Sonntag, 28. Dezember 2014

Erzählend sind wir und erzählt

Wir sind erzählende Wesen. Wir sind erzählte Wesen. Wie wir uns sehen, wie wir unsere Identität erleben, ist zum Teil das Resultat von Erzählungen. So sind wir ein beständig sich wandelnder Endpunkt einer Erzählung. Vollständig erleben wir uns, wenn die Erzählung einen durchgängigen Duktus aufweist, wenn also der Sinn von einem Ereignis zum nächsten weitergereicht werden kann und in jedem Moment ein Blick auf den Gesamtsinn eingeholt werden kann. Dann bildet sich eine dynamische und flexible Identität, die innere Stabilität und äußere Kontinuität in die Lebenspraxis einbringt.

Jede Körperzelle hat ihre Geschichte, ihre Entstehung und die Umstände ihrer Entwicklung in sich abgespeichert und präsent, soweit sie nicht abgebrochen und fragmentiert wurde. Leben ist dauerndes erzählendes Rekonstruieren von Vergangenheit. Leben ist das Herstellen von Kontinuität, die in jedem Augenblick neu geschrieben werden muss, wie die Geschichte einer Nation, die nicht nur durch das Weitergehen der Entwicklung neue Inhalte bekommt, die in die Erzählung eingebettet werden müssen, sondern auch beständig neue Blickpunkte möglich macht, die die Geschichte als ganze in einem neuen Licht zeigen. Archive werden geöffnet und erlauben Einblicke in bisher geheim gehaltenes Wissen, neue Fragen werden an die Geschichte gestellt, die neue Antworten möglich machen.

Die Kreativität der Geschichte zeigt sich darin, dass sie selber sich dauernd umschreibt und umschreiben muss. Nur Diktaturen versuchen, ihre Geschichte in Stein zu meißeln, und zerbrechen daran, weil das Einmeißeln der Geschichte unweigerlich den Verlust von Lebendigkeit und Kreativität nach sich zieht. Die große Lüge der Diktaturen liegt darin, dass sie die Traumen, die sie verursacht haben, hinter den vergoldeten Lettern einer gefälschten Geschichte verstecken.

Geschichtslosigkeit macht krank


Die Rekonstruktion der Geschichte, also das Auffüllen der Lücken in der Erzähltradition, kann nicht willkürlich erfolgen. Sie entsteht von selber, wenn die Geschichte durch das Hinschauen auf das bisher Verdrängte und Verlorene vervollständigt wurde. Werden statt der tatsächlichen Vorgänge erfundene Geschichten eingeschmuggelt, so erscheint die Geschichte verzerrt und verwirrt die Menschen. Deshalb müssen alle Gräueltaten der Geschichte benannt, alle Täter namhaft gemacht werden, um die Geschichte als Wirklichkeit wieder herzustellen und von jeder Fiktionalisierung zu unterscheiden.

Die Rekonstruktion der Geschichte ist also nicht der kreativen Gestaltung eines Kunstwerkes vergleichbar, das einer freien Fantasie, als Folge einer Wirklichkeitssicht, entspringt. Es ist auch kein Spiel, das sich innerhalb bestimmter Regeln frei entfaltet, sondern es unterliegt einem Ernst, den das Leben dort einfordert, wo es an der Kippe steht. Es fordert nichts weniger als die Wahrheit ein, das, was wirklich geschehen ist, ohne Beschönigung oder Verniedlichung, ohne Über- oder Untertreibung. Nur die Wahrheit kann heilsam sein, keine Lüge und keine Ablenkung, also auch kein esoterischer Hokuspokus, indem irgendwelche Geist- oder Naturwesen, Vorleben oder Teufelsaustreibungen einspringen sollen, um die Lücken der eigenen Lebensgeschichte mit Sinn aufzufüllen. Der schonungslose Blick auf die Wahrheit, das Eingestehen und Zulassen des Schrecklichen, so schwer das auch sein mag und soviel Kraft und Mut das auch kosten mag, soviel Schmerz das verursachen mag, ist das einzige dauerhaft und nachhaltig wirkenden Heilmittel, die einzige sinnstiftenden Heilmethode.

Nicht rekonstruierte Lebensgeschichte ist lang- und kurzfristig letal. Kurzfristig, indem sie Ressourcen bindet, die anderweitig fehlen. So kann sich die nicht rekonstruierte Lebensgeschichte in körperlichen oder seelischen Erkrankungen abbilden. Das Erscheinungsbild der Depression z.B. signalisiert das Abgeschnittensein von Sinnzusammenhängen, bis hin zur körperlichen Ebene, sodass eine depressive Person ihren Körper nicht mehr spüren kann, abgesehen von dem allgemeinen Gefühl der Sinnlosigkeit, von dem viele Depressive berichten.

Die unvollständige kollektive Geschichte ist Quelle von Konflikten, die in Kriegen ausarten können. So zehren z.B. die Konflikte in der muslimischen Welt von widersprüchlichen Geschichtsbildern und unaufgearbeiteten uralten Streitereien, Zwistigkeiten, Morden und Massakern. Der Wiederholungszwang, der aus der einseitigen Sicht der Geschichte erwächst, verlängert nur die Kette des Leidens und ist kein Schritt zur Lösung.

Der Weg zur Lösung öffnet sich dort, wo wir beginnen, aktiv nach den Lücken in unseren eigenen Biographien zu forschen, als Individuen und als Kollektive.



Vgl. Narrative Rekonstruktion und Traumaverarbeitung
Rechtsterror braucht Geschichtstherapie
Die erzählte Geschichte und der Moment

Samstag, 27. Dezember 2014

Narrative Rekonstruktion und Traumaverarbeitung

Traumen bewirken Lücken in der Lebensgeschichte. Wenn etwas Drastisches in unser Leben hereinbricht, das wir nicht verarbeiten können, setzt auch die Erinnerung aus oder wird verzerrt. Unsere Lebensgeschichte hat an diesen Stellen Brüche. Sie kann nicht durchgängig erzählt werden. Es fehlt ein wichtiger Teil, der unserer Geschichte den Zusammenhang und durchgängigen Sinn gibt. Die Kontinuität ist unterbrochen, die Identität, die aus der historischen Kontinuität entsteht, ist fragmentiert. Die innere Ganzheit wird vermisst und bildet sich als starke Sehnsucht nach etwas aus, was nicht mehr erreichbar scheint.

Traumen wirken über den Moment hinaus, ohne dass dieser Schatten mit seinem Ursprung in Zusammenhang gebracht werden kann. Solche einschneidenden und unverarbeiteten Erfahrungen werfen Schatten, sodass die weiterlaufende Lebensgeschichte an wichtigen Stellen abgedunkelt ist, wo sie nicht bewusst erinnert werden kann. Es sind nicht die vergessenen Banalitäten, die solche Bruchstellen bewirken, sondern die Ereignisse, die das innere Erleben umgestaltet haben, sodass es ein Leben vorher und ein anderes nachher gibt. Sie ragen wie Fragezeichen aus dem Strom der vergangenen Erfahrungen heraus. Es ist, als ob die Erzählung eine zensurierte Stelle hätte, an der nicht mehr entziffert werden kann, was dort geschehen ist. Diese Stelle ist von Angst umzingelt, wie von einer unüberwindlichen Mauer, und man weiß hächstens, dass hinter ihr etwas Schlimmes lauert.

Die Traumaheilung besteht darin, dass diese Lücke geschlossen wird, indem die abgespaltene Erfahrung für das Wiedererleben geöffnet wird. Die Erzählung kann vervollständigt werden. Damit entsteht ein stimmiger Sinnzusammenhang, Teile fügen sich in ein Bild oder in eine Gestalt zusammen. Es tritt zunehmend eine Aufhellung in der Traumaumgebung ein, die meist längere Zeit in Anspruch nimmt.

Das Sprechen hilft bei der Rekonstruktion. Das Erzählen der Geschichte ist auf Sprechen und Gehörtwerden ausgerichtet. Wir erleben Sinn, wenn sich Zusammenhänge bilden, die uns einleuchten, die etwas erhellen, was vorher im Dunkeln war. Das Gespräch dient als Erneuerung und Vervollständigung der Erzählung, die an einem Punkt unterbrochen wurde, weil das Leben in seinem Fließen an diesem Punkt unterbrochen wurde.

Das Gespräch liefert das Modell für die narrative Rekonstruktion. Es muss die Kontinuität des Lebens nicht im Detail wieder hergestellt werden, es muss also nicht jede Einzelheit neu erzählt werden, es genügt das Modell. Dadurch, dass Licht ins Dunkel gedrungen ist, liegt alles offen und klar, und die Erzählstränge können von allen Seiten an das Ereignis andocken. Die Kontinuität ist nicht nur linear hergestellt, sondern auch in einem zusammenhängenden Netz von Sinnbezügen.


Wirkung auf das Gehirn


Das Modell der Rekonstruktion ermöglicht die Integration von rechtshemisphärischen Strukturen, wie sie in der Narration wirksam sind, und von linkshemisphärischen Elementen, die abstraktere Sinnbeziehungen vom Typus der Erklärung erlauben. Erklärt ist ein Ereignis, wenn seine Bedingungen und seine Ablaufstruktur verstanden werden kann, wenn also die Logik des Ereignisses rekonstruiert werden kann.

Integriert werden auch die „heißen“ und „kühlen“ Teile des limbischen Systems unseres Gehirns. Damit werden zwei für unser emotionales Gedächtnis wichtige Zentren in Verbindung gebracht, sodass implizite und explizite Erinnerung zusammenfinden. Dafür ist wichtig zu wissen, dass jede Stresserfahrung  in zwei Reizverarbeitungs- bzw. Speichersystemen unseres Gehirns parallel bewertet wird: im „kühlen“ Hippocampus und in der „heißen“ Amygdala.

Die Amygdala bildet eine Art Frühwarnsystem. Sie ist entwicklungspsychologisch früher angelegt (3. Monat der Schwangerschaft) und funktioniert schneller und primitiver als der Hippocampus. Sie stellt unser implizites Gedächtnis mit fragmentarischer Speicherung der komplexen Stressreize dar, ohne Raum-Zeit-Zuordnung (also auch ohne biographische Zuordnung). dabei wird das Broca-Sprachzentrums abgekoppelt und die Verbindung zum Thalamus, der darüber entscheidet, was zum Bewusstsein gelangt, unterbrochen. Es gibt also in der Amygdala keine Grundlagen für verbale Ausdrucksmöglichkeiten und für eine narrative Verarbeitung.

Demgegenüber regelt das „kühle“ Hippocampus-System das später entwickelte (2.-3. Lebensjahr), zeitlich geordnete, explizite Gedächtnis. Dort werden Informationen sprachlich ausdrückbar, episodisch geordnet, kognitiv überprüfbar und weniger emotional aufgeladen verarbeitet und gespeichert. Der Hippocampus ist eng verbunden mit dem Broca-Sprachzentrum und dem Thalamus.

