekka körperlich unmöglich sein. 


Nahrung


Es gilt die Grundregel, dass jedes Grad Erwärmung zu 10 Prozent Rückgang der Erträge führt. Kommt es zu einer Erwärmung von fünf Grad bis zum Ende des Jahrhunderts, müssten sich 50 Prozent mehr Menschen mit 50 Prozent weniger Getreide begnügen. Mit Proteinen ist es noch schlimmer: Es werden 16 Kalorien Getreide benötigt, um nur eine Kalorie Fleisch zu erzeugen, aus einer Kuh, die ihr Leben damit verbracht hat, die Luft mit Methangas zu verseuchen.

Man könnte ja sagen, dass das Getreide künftig in Grönland oder Sibirien angebaut wird; allerdings fehlt es dort an der Bodenqualität, und diese benötigt Hunderte von Jahren, um aus Mist fruchtbare Erde herzustellen.

Dazu kommt das Problem der Trockenheit; es könnte sein, dass sich äußerst fruchtbares Land in kurzer Zeit in Wüste verwandelt. Bis 2080 wird, wenn es nicht zu dramatischen Reduktionen der Emissionen kommt, Südeuropa unter permanenter Trockenheit leiden, ebenso wie Irak und Syrien und der Großteil des Mittleren Ostens, ebenso dicht besiedelte Gebiete in Australien, Afrika und Südamerika sowie die Brotkorbgebiete Chinas.

Wir leben ja nicht in einer Welt, die frei von Hunger wäre: 800 Millionen Menschen sind unterernährt. Dieses Jahr alleine gibt es schon vier Hungerkatastrophen in Somalien, Südsudan, Nigerien und Jemen mit schätzungsweise 20 Millionen Opfern.


Klimaepedemien


Im Eis ist historisches Leben eingefroren, das sich wiederbeleben kann: Krankheitskeime, die seit Millionen Jahren verschwunden sind. Das menschliche Immunsystem kann gar nicht wissen, wie es damit umgehen soll. Forscher haben in Alaska Überreste des Grippevirus von 1918 entdeckt, die damals fünf Prozent der Weltbevölkerung hingerafft hat. Es wird auch vermutet, dass im sibirischen Eis Pocken und Beulenpest gefangen ist.

Mit der Ausbreitung der Hitzegebiete werden sich die Tropenkrankheiten ausbreiten. Malaria wird sich nicht nur wegen der Moskitos ausbreiten, sondern auch wegen des Krankheitserregers, der sich mit jedem Grad Erwärmung schneller vermehrt. Wie unser Immunsystem mit den Mutationen umgehen lernen kann, die durch die steigenden Temperaturen wahrscheinlicher werden, können wir nicht wissen.


Die Luft und die Atmung


Unsere Lungen brauchen Sauerstoff, aber das ist nur ein Teil dessen, was wir atmen. Der Anteil von Kohlendioxid wächst: Er hat gerade 400 Teilchen auf eine Million überstiegen, und die Extrapolation aus dem bestehenden Trend vermutet, dass um 2100 1000 ppm erreicht sein werden. Bei dieser Konzentration könnte die kognitive Fähigkeit der Menschheit um 21 Prozent abnehmen.

Andere Elemente in einer wärmeren Luft sind sogar noch furchterregender, wie z.B. das Ozon. Bis 2090 könnten 2 Milliarden Menschen Luft einatmen müssen, mit Ozonwerten oberhalb des von der WHO vorgegebenen Toleranzwertes. Unter anderem könnte sich das in einer Verzehnfachung von autistischen Kindern auswirken, wenn die schwangeren Mütter einer zu starken Ozonbelastung ausgesetzt sind, wie in einer aktuellen Studie prognostiziert wird.

Schon jetzt sterben mehr als 10 000 Menschen täglich durch die Schadstoffe aus der Verbrennung fossiler Treibstoffe. Jährlich sterben 339,000 Menschen an Rauchgasvergiftungen durch Waldbrände. Das US-Forest Service schätzt, dass die Waldbrände bis 2050 doppelt so zerstörerisch sein werden wie heute. Dazu kommen die Auswirkungen auf die Emissionen in die Atmosphäre, besonders dann, wenn Wälder auf Torfböden abbrennen wie 1997 in Indonesien. Mehr Brände bewirken mehr Erwärmung, die mehr Brände bewirkt.