So  verbleiben Traumata durch Überflutung mit Stress und durch die „Abschaltung“ des Hippocampus („peritraumatische Dissoziation“) im „heißen Speicher“. Sie können also nicht zu einer abgeschlossenen Geschichte werden, deren Anfang, Verlauf, Ende und Bedeutung der betreffenden Person bewusst sind.  Deshalb sind die so abgespeicherten Traumafragmente jederzeit durch Reize, die an die ursprüngliche Erfahrung erinnern, von außen auslösbar. Es wird dann eine für die gegenwärtige Situation der Person inadäquate körperliche Flucht- oder Kampfbereitschaft oder auch Erstarrungsreaktion ausgelöst. Erleben und Verhalten können dadurch stark beeinflusst und verzerrt werden, oft ohne dass für die betreffende Person der Zusammenhang zwischen der damaligen Situation und den irritierenden, ängstigenden Sinneseindrücken oder Veränderungen der Wahrnehmung und Reaktionen in der Gegenwart ersichtlich ist.

Die rekonstruktive Erzählung bettet die isoliert in der Amygdala abgelegte Traumaerfahrung in einen kognitiven Zusammenhang ein und nimmt ihr damit die destruktive Wirkkraft, die sie durch das Auslösen von unspezifischen Ängsten ausüben kann. Worüber wir reden und erzählen können, brauchen wir keine Angst zu haben.


Weiterführende Informationen zur Gehirntheorie

Vgl. Erzählend sind wir und erzählt
Die erzählte Geschichte und der Moment 

Freitag, 5. Dezember 2014

Die seelischen Trümmer der NS-Erziehung

Der zweite Weltkrieg hat eine Spur der Verwüstung in den Seelen hinterlassen. Gebrochene und traumatisierte Männer, die dann Väter werden, erschöpfte und ausgelaugte Frauen, die Mütter werden, bekommen Kinder, die all diese Lasten als Gepäck fürs Leben mitbekommen. Dort, wo sie nicht aufgearbeitet werden, plagen sie noch die Enkelgenerationen.

Dazu muss auch in Betracht gezogen werden, wie die Kindererziehung in dieser Zeit durch die NS-Ideologie geprägt wurde – ein weiteres düsteres Kapitel aus dieser Schreckenszeit.

In dem Buch „Seelische Trümmer“ von Bettina Alberti findet sich der Hinweis auf einen Erziehungsratgeber, der die Grundzüge der nationalsozialistischen Vorstellungen für den Umgang mit Kindern den Eltern vorgibt und damit Mitschuld trägt an tausendfacher emotionaler Misshandlung und Entwicklungstraumatisierung. Das Buch von Johanna Haarer heißt „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, ist 1934 erschienen und erreichte bis Kriegsende eine Gesamtauflage von 690 000 Exemplaren, empfohlen vom „Völkischen Beobachter“.

Alberti schreibt zu den bindungspsychologischen Aspekten, die das Buch empfiehlt:

•    „möglichst wenig physische Nähe zwischen Mutter und Kind von Geburt an,
•    größtmögliche emotionale Distanz,
•    Beschränkung auf die notwendige Versorgung des Kindes in seinen physiologischen Bedürfnissen wie Hunger und Sauberkeit,
•    Missachtung der Bedürfnissignale von Babys, die sie durch Schreien und Wimmern zu äußern in der Lage sind."(Alberti, S. 153)


Dazu ein Zitat von Johanna Haarer: „Liebe Mutter, (…) fange nur ja nicht an, das Kind aus dem Bett herauszunehmen, es zu tragen, zu wiegen, zu fahren oder es auf dem Schoß zu halten, es gar zu stillen, wenn es das möchte. Das Kind wird nach Möglichkeit an einen stillen Ort abgeschoben, wo es allein bleibt, und erst zur nächsten Mahlzeit wieder hervorgenommen.“


Sie empfiehlt der Mutter, den Säugling so weit weg von sich zu halten, dass er nicht auf ihre Augen fokussieren kann und so einen sicheren und beruhigenden Blickkontakt aufbauen kann. So, als hätte sie intuitiv die Ergebnisse der Bindungsforschung erkannt, propagiert sie alles, was dazu dient, dass die Beziehung zwischen Mutter und Kind von Anfang an gestört oder sogar zerstört wird.

Es ist klar, dass eine derart herzlose und kinderfeindliche Pädagogik nur von jemandem vertreten werden kann, der selber eine traumatisierte Kindheit hatte. Das entschuldigt nicht den massiven Schaden, der angerichtet wurde. Dass viele Eltern diese Erziehungsmaximen zu ihren eigenen machten, kann auch nur an ihrer traumatisierten Kindheit liegen und entschuldigt sie auch nicht.



Totalitarismus von Anfang an


Der totalitäre Anspruch des Regimes wird bis in die Säuglingsstube hinein ausgedehnt. Von Anfang an muss sich das Menschenwesen unterordnen. Dazu wurden die Eltern manipuliert: "Die Angst, das Kind sonst nicht mehr lenken zu können, wurde den Eltern systematisch ins Bewusstsein gepflanzt. Das Kind sollte möglichst früh lernen, die Welt in Befehlshaber und Gehorchende einzuteilen." (Alberti, S. 155)

"Die Selbstständigkeit des Kindes bestand in der freiwilligen Befolgung von Befehlen der Erwachsenen. Auch diese Maxime gab es noch häufig in den 50er- und 60er-Jahren. Selbstständigkeit war  nicht eigenes Wahrnehmen, Denken und Fühlen, sondern Gehorchen aus freiem Willen. (…) Dadurch gehörte der innere Schmerz der inneren Leere unvermeidbar zum Leben dazu. An viele Kinder der in den 50er- und 60er-Jahren Geborenen wurde dies unreflektiert von ihren bindungstraumatisierten Müttern und Vätern weitergegeben. Die Suche nach Erlösung aus innerer Einsamkeit, aus Schuldzuweisung und Versagen, aus dem Bemühen, liebenswert zu sein und es besser zu machen, kennen viele der heutigen Erwachsenen." (Alberti, S. 157)

Erstaunlicherweise wurde die letzte Auflage dieses autoritären Erziehungsratgebers 1986 gedruckt, dessen Quintessenz in folgendem liegt: in "der konsequenten Nichtbefriedigung früher Bindungsbedürfnisse, der Missachtung und Verleugnung der Seele von Kindern und Jugendlichen, daraus folgender Erzeugung eines schmerzlichen seelischen Hungers, der nach Erlösung suchte, und der Überführung der Sehnsucht in ein Kollektiv, das Halt, Geborgenheit und Anerkennung endlich zu geben versprach." (Alberti, S. 163)

"Funktionieren blieb ein Wert, der die Kriegskinder-Generation in ihrem viel zu frühen Erwachsenwerden gebunden hielt." (Alberti, S. 171)

Damit erkennen wir eine wichtige Wurzel des Funktionsmodus, der unsere Zeit tief imprägniert hat. Von Anfang an wird gezielt an dem Aufbau von chronischem Stress gearbeitet, der die Grundlage für eine Haltung bildet, die nur in der richtig erbrachten Leistung eine Überlebenschance sieht.

Offensichtlich haben die Nationalsozialisten diese Maschinisierung des Menschen nicht erfunden. Sie knüpften an eine Tradition der Instrumentalisierung der Kinder an, die weit in der Geschichte zurückreicht und eine besondere Verschärfung durch das militarisierte Preußentum erfahren hat. Der Nationalsozialismus hat sie mit der Verachtung von Minderheiten und der konsequenten Vorbereitung auf einen Vernichtungskrieg verbunden.


Literatur:
Bettina Alberti: Seelische Trümmer. Geboren in den 50er und 60er Jahren: Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas. München: Kösel Verlag 2010
Gregor Dill: Nationalsozialistische Säuglingspflege. Eine frühe Erziehung zum Massenmenschen. Stuttgart: Enke 1999
Sigrid Chamberlain: Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. Gießen: Psychosozial 2000

Donnerstag, 4. Dezember 2014

Die Idee der Inkarnation und die allgemeine Vernunft

Viele ungeprüfte Annahmen erzeugen viele Ungereimtheiten um das Konzept der bewussten Inkarnation, also der Vorstellung, dass sich die Seele, bevor sie in der Empfängnis körperliche Form annimmt, für das Leben, das sie auf sich nimmt, bewusst entscheidet. Im vorigen Blogbeitrag zu dem Thema wurde versucht, die Spuren des Egos in diesem Konzept aufzuspüren und die praktischen Folgen zu erörtern, die mit der Verantwortungsübernahme aus einer angeblich bewussten Entscheidung verbunden sind.

Die ätherische Mega-Verantwortung


Das Modell der Bewusstseinsevolution kann nützlich sein, um die Ebenen der Modellbildung besser verstehen und zuordnen zu können. Die persönlicher Verantwortungsfähigkeit, die der Seele vor der Empfängnis zugesprochen wird, ist ein Leitthema der personalistischen Stufe der Bewusstseinsevolution. Dort ist die Idee maßgeblich, dass jeder Mensch die umfassende Verantwortung für sein Leben übernehmen soll. Allerdings gehört auch die Einsicht dazu, dass diese Verantwortung nur schrittweise altersgemäß aufgebaut und übernommen werden kann. Ein Kleinkind kann nicht im gleichen Maß für sein Leben Verantwortung übernehmen wie ein Erwachsener, und noch weniger gilt das für einen winzigen Embryo. Auf der personalistischen Ebene lernen wir also zu unterscheiden, welches Ausmaß an Verantwortung einem bestimmten Menschen in einer bestimmten Situation zugemutet werden kann.

Die nächste, systemische Stufe des Bewusstseins relativiert dann schon die Bedeutung der Verantwortung und des freien Willens. Systemisch betrachtet, wird klar, dass es keine absolute Verantwortung für das eigene Leben geben kann. Denn es ist eingewoben in umfangreiche und weitreichende Zusammenhänge, Motive, Rücksichten, Einflüsse, Prägungen usw., die die Spielräume unserer Entscheidungen so eng halten, dass sich unsere Entscheidungsfreiheit in der Praxis ziemlich bescheiden ausnimmt.

Bei der Rückprojektion auf einen vorgeburtlichen Zustand wird dagegen im Modell der bewussten Inkarnation die höchstmögliche Form der Verantwortung angenommen, die auch notwendig ist, wenn eine Entscheidung von solcher Tragweite wie die über das eigene Lebensschicksal gefällt werden soll. Nie wieder im Leben stehen wir vor einer solchen Entscheidungssituation, nicht einmal dann, wenn wir überlegen, unserem Leben ein Ende zu setzen. Denn da ist ja vorher schon einiges passiert. Und wenn wir zu dieser Frage die Literatur zu Hilfe nehmen, sehen wir etwa bei Dostojewski, welch furchtbares inneres Ringen um die Entscheidung zum Selbstmord entsteht (z.B. im Roman „Die Dämonen“). Wir sind völlig überfordert, wenn wir uns vorstellen, über das, was wir sind, eine Entscheidung über Sein oder Nichtsein zu treffen. Deshalb ist es immer eine Form der Verzweiflung, der emotionalen Verwirrung, die dazu führt, Hand an sich zu legen. Ob also jemals ein „Freitod“ aus einer „wirklich“ freien Entscheidung gefällt wurde, ist äußerst fraglich.

Woher jedoch soll diese kristallene Klarheit in der Situation vor der Empfängnis kommen, mit der sich eine Seele in voller Freiheit entscheiden müsste, ihr zukünftiges Schicksal in der ganzen Last der Verantwortung, für die volle Länge und für alle Details, auf sich zu nehmen? Nie mehr sonst im Leben kommen wir in eine solche Lage, und deshalb entwickeln wir auch nie die Kompetenz, die wir für eine derartige weitreichende und umfassende Entscheidung benötigen würden.

Wie kommen wir überhaupt auf die Idee einer solchen Entscheidungsklarheit und Entscheidungsmacht? Es ist unser assoziatives Denken, das die Möglichkeit einer derartigen Entscheidungsfähigkeit entwerfen kann, ohne dass es dafür jemals die praktischen Grundlagen geben muss. Mit unserer Fantasie verfügen wir über die Macht, uns Dinge auszudenken, die nie in Wirklichkeit passiert, praktisch ausgeschlossen sind und auch wahrscheinlich nie eintreten werden. Unter der Leitidee der Perfektion verpassen wir uns selber in dieser fantasierten Rückprojektion eine gottähnliche Macht: Was wir teilweise und fehlerbehaftet in unserem realen Leben beherrschen, können wir uns als Ideal in vollkommener Form vorstellen und ausdenken, auch wenn wir es in der Realität nie verwirklichen können. Wir können uns auf diese Weise auch die Allmacht Gottes und weitere andere Attribute des höchsten Wesens vorstellen und ausdenken, ohne dass wir für uns selber je eine Verwirklichung dieser Macht erlebt hätten. Wenn wir uns eine solchen Macht im realen Leben selber anmaßen, werden wir schnell (und zu Recht) als größenwahnsinnig eingeschätzt. Wenn wir sie auf die Anfänge unseres Lebens rückprojizieren, können wir jedoch in esoterischen Kreisen mit „spiritueller Weisheit“ punkten.

Angesichts der Frage einer vor der Empfängnis wirksamen Entscheidungskompetenz und -intelligenz legt sich ein ätherischer Schleier über die Klarheit des Denkens. Dafür brechen sich die unterschwelligen Antriebe ihre Bahn, die uns größer machen wollen, als wir sind, weil wir uns so klein und ohnmächtig fühlen. Sie prägen zu diesem Zweck die Vorstellung der makellosen und übermächtigen Seele, wie sie vor dem Anfang einer Lebensbahn steht und heroisch die umfassendste Entscheidung trifft, die jemals getroffen wird. Damit brauchen wir uns nie mehr mit unserer inneren Kleinheit und all den Gefühlen der Ohnmacht auseinandersetzen, die wir aus vielen Erfahrungen unseres Lebens angesammelt haben.


Die Realität vor der Fantasie


Was ist die Realität vor der Fantasie? Millionen Samenzellen streben zu einer Eizelle, und im günstigen Fall kommt es zur Vereinigung und zur Entstehung neuen Lebens. Es entsteht ein Embryo, winzig klein (0,1 mm), kaum differenziert, wenig Ressourcen, der Umgebung ausgeliefert auf Gedeih und Verderb, mit einer minimalen Überlebenskompetenz.

Da braucht es niemanden, der entscheidet, da hat keine Verantwortung Platz, sondern es ist die Übermacht des biologischen Prozesses, die hier das Sagen hat. Solche Vorgänge finden in der Natur permanent statt. Braucht es eine Seele, die sich bewusst entscheidet, in eines von fünf Katzenbabys zu schlüpfen? Braucht es eine Seele, die in eine der Tausenden Moskitolarven schlüpft, die sich in eine Lacke tummeln?

Bei vielen befruchteten Eizellen bestimmt die Natur einen frühen Tod, bei anderen, dass sie wachsen und reifen können. Um diese Zusammenhänge verstehen zu können, braucht es keine vorab getroffenen Entscheidungen, keine Übernahme von Verantwortung, keine Schuld und keine Rechtfertigung. Verantwortung setzt voraus, dass es Ressourcen der Selbststeuerung gibt und dass Alternativen zur Verfügung stehen. Bei der minimalen Handlungskompetenz, über die jedes ungeborene Leben verfügt, ist kaum ein Verantwortungsspielraum vorhanden.


Geist über Natur


Vielleicht ist es gerade dieses enorme Ausgeliefertsein, das unsere Anfänge kennzeichnet und das in der Funktionsweise der Natur begründet ist, das uns dazu motiviert, eine seelische Macht in diese Situation hineinzuprojizieren, die all das inszeniert hat? Vielleicht ist es unser Narzissmus, der nicht zugeben will, dass unser Leben immer schon einer größeren Macht ausgeliefert war? Bezeichnenderweise ist die Idee der bewussten Inkarnation im 19. Jahrhundert entstanden, in der Zeit, in der viele Menschen vom Überschwang der grenzenlosen Beherrschung und Kontrolle der Natur durch Wissenschaft und Technik begeistert waren. Wenn wir als Menschheit der Natur unseren Willen aufzwingen können, kann es doch nicht sein, dass unser eigener Beginn dem Gutdünken der Natur unterworfen ist. Auch hier muss der menschliche Geist der Natur übergeordnet werden.
 

Ist das nicht ziemlich unfair?


Weiters könnte man noch fragen, wie dann der Körper, dieses reine Naturprodukt, dazukommt, die Last dieser Entscheidung zu übernehmen, die ihm die Seele aufbürdet? Schließlich leidet er genauso unter den Schwierigkeiten des Lebens, zu dem sich die Seele entschieden hat. Ein unfaires Bündnis, das er da mit dieser Seele im Moment seiner Entstehung eingeht, eingehen muss, gewissermaßen im schwächsten Moment über den Tisch gezogen, oder  schon mit einer Hypothek belastet, sobald es los geht, ohne selber die Chance zu haben, ja oder nein zu sagen. Anschließend, für den Rest des Lebens, kann er gemeinsam mit der Seele die Suppe auslöffeln, die sie ihm eingebrockt hat.

Aber wer fragt einen Körper, wenn doch der Geist der Materie überlegen ist? Vielleicht ist der Geist nur deshalb überlegen, weil er überlegen sein will, weil er nicht akzeptieren kann, dass er nur ein Partner des Körpers ist?

Schließlich fragt sich der gemeine Menschenverstand, was in einer Seele vor sich geht, wenn sie sich bewusst entscheidet für ein Leben, das sie schon vor sich sieht: Mühsal, Armut, Probleme ohne Ende? Wer würde sich da frohen Mutes und voll Begeisterung auf ein solches Abenteuer einlassen? Würden sich nicht alle diese Seelen, die da zu einem bestimmten Zeitpunkt inkarnieren wollen, erst einmal um die knappen Startplätze für die Wohlstandsoasen der Welt streiten, sodass nur die, die ihre Ellbogen schlechter einsetzen können, dann die Masse der Elendsinkarnationen übernehmen müssen? Wie anders als ein wildes Gerangel können wir uns den Selektionsprozess vorstellen: Wer kriegt die Generaldirektorsfamilie, wer die alleinerziehende Supermarktverkäuferin, und wer den Slumbewohner in Bangla Desh?

Krass gesagt: Wie blöd muss so eine Seele sein, wenn sie, wohlgemerkt im vollen Wissen, was ihr blühen wird, ein mieses Leben mit minimalen Möglichkeiten und Chancen wählt, vorauswissend, was da alles schiefgehen wird und was alles fehlen wird, von dem die Nachbarseele, die clever in die Kreise der lucky few inkarniert, im Überfluss haben wird? Schwach dagegen ist das Argument, dass ja jedes Leben seine Herausforderungen hat und sich auch die Prinzessin schwertun kann, ihr Lebensglück zu finden, wenn unter der Matratze eine Erbse versteckt ist.

Dazu fällt mir Otto Waalkes ein: „Neulich besuchte ich einen Freund, einen Millionär. Der glaubte, der unglücklichste Mensch zu sein, weil ihm sein Rasierpinsel ins Klo gefallen war. Da nahm ich ihn beiseite und sprach: ‚Freilich bist du übel dran, dass dir dein Rasierpinsel ins Klo gefallen ist. Aber es gibt Leute, die sind viel schlechter dran als du. Die haben noch nicht einmal einen Bart!‘ Da fiel es ihm wie Schuppen aus den Haaren.“ („Das Wort zum Montag“)

Da hat offenbar eine Seele vor ihrer Inkarnation übersehen, dass auch ein Millionärsleben seine täglichen Dramen zu bewältigen hat, und sie könnte deshalb für das nächste Leben vielleicht für bengalischen Straßenkehrer optieren.


Holistisches Verständnis


Die Theorie, dass alles, so wie es geschieht, in sich einen Sinn trägt, und dass es gut ist, wenn wir es so akzeptieren, wie es kommt, können wir erst auf der holistischen Bewusstseinsstufe verstehen und verwenden. Wird dieses Konzept auf einer vorherigen Stufe der Evolution angewendet, stiftet es Verwirrung und verschiebt die Gewichte der Verantwortung. Das wäre so ähnlich, wie wenn eine Mutter zu ihrem Kind, das sich verletzt hat und weint, sagt, dass das genauso hat kommen müssen, wie es kommt, und dass es, statt zu jammern und zu klagen, akzeptieren soll, was ist. Ein Kind muss erst in seinen Gefühlen verstanden, unterstützt und getröstet werden, dann kann es irgendwann einmal selber zu der Einsicht kommen, dass alles, was passiert, seinen Sinn und seine Berechtigung hat.

Mit dieser Einstellung kommen wir in Frieden mit uns und unserer Umgebung. Zu dieser Einstellung kommen wir, indem wir uns durch die Themen durcharbeiten, die wir nicht so akzeptieren können, wie sie sind. Es hilft dabei nicht, die Beschwernisse und Belastungen unseres Lebens durch vorexistenzielle Konstruktionen zu beschönigen und uns zusätzlich noch die Verantwortung für unsere Existenz von Anfang an aufbürden.

Das holistische Bewusstsein lehrt uns, dass die Wahrheit einfach ist. Es zeigt uns, wie befreiend es ist, Konzepte und Modelle loszulassen, die uns, auch wenn wir ihnen vertraut haben und uns an sie gewöhnt haben, eigentlich Ballast und Hindernis auf unserer Innenreise sind. Da kann es helfen, diese Modelle von verschiedenen Seiten zu betrachten und auf unterschiedliche Erfahrungsebenen zu beziehen. Dann erkennen wir ihre Willkürlichkeit und Relativität und können leichter auf sie verzichten, was uns im Sinn dieser Bewusstseinsstufe hilft, mehr im Fließen des Moments zu sein.