Wir müssen auch mit der Möglichkeit rechnen, dass Regenwälder wie im Amazonasgebiet, die 2010 die zweite Jahrhunderttrockenheit innerhalb von fünf Jahren erlebten, austrocknen könnten, wodurch sie für solche Flächenbrände verwundbar werden könnten. Der Amazonas-Regenwald sorgt allein für 20 Prozent unseres Sauerstoffs.

Weiters gibt es die bekannteren Formen der Verschmutzung. 2013 hat die arktische Polschmelze die asiatischen Wettermuster verändert, sodass die industrialisierten Gebiete in China ihr natürliches Ventilationssystem eingebüßt haben. In der Folge wurden weite Gebiete im Norden einer enormen Smogbelastung ausgesetzt, buchstäblich nicht atembare Luft. In diesem Jahr war der Smog für ein Drittel aller Todesfälle im Land verantwortlich.


Endlose Kriege


Klimaforscher wie Marshall Burke und Solomon Hsiang haben einige Zusammenhänge zwischen Temperatur und Gewalt quantifiziert: Jedes halbe Grad an Erwärmung könnten zu einem 10 bis 20-prozentigen Anstieg an Gewalt sorgen. Soziale Konflikte könnten sich in diesem Jahrhundert mehr als verdoppeln. Es gibt die Überlegung, dass der Anstieg an Gewaltbereitschaft im Mittleren Osten im Lauf der vergangenen Jahrzehnte den Druck der globalen Erwärmung wiedergibt, wenn man bedenkt, dass die Erderwärmung damit begonnen hat, als die industrialisierte Welt das Öl aus der Region gefördert und dann verbrannt hat.

Warum gibt es den Zusammenhang zwischen Klima und Konflikt? Die Landwirtschaft und andere Bereiche der Wirtschaft sind direkt betroffen. Dazu kommen erzwungene Fluchtbewegungen – auf der Welt gibt es momentan 65 Millionen Flüchtlinge. Und es gibt die einfache Tatsache der individuellen Verstörung. Hitze führt zum Anstieg von Verbrechen und zu Hassbotschaften in den sozialen Medien.


Ökonomische Zusammenbrüche


Wir kennen die Mantren des Neoliberalismus, dass das Wirtschaftswachstum jedes Problem löst. Allerdings stießen nach dem Crash von 2008 einige Historiker auf die Idee des „fossilen Kapitalismus“. Das enorme Wirtschaftswachstum, das ab dem 18. Jahrhundert zur industriellen Revolution geführt hat, könnte nicht das Resultat von Erfindungen oder Handel gewesen sein, sondern von der Entdeckung fossiler Brennstoffe und ihrer rohen Kraft – die einmalige Injektion eines neuen „Wertes“ in ein System, das vorher durch globale Subsistenzwirtschaft gekennzeichnet war. Diese Wissenschaftler glauben, dass wir zu einem beständigen Zustand der Weltwirtschaft zurückkehren könnten, wobei allerdings diese einmalige Injektion einen langfristigen Schaden in Form der Klimaänderung bewirkt hat.

Wissenschaftler haben berechnet, dass jedes Grad an Erwärmung dem Bruttoinlandsprodukt 1,2 Prozent kostet oder dass es zu 23 Prozent Verlusten im Prokopfeinkommen bis zum Ende des Jahrhunderts kommt (als Folge von Veränderungen in der Landwirtschaft, durch Verbrechen, Stürme, Energie, Sterblichkeit usw.). Nur zur Erinnerung: Jeder Hin- und Rückflug zwischen New York und London kostet der Arktik 3 weitere Quadratmeter Eis.


Vergiftete Meere


Wenn wir nicht eine radikale Verringerung der Emissionen zustande bringen, werden wir den Anstieg der Meere um mindestens einen Meter oder möglicherweise drei Meter bis zum Ende des Jahrhunderts erleben. Ein Drittel der größten Städte liegt an der Küste, dazu kommen, Kraftwerke, Häfen, Marinebasen, Ackerland, Flussdeltas, Sumpfgebiete und Reisfelder. Mindestens 600 Millionen Menschen leben innerhalb von 10 Metern über dem Meeresspiegel.