Vgl. Das Modell der Inkarnation und die praktischen Konsequenzen

Montag, 1. Dezember 2014

Das Modell der Inkarnation und die praktischen Konsequenzen

Ein zentrales Element des christlichen Glaubens besteht in der Inkarnation = „Fleischwerdung“ Gottes als Jesus Christus (vgl. Katechismus 463) ("Das Wort ist Fleisch geworden", Joh 1,14). Gott gibt sich eine menschliche Form, um den Menschen zu zeigen, dass sie das Göttliche in sich finden können.

Der ursprünglich theologische Begriff der  Inkarnation wurde in manchen esoterischen Anschauungen auf den Eintritt der Seele in die befruchtete Eizelle bei der Empfängnis übertragen. Dabei spielt die Vorstellung eine Rolle, dass die Seele vorher an einem anderen „Ort“ weilt und sich dort zur Inkarnation entscheidet. Ausgestattet mit der Fähigkeit zur Präkognition, weiß die Seele, was sie erwarten wird, die Mutter, den Vater und die weitere Lebensgeschichte mit all den Schicksalsmomenten. Die Entscheidung zur Inkarnation wird also im Wissen um die Konsequenzen getroffen, für die die Seele dann auch die Verantwortung übernimmt.

Soweit diese Vorstellung, die in der modernen Esoterik weit verbreitet ist, z.B. bei Ralph Metzner. Er sieht den Lebenszyklus zusammengesetzt aus den Stationen: Inkarnation, Empfängnis, Geburt, Tod, das Leben danach und Reinkarnation usw.

Dieses Konzept beruht auf einer Reihe von Voraussetzungen:
1.    Es gibt eine Trennung von Leib und Seele, die ab der Empfängnis auf Lebenszeit aufgehoben wird.
2.    Die vom Körper getrennte Seele verfügt über ein detailliertes Vorauswissen, was das weitere Leben anbetrifft.
3.    Sie ist in der Lage, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen, sie verfügt also über Kompetenzen, die erst im Erwachsenenalter wieder erlangt werden.
4.    Mit der Empfängnis, also mit dem "Eintritt" in den Körper, gehen diese Fähigkeiten schlagartig verloren und werden langsam und mühsam im Lauf des weiteren Lebens zumindest teilweise wieder erworben. Die Seele verfügt also über die Fähigkeit, ihre eigenen Fähigkeiten zu verlieren, um sie dann wieder vom Neuen mühsam zu erwerben, allerdings in viel mangelhafterer Form.


Abwertung des Körpers


Das Inkarnationsmodell enthält eine abgestufte Wertung von Körper und Seele: Die Seele wird als reif, klar und integer vorgestellt, während der Körper über keinerlei besondere Qualitäten verfügt, sondern ganz bei Null beginnt und langsam seine Form aufbaut, die dann irgendwann wieder zugrunde geht. Er ist auch der Bösewicht, der der Seele zunächst wegnimmt, was sie an Kompetenzen hat, sodass sie wieder von ganz vorne beginnen muss. Hier passt die Vorstellung vom Gefängnis Körper, in das die Seele bei der Inkarnation hineinschlüpfen muss, alles hinter sich lassend, was sie auszeichnet. Es handelt sich dabei um eine Weiterführung von manichäischem Gedankengut, das als Körperabwertung und -verachtung in das frühe Christentum eingedrungen ist und weite Verbreitung gefunden hat.


Praktische Konsequenzen


Was sind die Konsequenzen dieser Annahmen? Ist das Modell in einer lebenspraktischen Hinsicht hilfreich oder nützlich? Ihre Vertreter weisen darauf hin, dass es zu einem Ende der Beschuldigung beitragen und zur Verantwortungsübernahme motivieren kann: Ich muss mich selber um mein Schicksal kümmern und kann mich nicht ausreden auf meine schlechte Kindheit und überhaupt auf die widrigen Umstände in der Welt, sondern muss die Verantwortung für mein Leben selber tragen. Ich muss erkennen, dass ich von Anfang an mein Leben so gewollt habe, wie es dann geworden ist. Ich kann deshalb niemandem Vorwürfe machen und habe die gesamte Verantwortung für alles zu tragen, was mir das Leben beschert.

Also nimmt das Konzept dem Opfer die Grundlage dafür, das Opfer sein zu können. Das mag insofern hilfreich sein, als die Opferhaltung die eigene Lebenskraft schwächt und abhängige Beziehungen schafft. Menschen sollen sich selbstbewusst und nicht als Opfer fühlen.

Der Haken an dieser Argumentation ist, dass die Befreiung aus der Opferrolle am falschen Ort ansetzt. Denn das Modell verwandelt das Opfer in den Täter: Es mutet sich zu, Täter an sich selbst zu sein. Denn es hat sich für das eigene Leid entschieden. Wenn das Opfer zum Täter wird, bleibt es an die Opferrolle gebunden.

Was ganz offensichtlich ist: Kinder haben nicht die Verantwortung, wenn sie misshandelt oder missbraucht werden, wenn sie vernachlässigt und manipuliert werden. Die Erwachsenen, die es besser wissen müssten, tragen hiefür die Verantwortung, und sie ist ihnen auch zuzumuten. Oder ist es hilfreich, wenn Eltern ihren Kindern, denen sie vieles schuldig geblieben sind, erklären, dass sich diese das selber ausgesucht hätten, also sich bei sich selber beschweren müssten? Wenn ihnen was nicht gepasst hat, hätten sie sich ja auch andere Eltern aussuchen können. Das klingt ja wie blanker Zynismus.

Dennoch: Die Vorstellung der bewussten Inkarnation verlangt diese Einstellung, und alle Täter in der schwarzen Pädagogik sind damit entschuldigt, überhaupt alle Missetäter und Verbrecher dieser Erde bekommen da ihren Persilschein. Schließlich hat sich jedes Opfer einer Gewalttat, einer Ungerechtigkeit und Gemeinheit vor der Inkarnation genau dafür entschieden, und so hat es kommen müssen. Alle Beschwerden sind zwecklos.


Der Ausweg aus der Opferrolle


Um die Schmerzen aufarbeiten zu können, die durch Verletzungen in der Kindheit und noch früher entstanden sind, muss die Beziehung zwischen Täter und Opfer klar und unmissverständlich sein: Hier ist der Täter, hier das Opfer. Beim Täter liegt die Verantwortung, das Opfer trägt das zugefügte Leid. Wenn das klargestellt ist, kann die Wut, die die natürliche Reaktion auf eine Schlechtbehandlung darstellt und in der Kindposition oft nicht ausgedrückt werden durfte, zu ihrem Recht kommen. Ohne das Zulassen der Wut kann der Schmerz nicht voll empfunden werden, und ohne das Durchleben des Schmerzes können die Wunden nicht geheilt werden.

Wenn also die Verantwortung für etwas übernommen wird, wo es noch keine Verantwortung geben kann, werden nur die eigentlichen Täter, die Erwachsenen, geschont, ohne dass es zu einer wirklichen Versöhnung kommen kann. Nur wenn die Verantwortung dort gelassen wird, wo sie hingehört, kann es zu einer Verarbeitung in der Tiefe kommen. Natürlich ist das Ziel nicht, Schuld zuzusprechen und daran festzuhalten. Wenn die Wut und der Schmerz durchgespürt werden konnten, besteht kein Bedürfnis mehr, die Erwachsenen als Schuldige zu benennen und anzuklagen. Es wächst dann, aber erst dann, das wirkliche seelische Verständnis dafür, dass die, die einem selber etwas angetan haben, so handelten, weil ihnen in ihrer Lebensgeschichte selber etwas angetan worden war. 


Vgl. Die Idee der Inkarnation und die allgemeine Vernunft

Sonntag, 30. November 2014

Das Ego und die Dualität

Das Ego ist aus Trennung und Abspaltung entstanden. Es hat sich als Retter aus einer frühen Traumatisierung entwickelt und sieht sich hinfort als Beschützer vor weiteren negativen Erfahrungen. Es entwickelt in dieser Rolle eine eigene Strategie, die sich aus der Struktur der Traumaverarbeitung auf der Gehirnebene ableitet und auf ihr beruht. Wir können also davon ausgehen, dass das Ego ein eigenes neuronales Netzwerk im Gehirn aufbaut und sich aus seiner Aktivität immer wieder selbst bestätigt.

Um seinen Bestand zu wahren, muss es implizit sagen: Ich bin traumatisiert und ich will, dass das so bleibt. Ich will also nicht geheilt werden. Denn damit wäre ich überflüssig. Also arbeite ich daran, dass alles so bleibt, wie es ist. Therapeuten kennen dieses Phänomen unter dem Namen Widerstand.

Das Ego, das aus Abtrennung entstanden ist, bestätigt sich selber andauernd, indem es überall im Außen und im Innen Trennungen erschafft. Seine Spezialitäten sind das Vergleichen, das Abwerten, das Kritisieren, das Betonen der Unterschiede. Überall, wo es Dualitäten erschaffen kann, fühlt es sich sicher. Sein Prinzip ist es, Zwietracht zu säen. Wo Einheit ist, soll Dualität sein. Denn nur im Dualen hat das Ego eine Existenzberechtigung.

Liebe, das Prinzip der Verbindung, wird vom Ego in Konzepte gegossen und so handhabbar gemacht. Liebe ist, wenn … jemand meine Bedürfnisse erfüllt, jemand mir nicht widerspricht, jemand nur für mich da ist, wenn ich gebe, damit ich genug bekomme usw. Die Konzepte der Liebe werden vom Ego als Erweiterung seiner Ansprüche und Komplexe verwendet. Ein typischer Spruch aus der Egoperspektive: „Liebe ist schwer zu finden, schnell verloren und hart zu vergessen.“

Das Ego vermag es auch, eine eigene Form der Einheit und Vollkommenheit zu fantasieren, die als Sehnsucht in einen illusionären Ort hineinprojiziert wird: Das Schlaraffenland, Shangri La oder Avalon. Oder eben: Das paradiesische Leben nach dem Tod. Solche Illusionen dienen nichts anderem als der Befestigung der Dualität: Nicht hier und jetzt, sondern irgendwann einmal wird alles gut sein.


Vgl. Theologie und Mystik zur Frage nach dem Weiterleben
Das Ego und die Idee der Unsterblichkeit
Das Ego und seine Wurzeln

Theologie und Mystik zur Frage nach dem Weiterleben

Im katholischen Glaubensbekenntnis ist von der Auferstehung der Toten und dem ewigen Leben die Rede. Nach traditioneller Theologie gibt es drei Orte des Weiterlebens: den Himmel, die Erde und das Fegefeuer, die je nach der moralischen Leistung im Erdenleben der Seele zugeteilt werden.

Die Kritik an dieser Auffassung, die etwa Karl Marx zu dem berühmten Zitat von „Religion ist Opium fürs Volk“ motivierte, bezieht sich vor allem darauf, dass die Religionen den Menschen ein besseres Leben nach dem Tod versprechen, sodass sie sich nicht über die ungerechten und unmenschlichen Lebensbedingungen aufregen müssen, unter denen sie jetzt leiden. Außerdem wird den Religionen vorgehalten, dass sie mit Hilfe von Angstmachen bzw. Verlocken die Menschen dazu bringen wollen, sich in einem gewünschten Sinn zu verhalten. Um nicht den Qualen der Hölle zu verfallen, sondern sich in Ewigkeit an den Genüssen des Himmelreiches gütlich tun zu können, mag es schon wert sein, sich sittsam und brav den Geboten von Gesellschaft und Religion unterzuordnen.


Die neuere Theologie


Um dieser Kritik zu entgehen, haben moderne Theologen versucht, die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele neu zu interpretieren. Sie sprechen vom Ziel des menschlichen Lebens in der Begegnung mit Gott nach dem Tod (Heinrich Tischner), die dem menschlichen Leben erst Sinn verleiht. Reinhard Körner meint: „Gott wird mich 'anschauen', mir zugewandt mit einer Liebe, wie ich mir das im schönsten Traum nicht vorstellen könnte.“ Körner schreibt auch, dass Gott den Menschen nicht zugrundegehen lassen könnte, wenn er ihn liebte, und deshalb muss es ein Weiterleben geben. Dietmar Mieth schreibt, es gehe darum, jetzt schon leben, was dann einmal sein wird.

Gemeinsam ist diesen Auffassungen die Idee, dass das Menschsein erst nach dem Tod seine Verwirklichung finden kann. Das, was jetzt nicht vollkommen ist, wird diese Vollkommenheit erlangen, wenn das Erdenleben zu Ende ist. Das Verheißene wird aufgeschoben auf eine Zukunft in einem anderen Seinszustand. Trotz der Betonung der Einheit von Seele und Körper tritt die Dualität spätestens nach dem Tod auf den Plan. Es verändert nichts, wenn von einer weiterbestehenden seelischen Identität gesprochen wird und wenn der sterbliche Körper von einem Leib unterschieden wird, der weiterleben kann. Seele und Psyche zu unterscheiden ist dann auch nur eine Spitzfindigkeit, letztlich ist klar: Vollkommenheit gibt es nur, wenn eines nicht mehr da ist, nämlich dieser physische Körper.


Der Materialist


Ein gestandener Materialist ist durch solche Überlegungen überhaupt nicht beeindruckbar. Er würde trocken sagen, dass es dieser physische Körper ist, der all die Ideen von Vollkommenheit, von Weiterexistenz, von Leib und Seele produziert hat. Das Ganze soll dann erst Wirklichkeit werden, wenn er, der Produzent, nicht mehr existiert? Das Fest findet erst statt, wenn der, der es sich ausgedacht und geplant hat, verschwunden ist – ziemlich unfair.


Die Atheistin


Die Atheistin würde dem Theologen entgegenstellen, dass ein Gott, der die Menschen so erschafft, dass sie unvollkommen und unglücklich das Leben in dieser Wirklichkeit durchleben müssen, um ihr Ziel in einer ungewissen, nur dem Glauben zugänglichen anderen Wirklichkeit zu finden, nicht von Liebe, sondern von Zynismus geleitet sein muss: Ein Gott, der sich zu irgendeinem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte diesen Menschen offenbart und ihnen mitteilt, dass sie nach nichts anderem streben sollen, als nach dem Tod mit ihm zusammenzukommen, um dort die wahre Liebe zu erleben. 


Der Mystiker


Anders argumentiert der Mystiker. Er weist darauf hin, dass das Leben immer im Moment vollzogen wird. Die Zukunft ist immer nur als eine Projektion des Denkens verfügbar, wird also auch immer im Moment entworfen. So ist auch die Vorstellung eines Weiterlebens nach dem Tod eine Wunschfantasie, die aus dem Nicht-Akzeptieren des gegenwärtigen Moments entspringt. Die Zukunft wird als das Bessere und die Gegenwart als das Schlechtere dargestellt. Damit findet eine Entfremdung und Abspaltung vom momentanen Erleben statt.

Der katholische Mystiker Willigis Jäger schreibt: “Die Religionen bestärken uns in dieser falschen Auffassung vom Leben, bieten uns Hoffnungsbilder an. Das Eigentliche - sagen sie - kommt erst noch. Im Himmel, später, nach dem Tod, dann kommt die heile Welt: Eine bessere Wiedergeburt, bis das Nirwana erreicht wird; Auferstehung, Himmel und ewige Seligkeit; Ausgleich für all das Gute und das Böse. Religionen leben von diesen Hoffnungsbildern. Hoffnungsbilder sind wichtig, weil der Mensch sonst der Sinnlosigkeit anheim fällt. Sie sind aber auch das letzte Bollwerk, hinter dem das Ich sich verschanzt, um seinen Fortbestand zu retten.” (S. 59)

„Der Sinn des Lebens liegt nicht darin, möglichst lange zu leben, sondern Augenblick für Augenblick zu leben.“ (S. 64) „Unsterblichkeit ist nur im Augenblick zu finden, oder sie ist überhaupt nicht zu finden.“ (66) (Zitate aus: Willigis Jäger: Das Leben endet nie. Über das Ankommen im Jetzt. Theseus Verlag, Bielefeld 2013)

Der Mensch, der sich in den gegenwärtigen Moment versenkt und seine Fülle wahrnehmen kann, hat den Sinn schon gefunden. Er wird keine Energie auf das Imaginieren einer noch besseren Zukunft oder auf das Wachrufen vergangener Zeiten verschwenden. Da in diesem Moment das Ganze des Lebens gegenwärtig ist, braucht es keine Unsterblichkeit oder keine Wiedergeburt, kein Paradies und keine Hölle.

Das Gefühl der Sinnlosigkeit, dem die Hoffnungsbilder als Therapeutikum dienen können, stellt sich ein, wenn der Sinn in der Vergangenheit oder in der Zukunft gesucht wird. Da es von beiden keine lebendige Erfahrung, sondern nur eine Erinnerung oder eine Fantasie gibt, hat der Sinn, der daraus gewonnen wird, nur eine schwache Basis, die jederzeit zusammenbrechen kann.

                     Willigis Jäger wurde übrigens 2001 seitens der katholischen Glaubenskongregation ein Rede-, Schreib- und Auftrittsverbot erteilt. In der Folge wurde ihm die Ausübung jeder öffentlichen Tätigkeit untersagt. Die offizielle Kirche hat wieder einmal einen Trennungsstrich zwischen sich und der Mystik gezogen, obwohl der Theologe Karl Rahner schon vor fünfzig Jahren prophezeite, „dass der Christ der Zukunft ein Mystiker sei oder nicht mehr sei.“

Kirchliche Theologie, Materialismus, Atheismus, Mystik – unterschiedliche Zugangsweisen zu den „letzten Fragen“ des Menschseins – und unterschiedliche Auffassungen über den Menschen und seine Stellung im Ganzen des Kosmos.

Theologe wird man durch Studium, Materialist und Atheist durch Nachdenken, Mystiker kann man nur durch Innenerfahrung werden. Oft haben Mystiker studiert und können gut nachdenken. Sie verbinden all das aber mit einer konsequenten inneren Suche und Erforschung, oft in Zusammenhang mit Askese und Ritualen. Jesus war 40 Tage in der Wüste, Buddha saß viermal sieben Tage unter den Bäumen, Muhammad zog sich in die Höhle Hira zurück. Mystiker überzeugen nicht durch Argumente, sondern durch ihre Persönlichkeit, die sich durch die Innenerforschung gereinigt und gewandelt hat. Sie zeigen durch ihr Beispiel, dass inneres Wachstum möglich und lohnend ist.

Freitag, 28. November 2014

Das Ego und die Idee der Unsterblichkeit

Wenn wir Spekulationen über das Leben nach dem Ende des Lebens verbreiten, sollten wir die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass wir damit einer Ego-Produktion Vorschub leisten. Das menschliche Ego ist, wie der Körper, zeitlich begrenzt und weiß um seine Grenzen. Es hat die Tendenz, jede Grenze, die ihm von der Umgebung auferlegt wird, zu überschreiten, im Bestreben, die eigene Beschränktheit zu überschreiten. Wir erkennen den typischen Egoisten daran, dass er die Grenzen anderer Menschen missachtet und die eigenen auf ihre Kosten ausweitet.

Hinter dem Größenstreben des Egos steckt das Wissen um die Begrenztheit, die es schwerfällt zu akzeptieren. Begrenztheit bedeutet etwas Größerem ausgeliefert sein, von ihm abhängig zu sein. Der Tod als dieses Größere muss vom Ego geleugnet werden. Da das Wissen um ihn nicht verleugnet werden kann, wird eine Zusatzkonstruktion ins Spiel gebracht, die seine Wirksamkeit teilweise außer Kraft setzt: Nur der Körper stirbt, die Seele bleibt.


Meister der Dissoziation 


Das Ego ist nach meiner Auffassung ein Ergebnis traumabedingter Dissoziation. Es entsteht, wenn eine schwierige und bedrohliche Situation nicht verarbeitet werden kann. Dann kommt es zu einer Spaltung, das Bewusstsein geht auf eine imaginäre Ebene und bildet dort die Strukturen des Egos aus. Trauma ist also die Wurzel des Egos.

Das Ego sieht sich deshalb als Beschützer vor Gefahren und übt damit die Macht über das organismische Fließen aus, das trotz aller Traumatisierungen weiter geht. Damit beginnt ein duales Leben – wir leben faktisch auf zwei Ebenen, weshalb wir in Dualitäten denken. Die eine wird vom Ego gelenkt und die andere von den Prozessen des Lebens. Wenn wir funktionieren, sind wir auf der Ego-Ebene, wenn wir leben auf der anderen.

Da das Ego aus Dissoziation entstanden ist und nur solange besteht, als es Dissoziation gibt, will es diese Spaltung um jeden Preis aufrecht erhalten. Deshalb liegt die Annahme nahe, dass es das menschliche Ego ist, das die Ideen vom Weiterleben nach dem Tod erzeugt hat und immer wieder weitergibt. Es suggeriert uns damit, dass wir keine Angst haben müssen vor der absoluten Grenze des Todes, weil es ja weiter existieren wird. Zusätzlich produziert es die Illusion, dass es in dem Jenseits, in das es dann eintreten wird, gar nicht mehr notwendig ist, weil da ja für alles gesorgt wird und keine Bedrohungen mehr bestehen. In christlicher Vorstellung z.B. betrachtet man das Antlitz Gottes in unendlicher Liebe, und alles andere ist belanglos. Das Ego verspricht gewissermaßen, sich zu verabschieden, aber erst eben, wenn es von diesem Körper befreit ist, in dem all die Traumen gespeichert sind.

Wir verstehen in diesem Zusammenhang sofort, warum der Körper in manchen leibfeindlichen Traditionen als Hort des Unreinen, Bösen und Schlechten abgewertet wurde. Es ist jedoch nur „Propaganda“ des Egos, das seinen eigenen Bestand damit rechtfertigen will. Zusätzlich kann es mit einiger Überzeugungskraft behaupten, zum Unterschied von diesem mangelhaften sterblichen Körper selber unsterblich zu sein. Es ist ja der Meister der Dissoziationen, und im Bereich des vom Lebensfluss abgespaltenen Bewusstseins ist das Vorspiegeln jeglicher Illusion leicht möglich.