Gegenwärtig wird ein Drittel des Kohlendioxids auf der Welt von den Ozeanen aufgesogen, gottseidank. Doch der Preis dafür ist die Meeresübersäuerung, die wiederum ein halbes Grad zur Erwärmung in diesem Jahrhundert beitragen kann. Wie sich das auf die Fischpopulationen auswirken wird, ist noch nicht genau erforscht; Muscheln und Austern werden sich schwertun, ihre Schalen wachsen zu lassen. Sollte der pH-Wert des menschlichen Blutes so weit absinken wie der der Ozeane in den letzten Jahrzehnten, kommt es zu Schlaganfällen, Koma und plötzlichen Todesfällen.

Die Kohlenstoffabsorption kann zur Ausbreitung von Mikroben führen, die in den Tiefen der Ozeane anoxische, sauerstofflose Bereiche, „Todeszonen“ bewirken, die dann langsam nach oben steigen. Die kleinen Fische sterben wegen des Sauerstoffmangels, dadurch gedeihen die Bakterien usw. In Teilen des mexikanischen Golfes und vor der Küste von Namibia ist dieser Prozess schon im Gange. Schwefelwasserstoff blubbert dort aus dem Wasser. Schwefelwasserstoff ist so giftig, dass es, wie vor Hunderten von Millionen Jahren, in der Lage ist, das ganze Leben auf dem Planeten zu vernichten.


Der große Filter


Warum also können wir es nicht sehen? 

Die Entwicklung hat mit der Industrialisierung begonnen. Doch mehr als die Hälfte der Treibhausgasemissionen haben in den letzten drei Jahrzehnten stattgefunden; seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs liegt die Zahl bei 85 %. Innerhalb einer einzigen Generation hat uns die globale Erwärmung an den Rand einer Katastrophe geführt. Dennoch sind viele Klimaforschung optimistisch: Wir werden einen Weg finden, um die radikale Erwärmung zu verhindern, weil wir es müssen. Sie wissen, dass auch wenn die Ziele von Paris erreicht werden, müssen bis 2050 die Emissionen aus Energie und Industrie jedes Jahrzehnt halbiert werden; die Emissionen durch Landnutzung (Entwaldung, Rindermethan usw.) müssen gegen Null gehen, und wir müssen Technologien entwickelt haben, die der Atmosphäre zweimal soviel Kohlendioxid entziehen, wie es jetzt alle Pflanzen der Erde tun. 

Dennoch haben die Wissenschaftler ein enormes Vertrauen in die Erfindungsgabe der Menschheit. Wir haben es geschafft, in diesen katastrophalen Zustand zu kommen, also können wir auch einen Ausweg finden. Wir haben das Ozonloch in den 1980-Jahren gestopft. Wenn wir bereit sind zu erkennen, was wir angerichtet haben, werden wir es auch schaffen, dass die Menschheit weiter auf dieser Welt leben kann. Für die Klimaforscher ist die Alternative einfach unvorstellbar.

Der Artikel, der diesem Beitrag zugrunde liegt, ist am 10. Juli im New York Magazine erschienen.

Freitag, 7. Juli 2017

Früher Stress und die Anfälligkeit für Depressionen

Früher Lebensstress enkodiert eine lebenslange Empfänglichkeit für Stress durch langlebige transkriptionale Programmierung in einer Gehirnbelohnungsregion, die mit Stimmungen und Depression zusammenhängt. Das geht aus einer Studie hervor, die an der Icahn School of Medicine auf dem Berg Sinai durchgeführt und im Journal Science publiziert wurde.

Die Studie konzentriert sich auf epigenetische Veränderungen, also Veränderungen in der Genaktivierung. Diese Art der Regulation leitet sich teilweise aus der Funktion von Transkriptionsfaktoren ab, das sind spezialisierte Proteine, die sich an bestimmte DNA-Sequenzen in unseren Genen anbinden und den Ausdruck, also die Aktivität dieses Gens entweder anregen oder verhindern.

Frühere Studien bei Menschen und Tieren haben schon die Vermutung unterstützt, dass früher Stress im Leben das Risiko für Depressionen und andere psychiatrische Syndrome steigert, aber die neurobiologische Bestätigung war bis jetzt ausständig.

Die vorliegende Studie hat die molekulare Grundlage für Stress während eines empfindlichen Entwicklungsfensters identifiziert, in der die Stressreaktion einer Maus für später programmiert wird. Wenn die Versorgung durch die Mutter unterbrochen wird, kommt es zu Änderungen bei Hunderten von Genen im ventralen tegmentalen Areal (VTA), wodurch diese Gehirnregion auf einen depressionsähnlichen Zustand geprägt wird. Dieser Bereich zählt zum mesolimbischen System, das einen wichtigen Einfluss auf die Gefühlszentren des Gehirns ausübt. Es ist stark durch den Botenstoff Dopamin geprägt und spielt bei der Entstehung von freudvollen Gefühlen insbesondere in Zusammenhang mit Belohnung eine Rolle. Allerdings kann es auch bei der Ausbildung von Suchtverhalten mitwirken.

Als Folge der Unterbrechung der epigenetischen Entwicklung der Gene in diesem Areal entsteht eine erhöhte Empfänglichkeit für Depression für den Rest des Lebens, die latent bleiben kann, bis die Störung irgendwann einmal durch zusätzlichen Stress ausgelöst wird.

Insbesondere haben die Forscher eine Rolle des Transkriptionsfaktors Otx2 (orthodenticle homeobox 2) als Hauptregulator für diese langlebigen Genveränderungen identifiziert. Babymäuse, die in der sensiblen Phase zwischen 10 und 20 Tagen nach der Geburt unter Stress gesetzt wurden, hatten diesen Faktor im VTA unterdrückt. Obwohl sich der Otx2-Spiegel bis in die Erwachsenenzeit normalisierte, hatte die Unterdrückung bereits Genveränderungen in Gang gesetzt, die bis ins Erwachsenenalter weiterbestanden, sodass der Schluss gezogen werden kann, dass früher Lebensstress die altersspezifische Programmierung, die durch Otx2 gestaltet wird, unterbricht.

Weiters zeigte sich, dass die Mäuse, die im frühen Leben unter Stress gesetzt wurden, als Ausgewachsene eher zu einem depressiven Verhalten neigten, aber nur dann, wenn sie zusätzlich unter Stress gesetzt wurden. Alle Mäuse verhielten sich normal, aber ein zweiter Stressschlag führte bei den frühgestressten Mäusen leichter zu depressivem Verhalten.

Die Studie konnte nachweisen, dass die frühe Otx2-Unterdrückung für die Erklärung einer gesteigerten Stressempfänglichkeit im späteren Leben sowohl notwendig wie ausreichend ist. Es kommt zu dieser Schwächung der vagalen Bremse, um die Terminologie der Polyvagaltheorie zu verwenden, also zur Verringerung der Fähigkeit zur Stressbewältigung, wenn früher Stress epigenetische Veränderungen im mesolimbischen System des Gehirns (VTA) hervorruft. Und die erwachsene reduzierte Stresstoleranz kann auf neurobiologischer Ebene ausreichend durch diese epigenetische Modifikation erklärt werden.

Während kritische Phasen in der Kindheit in Bezug auf das Sprachlernens schon verstanden wurden, besteht zur Frage nach sensiblen Phasen in der Kindheit zur Beeinflussung bestimmter Gehirnregionen für die Stressempfänglichkeit und emotionalen Regulation noch viel Klärungsbedarf. Mäuse sind nicht Menschen, doch wissen wir aus der praktischen Erfahrung mit uns selbst und mit vielen, wenn nicht allen Klienten, wie maßgeblich kindliche und pränatale Erfahrungen die Stressreaktionen erwachsener Menschen beeinflussen.

Ein überraschender Effekt der Studie bestand darin, dass die Stressempfindlichkeit bei den ausgewachsenen Mäusen zumindest kurzfristig durch eine Manipulation von Otx2 reduziert werden konnte. Es gibt also Möglichkeiten der nachträglichen Beeinflussung oder sogar der Korrektur der epigenetischen Veränderungen, und das erleben wir in der klinischen Praxis immer wieder. Interessant ist dann vor allem die Frage, welche Methoden besonders gut und direkt auf die Otx2-Regulation im VTA Einfluss nehmen können. Zu hoffen ist, dass weitere Forschungen nicht nur nach pharmakologischen Korrekturmöglichkeiten suchen, sondern auch ihren Blick auf die schon bestehenden therapeutischen Zugänge insbesondere im Entspannungsbereich richten, z.B. inwieweit sich eine entspannte Atmung genau auf diese Bereiche und deren epigenetischen Veränderungen   der Stressregulation im Gehirn auswirkt.