Das Ego und seine Macht


Ein weiteres Lieblingsthema des Egos ist die Macht. Um seine Funktion ausüben zu können, muss es seine Machtbasis immer mehr aufbauen und absichern. Eine seiner Strategien liegt darin, trotzig die eigene Begrenztheit zu ignorieren. Deshalb tun wir uns so schwer zu akzeptieren, dass es eine unüberwindliche Grenze unseres Lebens und unserer Existenz gibt.

Es verletzt unseren Stolz als Geistwesen, aber auch unser Machtstreben, das uns dazu bringt, uns immer mehr zu bereichern und abzusichern. Soll all dieses Streben letztlich sinnlos gewesen sein, weil wir alles zurücklassen müssen? Da wir wissen, dass niemand seinen materiellen Besitz über den Tod hinaus retten kann, muss wenigstens die Seele erhalten bleiben.

Unter dem Mantel der Religiosität und Spiritualität versucht sich das Ego eine Zeitlosigkeit zuzulegen, weil es von der Vorstellung gekränkt ist, einmal seine Macht aufgeben zu müssen. Es will ewig leben. Es soll keine Macht geben, die ihm diese Ewigkeit streitig machen könnte.


Die Grenze des Wissens


Deshalb akzeptieren wir auch nicht, dass es eine unüberschreitbare Grenze unseres Wissens gibt. So viel wissen wir schon, und immer mehr Wissen wird erschlossen. Warum sollen wir uns gerade mit dieser Begrenzung zufrieden geben? Das, was weiß, kann nicht wissen, was ist, wenn es nicht mehr ist. Ein Auge kann nicht einmal sehen, wie es sieht, geschweige denn, wie es sähe, wenn es nicht mehr wäre. Alles, was wir wissen, sagt uns, dass wir nichts mehr wissen können, sobald die Grundlagen unseres Wissens, die in der lebendigen Aktivität des Gehirns und Nervensystems bestehen, zugrunde gegangen sind, also ihre Aktivität beendet haben.

Gekränkt wegen dieser Grenze, die zu unserem Menschsein gehört, suchen wir Auswege und bilden zu dem Zweck Glaubenssysteme, die uns die Illusion vermitteln, dass wir eine Macht über unseren physischen Tod hinaus ausüben können. Da wir bis ins Absolute hinein denken können, tun wir uns so schwer zu akzeptieren, dass all unser Wissen und Erleben, also das, was unser Leben ausmacht, an die Relativität und Vergänglichkeit unseres Körpers gebunden ist.

Was wir allerdings wissen können: Unser Leben ist ein körperlich-seelisches Leben mit einem Ablaufdatum und einem Ende seiner Existenz. Mehr Wissen gibt es zu diesem Thema nicht, alles andere ist Illusion. Und der Betreiber der Illusionsmaschine ist das Ego.


Die Ängste und der Tod


Glaubenssysteme, die mit der Unsterblichkeit der Seele hantieren, sind gesteuert von Ängsten, die verständlicherweise mit der Vorstellung des menschlichen “Seins zum Tod“ zusammenhängen. Wovor wir im Tiefsten Angst haben, ist der Tod. Alles, was uns Angst macht im Leben, weist uns auf die Möglichkeit des Sterbens hin. Damit will die Angst unser Weiterleben sichern.

Wenn der Tod nur teilweise (nur in Bezug auf den Körper) stattfindet, braucht die Angst weniger zu sein, so die Rechnung. Sie geht aber nicht auf, weil die Angst eine körperliche Erfahrung ist, die, zumindest in der uns bekannten Form, aufhört, sobald der Körper das Ende seiner Lebendigkeit erreicht hat. Die Angst hat ihre Aufgabe erfüllt, wenn wir sterben.

Neurotische Ängste können wir bearbeiten, sodass sie uns nicht mehr behelligen. Die Angst vor dem Tod ist eine von ihnen, weil sie nicht auf einer realen Bedrohung beruht, sondern auf einem Gedanken, der die Zukunft halluziniert.

In jeder realen Angst begegnet uns zwar die Angst vor dem Tod: Wenn wir in eine gefährliche Situation geraten (Absturz beim Bergsteigen, Unfall beim Schifahren, Sturz über eine Stiege, Panikattacke oder Herzaussetzer...), sind wir mit der Möglichkeit des Todes konfrontiert. Die Angst dient aber in diesen Situationen dazu, dass wir die konkrete Herausforderung meistern können, indem wir alle Ressourcen mobilisieren, um uns aus der gefährlichen Situation zu retten. Hier ein Beispiel dazu:

 
Der Mann, der in den Brunnen stürzte

Ein Mann stolpert und fällt in einen tiefen Brunnen, stürzt hundert Meter, bis er an einer dünnen Wurzel Halt findet und sich anklammern kann. Sein Griff wird schwächer und schwächer, und in seiner Verzweiflung schreit er hinauf: „Ist da wer da oben?“
Er schaut hinauf, kann aber nur einen Kreis mit Himmel sehen. Plötzlich teilen sich die Wolken und ein Lichtstrahl scheint zu ihm hinunter. Eine tiefe Stimme donnert: „Ich, der Herr, bin es. Lass die Wurzel los und ich werde dich retten.“
Der Mann überlegt einen Moment und ruft dann: „Ist vielleicht noch jemand anderer dort oben?“


Ohne Weiterleben weiter leben


Was würde uns fehlen, wenn wir jede Form des Glaubens an ein Weiterleben nach dem Tod aufgäben, wie würde sich dadurch die Qualität in unserem Leben ändern? Worin könnte ein Gewinn liegen? Welche Angst meldet sich? Und was würde passieren, wenn diese Angst keine Rolle mehr spielte?

Es geht eine Gewohnheit verloren, eine in jeder Kultur verbreitete Vorstellung, „dass es mit dem Tod nicht aus sein kann, dass es weitergehen muss“. Es geht eine Tröstung verloren, die von dieser Vorstellung stammt. Es geht eine Hoffnung verloren, die uns vor dem Endgültigen schützt. Die Ängste vor dem Ungewissen werden ein Stück beruhigt.

Wenn wir den Glauben an ein Weiterleben aufgeben, fehlen uns diese Elemente. Wird unsere Welt dann trostloser und hoffnungsloser, sind wir immer mit der Angst vor dem Ungewissen konfrontiert? Wird sie farbloser und eingeschränkter, wenn diese Perspektive fehlt?

Das Glauben kann uns eben keine Sicherheit bieten, denn die Ungewissheit bleibt: Werden wir wirklich nach dem Tod auferstehen? Was, wenn es nicht stimmt? Wer an Himmel und Hölle glaubt, kann nicht wirklich sicher sein, ob nicht die Lehre von der Wiedergeburt stimmt, wer an letzteres glaubt, kann sich nicht sicher sein, ob er sich nicht doch im Himmel, Fegefeuer oder in der Hölle wiederfinden wird, statt in einem neuen Körper. Die Theologen der einen Richtung sagen das eine, die Theologen der anderen predigen etwas anderes, die heiligen Bücher aus einer Ecke versprechen dies, die ebenso heiligen Bücher aus der anderen Ecke jenes; ein freies Feld von Meinungen ohne jede Sicherheit und ohne irgendeinen Maßstab von Relevanz.

Das Glauben kann als Gegengewicht gegen die Verzweiflung und die Hoffnungslosigkeit dienen, damit wir von solchen Gefühlen nicht gelähmt werden, sondern zu unserer Handlungsfähigkeit zurückfinden. Unsere Verzweiflungen und Verirrungen stammen aber nicht aus einem Mangel an Glauben, sondern aus den traumatisierenden Erfahrungen unserer Lebensgeschichte. Wenn wir mit dem Leben verbunden sind, wie es von Moment zu Moment fließt, gibt es keine Verzweiflung und keinen Mangel an Hoffnung.

Je mehr von unseren neurotischen Ängsten wir aufgelöst haben, desto mehr leben wir von diesem Augenblick zum nächsten, sodass sich der Kreis schließt: Wir verzichten auf die Glaubenssysteme, die sich aus den neurotischen Ängsten speisen, und lösen uns aus der Macht der Ängste. Damit können wir das Leben, das wir im Hier und Jetzt leben, mit voller Kraft, Kreativität und Freiheit leben.

Wenn wir uns einmal darauf eingelassen haben, dass wir auf jedes Wissen über das Sein nach dem Tod verzichten können, können wir die Freiheit des Seins vor dem Tod noch voller annehmen und gestalten. Die Erfüllung brauchen wir nicht auf eine Zukunft verschieben, sondern können sie im Jetzt entdecken. Wenn uns etwas fehlt, wenn etwas mangelt, dann nur deshalb, weil unser Blick von unserem Ego gelenkt ist und nur die Einschränkungen sieht statt der Fülle, die da ist. 


Vgl. Theologie und Mystik zur Frage des Weiterlebens
Die zwei Wahrheiten und die Religionen
Wissen, Phantasie und Glaube
Dissoziative Weltbilder und die Trennung von Leib und Seele

Dienstag, 25. November 2014

Wissen, Fantasie und Glaube: Was kommt nach dem Leben?

Manchmal behaupten Menschen, sie wüssten, was nach dem Tod passiert. Genauer besehen, haben sie nur einen Glauben vorzuweisen, der für sie so fix ist wie ein Wissen, obwohl die Redensart besagt: „Glauben heißt nichts wissen.“ Die beiden Kategorien werden einfach vermischt. Solche Ungenauigkeiten stehen jedem frei, wenn auch die Verantwortung für die Konsequenzen übernommen wird. Denn Ungenauigkeiten im Denken, Reden und Argumentieren stiften Verwirrung. 

Natürlich verfügen wir nur über ein Scheinwissen von dem, was „nachher“ passiert. Wissen beruht auf Erfahrung, und Erfahrungen haben wir, solange wir leben. Ob wir nachher Erfahrungen haben können, wissen wir nicht, weil wir davon eben keine Erfahrung haben, von der wir Mitteilung machen könnten. Sollte es solche Erfahrungen geben, fehlt uns die Information dazu. 

Zwar gibt es Berichte von Nah-Tod-Erlebnissen, von Menschen, die klinisch tot waren und wieder zum Leben zurückgekommen sind. Daraus haben wir eben ein Wissen über Nah-Tod-Erlebnisse, aber nicht über das, was nach dem Nah-Tod kommt, nämlich was den wirklichen Tod und das endgültige Tot-Sein anbetrifft. 

Weiters geben spiritistische Medien Informationen aus dem „Jenseits“ preis. Um solche Informationen als Wissen zu qualifizieren, muss man an die Integrität und Authentizität der Quelle sowie des Übermittlungsmediums glauben, was nicht jedermann gelingt. Nur wenige Menschen nehmen an solchen Seancen teil, und die Informationen, die sie daraus mitbringen, haben die Fragen nach dem postmortalen Weiterleben nicht geklärt. Meist sind die Informationen, die von „drüben“ kommen, erwartbar, ohne darüber hinaus irgendeine Gewissheit oder Sicherheit zu geben. 