Link zur Studie
Zum Weiterlesen:
Materialien zur Epigenetik
Epigenetische Weitergabe von Stress
Kindliche Traumatisierung verändert die Gene
Epigenetik und die Verantwortung der Mütter

Dienstag, 4. Juli 2017

Epigenetik und die Verantwortung der Mütter

Langsam aber sicher sickern die Erkenntnisse der Epigenetik ins Alltagsbewusstsein: Es gibt erbliche DNA-Veränderungen, die nicht die Gensubstanz, sondern die Genaktivität beeinflussen, also die Weise, wie und wann bestimmte Gene wirksam werden. Solche DNA-Modifikationen wurden in Zusammenhang mit zukünftigen Risiken wie Fettleibigkeit, Diabetes und schwacher Stressreaktion gebracht: Der Lebensstil der Mütter prägt die Gesundheit der Kinder, so wird es auf eine einfache Formel gebracht. Dann schreiben die Zeitungen, dass die Ernährungsweise der Mütter die DNA des Babys verändert oder dass schwangere Mütter, die die 9/11-Katastrophe überlebt haben, ihren Kindern das Trauma übertragen haben. Und da ist was dran, aber durch die mediale Aufbereitung kommt noch ein Drall hinzu.

Denn neue Einsichten in die Natur und ihre inneren Prozesse verbinden sich im öffentlichen Bewusstsein gerne mit alten Vorurteilen und Wertungen. Der Tenor vieler populärer Meldungen zur Epigenetik geht in eine Richtung: Die Mütter sind schuld. Da die epigenetischen Veränderungen im Mutterleib ganz früh schon ansetzen können, liegt es nahe, von werdenden Müttern alles Mögliche zu verlangen, wie sie sich ernähren, wie sie sich vor Stress schützen, wie sie äußere Katastrophen vermeiden usw. Wäre es da nicht im Sinn einer vorsorgenden Politik, Mütter anzuleiten, wie sie richtig leben sollten, und zu überwachen, ob sie das auch tun? Schließlich erspart das der Gesellschaft später Kosten für das Gesundheitssystem bei der Behandlung verschiedener epigenetisch bedingter Erkrankungen.

Natürlich ist es einem heranwachsenden Embryo lieber, wenn sich die Mutter gesund ernährt, nicht raucht, keinen Alkohol trinkt und ein entspanntes Leben führt, voller Vorfreude auf das wachsende Leben. Aber es sind für das Glück des Heranwachsenden die Mütter nicht alleine verantwortlich. Viele Faktoren spielen bei den epigenetischen Prägungen mit: Das soziale Umfeld, die ökonomische und ökologische Situation, die Generationenabfolge und natürlich auch die Väter. 

Darauf weist eine Gruppe von WissenschaftlerInnen hin, die vor der Überinterpretation der Erkenntnisse der Epigenetik warnen und dazu aufrufen, Forschungsergebnisse in ihrem Kontext zu belassen. Z.B. stammen viele der Ergebnisse aus Tierversuchen, die nur sehr bedingt auf Menschen übertragbar sind, doch das wird in den Kurzberichten und Schlagzeilen leicht übersehen, und alle Forschungen isolieren einen Faktor, um die Komplexität zu reduzieren, und beweisen deshalb noch lange nicht, dass nur und ausschließlich dieser Faktor für ein bestimmtes Resultat verantwortlich ist. Deshalb wäre äußerste Vorsicht und Achtsamkeit gefordert, wenn die Erkenntnisse der Wissenschaft in den sozialen Kontext übersetzt und übertragen werden. 

Es ist immer einfacher, eine bestimmte Gruppe von Menschen für Fehlentwicklungen und Missstände verantwortlich zu machen, als die Komplexität der wechselseitigen gesellschaftlichen Bedingtheiten zu berücksichtigen. Es ist einfacher, individuelle Problemlösungen zu verlangen als für die Veränderung der Gesellschaft zu arbeiten. Mütter sind keine isolierten Partikel, die beziehungslos herumschweben, vielmehr sind sie in die verschiedensten Zusammenhänge eingebunden. Deshalb wächst jedes menschliche Wesen in einem sozialen Feld auf, das von Gesellschaft und Kultur sowie von den Traditionen, die weit in die Geschichte zurückreichen, geprägt ist. In diesem Feld ist die Verantwortung breit gestreut, sodass im Grund alle Mitglieder einer Gesellschaft mit ihrer Lebensweise dafür zuständig sind, wie es ungeborenen Babys im Mutterleib geht: Wie kümmert man sich darum, dass Schwangere möglichst wenig unter Stress leiden müssen, sich gut ernähren können und Zeit haben, sich mit dem Geheimnis in ihrem Körper zu beschäftigen? Wie wird für die Bedürfnisse dieser Frauen gesorgt, sodass sie sich gut entspannen können?

Die junge Wissenschaft der Epigenetik ist auch deshalb so spannend, weil sie Determinismus durch Freiheit ersetzt. Wir haben unsere Gene geerbt, da können wir einmal nichts machen, sie repräsentieren gewissermaßen unser Schicksal. Unsere Augenfarbe und Hauttyp sind uns vorgegeben. Andere Aspekte unseres Seins unterliegen unserer Ausgestaltung. Wir können dafür sorgen, die Genaktivierung so zu regeln, dass sie unseren Zielen und Werten im Leben entspricht und wir können epigenetische Prägungen verhindern, die dem entgegenwirken. Wir können unsere Traumatisierungen, die bestimmte Genexpressionen unterbinden, heilen und auflösen. Der Bereich, in dem wir Verantwortung für uns und damit für die Gesellschaft übernehmen können, ist wesentlich größer als es die beschränkte Perspektive der Genetik suggeriert. Es liegt an uns, diese Freiheit zu nutzen.


Samstag, 1. Juli 2017

Essen und Moral

Was wir essen wirkt sich direkt auf unser Gehirn aus, nicht nur darauf, wie wir uns fühlen, sondern auch, wie wir uns entscheiden. Selbst unser moralisches Empfinden ist ernährungsabhängig. Die Moral kommt nicht nur nach dem Essen, sondern aus diesem.

Der diesbezügliche Versuch fand unter der Leitung der Psychologin Soyoung Park in Lübeck statt. Die Testpersonen bekamen in einer Gruppe ein Frühstück mit entweder viel Kohlehydraten und wenig Protein oder umgekehrt in der anderen Gruppe. 

Anschließend wurden sie zu dem Ultimatum-Spiel gebeten: A und B erhalten ein Geldgeschenk, A bestimmt, wie es zwischen den beiden aufgeteilt wird, und B entscheidet, ob er das Angebot annimmt oder nicht. In letzterem Fall kriegen beide nichts. Nach verschiedenen Untersuchungen bildet der Schlüssel von 70:30 zugunsten von A die Grenze, ab der B lieber nichts kriegt, als sich mit einem unfairen Schlüssel zu begnügen.

Allerdings zeigte sich bei dem Experiment, dass die Toleranz gegenüber unfairen Angeboten mit dem Proteingehalt des Frühstücks steigt. Proteine führen zum Anstieg des Aminosäurespiegel im Blut, damit wird auch mehr Tyrosin freigesetzt, was wiederum für die Bildung von Dopamin im Gehirn zuständig ist. Somit kann die Zusammensetzung einer Mahlzeit unser Denken und Handeln so weit und so schnell beeinflussen, dass wir anders in der Spielsituation reagieren als sonst. 

Wir sollten allerdings aus der Studie nicht den Schluss ziehen, möglichst proteinreich zu essen; Kohlehydrate brauchen wir auch, weil sich diese auf die Freisetzung von Serotonin auswirken – wenn wir uns rundherum gut fühlen wollen und nicht nur tolerant gegenüber unfairen Angeboten, sollten wir auf ein gutes Gleichgewicht zwischen Kohlehydraten und Eiweiß achten.

Abgesehen davon müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass unsere Nahrung nicht nur unsere Körperfunktionen beeinflusst, gewissermaßen unser Aussehen, sondern auch unsere Innenwelt, wie wir uns fühlen und nach welchen Werten wir uns entscheiden.

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