Jenseitsfantasien in Konkurrenz 


Es sind Fantasien, die wir Lebenden uns über das bilden, was nach unserem Tod sein wird. Die unterschiedlichen Religionen haben das Jenseits unterschiedlich ausgeschmückt, vom Paradies bis zum Nirvana. Jeder Mensch hat das Recht auf seine Fantasien, soweit sie zur eigenen Erbauung und Beruhigung beitragen. Eine Fantasie wird zum Glauben, wenn sie mit einer lebenspraktischen Bedeutung gekoppelt wird: Ich glaube an das Weiterleben nach dem Tod, das ich mir in der Fantasie als „real“ ausmalen kann, weil ich dadurch angesichts der widrigen Umstände in meinem Leben Trost finden kann. 

Doch das Verallgemeinern von Fantasien nach dem Motto, was meine oder unsere Fantasie ist, muss für die anderen auch gelten, sollte mit einem dicken Fragezeichen belegt werden. Fantasien können von anderen geteilt werden, sind aber dadurch nicht allgemein-gültiger. Wie schon anderswo geschrieben, wird eine Behauptung dadurch nicht wahrer, wenn sie mehrere Leute für richtig halten. Werden die eigenen Fantasien mit der Wirklichkeit verwechselt, kommt es leicht zu heftigen und zugleich fruchtlosen Auseinandersetzungen über die Wahrheit. Denn über eine Wahrheit, für die es keine Überprüfung gibt, weil die entsprechende Wirklichkeit nicht zugänglich ist, muss mit allen Mitteln verteidigt werden. 

Außerdem müssen die konkurrierenden Wahrheiten angegriffen werden, um sie unschädlich zu machen. Für den Streit gibt es keine mögliche Lösung. Erst wenn ein Loslassen stattfindet, wenn also die Frage als unlösbar und nicht wahrheitstauglich erkannt wird, kann die Auseinandersetzung beendet werden. Glaubenskriege hören dort auf, wo der religiöse Glaube als wirklichkeitsbildende Macht an Einfluss verliert. In Mitteleuropa könnte sich heute niemand vorstellen, dass Katholiken und Protestanten mit kriegerischen Mitteln versuchen, ihre jeweilige Wahrheit durchzusetzen. In anderen Weltgegenden bekämpfen sich bis heute Menschen mit ähnlicher Heftigkeit und Brutalität wegen solcher Fragen, wie das bei uns über Jahrhunderte hinweg geschehen ist. 

Die Haltung des Nichtwissenkönnens 


Es hilft die Klarheit darüber, was wegen fehlendem Wirklichkeitsbezug außer Streit gestellt werden kann. Sie lässt frei, wo vorher ein Anklammern und Festhalten war. Worüber wir keine Übereinstimmung finden können, weil es keine Erfahrungsgrundlagen gibt, auf die wir zurückgreifen können, darüber müssen wir schweigen. Schweigen heißt dabei, auf Wahrheitsansprüche zu verzichten, die nicht belegt und argumentiert werden können und statt dessen die Beliebigkeit der Spekulationen zuzugeben. 

Diese Haltung trifft sich mit der Bescheidenheit des Nichtwissens aus intellektueller Redlichkeit nach Thomas Metzinger: Der Begriff bedeutet, „dass man nicht vorgibt, etwas zu wissen oder auch nur wissen zu können, was man nicht wissen kann, dass man aber trotzdem einen bedingungslosen Willen zur Wahrheit und zur Erkenntnis besitzt.“

Wir können das Menschensein auch so definieren: mit Grenzen leben, deren Unüberwindlichkeit uns bewusst ist. Oder auch: Leben mit dem Bewusstsein von Grenzen und der Möglichkeit, diese gedanklich überwinden zu können - und der Versuchung, diese gedankliche Überwindung für eine Realität zu halten. 

 In solchen Gedankensprüngen machen wir uns zu Kontrolleuren und Verwaltern unseres eigenen Lebens, eine Funktion, die uns weder zusteht noch die wir tatsächlich ausüben könnten. Systeme, die zugleich kontrollierende Systeme ihrer selbst sind, kontrollieren sich zu Tode. Den beschränkten Einfluss, den wir bewusst auf unser Leben und seine Gestaltung ausüben können, sollten wir nicht verwechseln mit der Macht über das Ganze unseres Lebens, über die wir aus guten Gründen nicht verfügen und nie verfügen werden. Eine Spezies, die die Grenzen ihrer Überlebensfähigkeit selber definieren könnte, wäre nicht überlebensfähig. Der Selbstmörder verfügt nicht über das Ganze seines Lebens, sondern handelt aus einem eingeschränkten verzweifelten Teil seines Selbst. Er setzt die Macht seines Denkens gegen den ihm mitgegebenen Lebenswillen und handelt aus der Zwanghaftigkeit des Verstandes, der keinen anderen Ausweg aus den Ängsten sieht als den Freitod.   
 
Die meisten freilich ringen um eine Verlängerung des eigenen Lebens. Mit allen verfügbaren Mitteln soll das Altern hinausgezögert und die Jugend erhalten bleiben. Was auch immer wir in unserem strebenden Bemühen versuchen, um die zeitlichen Grenzen unseres Lebens auszuweiten und auszudehnen - die Grenzen bleiben bei jeder Erweiterung erhalten. Viele der angeblich Hunderte von Jahren alten Yogis in Indien sind schon verstorben. Die, die noch leben, beweisen dennoch nicht, dass es eine körperliche Unsterblichkeit geben kann. Sie werden nur älter als der Durchschnitt.
Wenn wir diese conditio humana, diese Grundbedingung des Menschseins akzeptieren, brauchen wir keine Glaubenssysteme mehr, die uns ein Weiterleben nach dem Tod in dieser oder jeder Form anbieten. Wir können uns statt dessen voll auf die Belange dieses Lebens einlassen und von Augenblick zu Augenblick das Beste daraus machen. 

Vgl. Theologie und Mystik zur Frage nach dem Weiterleben
 Das Ego und die Idee der Unsterblichkeit
Die zwei Wahrheiten und die Religionen 
Dissoziative Weltbilder und die Trennung von Leib und Seele 

Montag, 17. November 2014

Kritische Fragen an die Reinkarnationstherapie


Reinkarnation ist ein Glaubenssystem, das vor allem in Asien, im Hinduismus und Buddhismus verbreitet ist. Die Reinkarnationstherapie beruht auf einer Idee, die im Zusammenhang mit der New-Age-Bewegung in den USA entstanden ist. Sie vertritt die Idee, dass die psychischen und körperlichen Leiden der Menschen auf Traumatisierungen zurückzuführen sind, die in früheren Inkarnationen erfolgt sind. Durch die Regression in diese früheren Leben können die Traumen aufgelöst werden.

Wenn wir an innerer Heilung interessiert sind, ist es notwendig, die Themen unseres
http://de.toonpool.com/cartoons/Reh-inkarnation_228073
Lebens, vor allem unserer Kindheit ebenso wie unserer Geburt und der vorgeburtlichen Zeit sowie die transgenerationalen Themen durchzuarbeiten. Wenn wir über hundert oder noch mehr Vorleben verfügen, wie behauptet wird, müssten wir auch aus diesen Leben die "karmisch" übertragenen Traumatisierungen bearbeiten, also die Kindheits-, Geburts-, Pränatal- und Generationaltraumen dieser Vorleben bearbeiten, zusätzlich noch die spezifischen kollektiven Ängste zu den jeweiligen historischen Zeiten sowie die oft besonders drastischen Traumatisierungen durch die jeweiligen Todesarten.

Wenn wir uns z.B. das Leben einfacher Menschen im Mittelalter vorstellen, und die Unsicherheiten, Grausamkeiten und Willkürlichkeiten, die damals herrschten, nur annährungsweise mit denen zur heutigen Zeit vergleichen, müssen wir zugeben, dass wir auf einem wesentlich niedrigerem Niveau leiden.

Wir reden z.B. heute von Bindungssicherheit, deren Bedeutung für das psychische Wohlergehen in den letzten Jahrzehnten deutlich geworden ist. In einer Zeit, in der unzählige Kinder unehelich geboren, ausgesetzt, dem Verhungern preisgegeben wurden, können wir davon ausgehen, dass sichere Bindungen seltene Glücksfälle in generell hochgradig unsicheren Zeiten ausmachen.

Wenn wir nun davon ausgehen, dass alle diese unglücklichen Kinder, bar jeder Bindungssicherheit, neue Inkarnationen gesucht haben, um ihr "Karma zu verbessern", müssen sich all diese furchtbaren Traumatisierungen bis in die Seelen der heute lebenden Menschen übertragen haben. Wer aber von den Reinkarnationstherapeuten bearbeitet solche pränatalen oder frühkindlichen Traumatisierungen im Detail und in der notwendigen Breite, Tiefe und Intensität, wie sie bei solchen komplexen Traumatisierungen angewendet werden müsste? Da müsste die Heilung von solch einem einzigen furchtbaren Schicksal Jahre an Therapie brauchen.

Wenn die Grauen jenes Leben nun geheilt wären, öffnete sich dahinter gleich das nächste, und das könnte noch schrecklicher sein. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Und die endgültige Heilung müsste wieder um ein paar hundert Sitzungen verschoben werden.

Natürlich wird es als Erleichterung erlebt, wenn die Ängste, die z.B. mit einer Verbrennung als Hexe in einem früheren Leben verbunden sind, bewältigt sind. Die Therapie heilt dabei aber nur das Problem, das sie selber aufwirft. Alle anderen Faktoren, die bei einer Therapie wirken, kommen noch dazu: Die unterstützende Umgebung, die respektvolle Zuwendung, das Verständnis und ein geteiltes Weltbild.

Die eigentlichen Verletzungen, die dieser Körper und diese Seele im Lauf dieses Lebens erfahren mussten, werden durch die scheinbaren Heilungen noch besser verdrängt. Denn es erleichtert, wenn die Wurzel des eigenen Leidens nicht in diesem Leben, in diesem Körper, sondern irgendwo in einer grauen Vorzeit und in einem völlig anderen Körper gefunden werden kann. Dann muss ich nicht tief in die Geschichte meines Leibes und meiner frühkindlichen Beziehungen eintauchen, dann brauche ich mich nicht mit den Bezugspersonen in diesem Leben auseinandersetzen, sondern verziehe mich kurzfristig in eine Vorzeit, von der ich nur ein paar Umstände erinnere.


Therapie ohne Beziehungsheilung


Reinkarnationstherapie kann keine Beziehungstherapie sein. Sie findet zwar in einer Beziehung zwischen Therapeut und Klient statt, lässt aber die prägenden Beziehungspersonen des eigenen Lebens außen vor, sodass die in der Übertragung und Gegenübertragung auftauchenden Projektionen nicht genutzt werden können. Denn die Personen, die im Vorleben gemein und böse waren, Verletzungen und Leid zugefügt haben, sind andere, als die zentralen Personen unserer Herkunft in diesem Leben – vor allem unsere Eltern. Die sind bei jeder Reinkarnationstherapie aus dem Schneider, außer sie erscheinen selber in der früheren Szenerie in anderer körperlicher Gestalt, was die Sache aber nicht einfacher, sondern noch komplizierter macht.

Denn es zählt zu den schwierigsten und schmerzhaftesten Aspekten der inneren Heilung, sich mit den Menschen, die das eigene Leben am tiefsten geprägt haben, auseinanderzusetzen. Die erwachsenen Menschen, denen wir am Anfang unseres Lebens begegneten, haben wir all unsere Liebe, Wertschätzung und Hochachtung entgegengebracht, derer wir mächtig waren. Dann zu erkennen, dass sie Menschen mit Fehlern sind, die uns Leid zugefügt haben, uns Schmerzen bereitet und Zorn und Hass geweckt haben, die uns eingeschränkt, manipuliert und kontrolliert haben, ist der zentrale Schritt zur eigenen Autonomie, und dann wieder zu einer versöhnlichen Haltung zu diesen Menschen zu finden, ist der Weg zum Frieden. Dieser komplizierte, aufwändige und anspruchsvolle Weg der Heilung wird einfach umgangen, wenn ich Vorleben nach Vorleben durchwandere und dort diese und jene Themen bearbeite.

Wir bewegen uns also reinkarnationstherapeutisch immer auf doppeltem Boden, die realen Themen aus einem realen Leben werden auf frühere Leben projiziert, dort therapeutisch bearbeitet und sollen dann wieder ins jetzige Leben zurück transferiert werden, das ja das einzige ist, für das eine Heilung Sinn macht. Warum nicht gleich in diesem bleiben und dorthin zurückgehen, wo die Ursprünge des Leidens sind? Wir müssen dazu nur auf die durch nichts beweisbare Glaubensannahme verzichten, dass unsere seelischen Probleme ihre Wurzeln in früheren Leben haben. 



Reinkarnation und Dissoziation


Wie an anderer Stelle ausgeführt, könnte es sein, dass die Idee der Reinkarnation auf traumatische Dissoziationen zurückgeht. Wir kommen deshalb auf die Idee, dass die Seele vom Körper getrennt sein könnte, weil wir in einer Traumasituation diese Erfahrung scheinbar gehabt haben. Tatsächlich ist ja die Dissoziation ein Vorgang, den unser Gehirn produziert.

Der doppelte Boden, auf dem die Reinkarnationstherapie arbeitet, ist dann nichts anderes als eine traumabedingte Dissoziation. Wenn das stimmt, kann die Traumaerfahrung nie in der Reinkarnationssituation aufgelöst werden, weil diese nur durch die therapeutisch herbeigeführte Dissoziation zugänglich ist. Jede Regression in ein Vorleben ist damit eine Retraumatisierungserfahrung, die immer nur eine scheinbare Lösung einer Thematik bewirken kann, also im besten Fall Symptome verbessern, aber nie eine grundlegende Heilung erreichen kann.



Reinkarnation als Ego-Erweiterung


Dazu mag die folgende Überlegung dienen: Die Erweiterung der Seele über die Lebensdauer des Körpers hinaus ist eine Größenfantasie des Egos, das sich nicht mit seinem Begrenztsein abfinden kann. Es brüstet sich seines immateriellen Seins und meint, dass es nicht auf einen Körper, auf etwas Festes und Vergängliches angewiesen ist, sondern dass es über den Grenzen und über den Gesetzen der Festkörper steht. Es behauptet von sich, etwas grundlegend anderes zu sein als dieser Körper. Das ist es natürlich, weil es nicht körperlich ist. Zugleich ist es aber ohne Körper nicht erlebbar, denkbar, vorstellbar. Es lebt nur, weil es mit und in einem Körper existieren kann.

Das Ego identifiziert sich dabei mit der Seele, nimmt sie gewissermaßen in Besitz und tut ihr dafür den Gefallen, sie für unsterblich zu erklären – ein Teufelspakt gewissermaßen: Ich verspreche dir ewiges Leben, wenn du dich mir ganz unterwirfst. Du brauchst keine Angst mehr zu haben vor dem Ende dieses Körpers, du kannst immer wieder in neue Formen hineinschlüpfen, auf diesem Weg reifer und reifer werden und irgendwann ins Nirvana eingehen. So bleibt das Ego unangefochten in seiner sicheren Position, die Befreiung von ihm ist in weite Ferne gerückt – sicher nicht mehr in diesem Leben.



Integrierende Sichtweise als Alternative


Vertreten wir eine integrierende Sichtweise, so wird klar, dass das Materielle nur durch Immaterielles materiell sein kann, und das Immaterielle nur durch das Materielle immateriell. Wenn wir sagen, dass diese beiden Aspekte aufeinander angewiesen sind, so ist die Formulierung insoferne missverständlich, als sie eine Abhängigkeit suggeriert. Denn der Begriff einer Abhängigkeit macht dort keinen Sinn, wo Dasein nur ist, wenn beides ist. Damit etwas existieren kann, braucht es das Materielle und das Immaterielle. Sobald etwas ist, ist es materiell und immateriell. Vorher und nachher ist nichts.

Dazwischen, im Reich des untrennbar Einen, ist jede Fantasie möglich, und jede von diesen ist wiederum zugleich immateriell (die fantasierten Bilder) und materiell (die für die Entstehung der fantasierten Bilder notwendigen neuralen Aktivitäten). Und sie ist immer in diesem Hier und in diesem Jetzt und dient uns für unsere Zwecke hier und jetzt.

Wenn wir therapeutisch arbeiten, müssen wir immer den Weg von der Fantasie in die Realität, vom assoziativen Denken in die Gefühle und in den Körper gehen. Fantasieren können wir immer, das kann lustig und kreativ sei. Genießen wir unser Fantasieren und bleiben wir uns dabei bewusst, was es ist: Das Schaffen einer irrealen Welt im Kopf. Das wird aber nicht reichen, wenn wir die Befreiung von unseren Beschränkungen finden wollen. Dafür brauchen wir den Aufputz von bunten früheren Leben nicht.


Wer dennoch Reinkarnationstherapeut werden will, findet im Internet Angebote  ab drei Tagen Ausbildung: Zitat: "Bei uns lernst Du die wahrscheinlich einfachste und wirksamste Art der Reinkarnationstherapie im deutschen Sprachraum. Deine Erfolge werden uns recht geben! Kompakt– Einfach – Wirksam – Erfolgreich. Diese Ausbildung erstreckt sich über 3 Seminartage." Kosten: € 990,-.

Mittwoch, 12. November 2014

Über den Ursprung des Bösen und des Hasses

Gibt es einfach böse Menschen oder werden Menschen böse, obwohl sie gut sein wollen? Gibt es Menschen, die aus ihrem tiefsten Wesen heraus hasserfüllt sind, oder hassen Menschen, weil sie selber abgelehnt und unterdrückt wurden?

Lange Zeit war diese Frage strittig und abhängig von der anthropologischen Grundannahme: Das Böse ist im Menschen grundgelegt, z.B. als Folge seines Aggressionstriebs bzw. eines entsprechenden Gens, oder das Bösesein ist ein Verhalten, das anerzogen oder ankonditioniert wurde.

Ich denke, dass diese Frage mit dem Fortschritt an psychologischer Einsicht, auch unterstützt durch die moderne Hirnforschung eindeutig beantwortet werden kann. Dazu stelle ich zwei Argumente vor.

Das erste Argument wurzelt tiefer und geht auf die Geschichte der Menschheit ein, von den Anfängen bis jetzt. Aggression und Gewalttätigkeit waren zu jeder Zeit die Ausnahme in Vergleich zu prosozialen Handlungen. Sonst wäre das weitere Bestehen der Menschheit gescheitert. Ohne Fürsorge und liebevolle Unterstützung kann keine Generation heranwachsen. Auch wenn in frühen Kulturen das relative Ausmaß an Gewalttätigkeit größer war als in späteren Gesellschaftsformen, wie Steven Pinker (Gewalt. Die neue Geschichte der Menschheit. Fischer: Frankfurt 2013) nachweisen konnte, gilt auch hier schon die Regel, dass prosoziales Handeln die Regel und Aggression die Ausnahme war. Deshalb kann das erste Argument so formuliert werden: Menschliche Gemeinschaften brauchen, um langfristig existieren zu können, ein hohes Maß an freundschaftlicher Zwischenmenschlichkeit, und  böses Handeln findet deshalb nur in eingeschränktem Maß in besonderen Situationen statt, das auch im Rahmen der jeweiligen Gesellschaftsordnung sanktioniert wird.

Das zweite Argument stammt aus der psychologischen Perspektive. Menschen kommen nicht als „böse“ auf die Welt. Vielmehr sind sie für das Leben nach der Geburt mit einem hohen Maß an Liebesfähigkeit ausgestattet, das sie brauchen, um die erwachsenen Menschen für sich zu gewinnen. Schließlich müssen diese für sein Überleben sorgen. Alles, was das Baby dafür einsetzen kann, ist sein Charme, der die Herzen der Großen erweichen soll und im Normalfall das Fürsorgeverhalten auslöst.

Wenn die Erwachsenen um das Baby zu selten und immer wieder falsch auf diesen Appell reagieren, wenn sie also immer wieder die Bedürfnisse ignorieren oder nur mangelhaft erfüllen, dann schwindet der Charme des Babys, und die Liebesfähigkeit schrumpft in dem Maß, in dem sie nicht erwidert wird. Statt dessen wird das innere Gleichgewicht im Baby zerstört, es verliert zunehmend die Fähigkeit, sich nach dem Stress von drängenden Bedürfnissen wieder zurückregulieren zu können. Es baut sich eine grundlegende chronische Stressbelastung auf. Diese nimmt diejenigen Bereiche in der inneren Landschaft ein, die vorher von liebevollem Verhalten besetzt waren. Gleichsam in den verwahrlosten Arealen der Seelenlandschaft machen sich Aggression und Hass breit. Meist werden diese verödeten Landstriche des Inneren versteckt und abgeschirmt von der bewussten Einsicht, aber sie machen ihren Einfluss indirekt geltend.

Menschen mit chronifiziertem Stress haben im Grund nur zwei Möglichkeiten: Aggressiv oder depressiv zu werden. Manchmal ergeben sich auch Mischtypen. Und aus der therapeutischen Praxis wissen wir, dass Depressive zumeist und vor allem unter ihrer unterdrückten Wut leiden.

Also lautet das zweite Argument: Menschen werden böse, wenn ihnen Böses zugefügt wurde. Sie sind hasserfüllt, weil ihnen Hass entgegengebracht wurde. Sie können auch als Erwachsene nicht anders, weil ihnen insbesondere in Stresssituationen die Verhaltensalternativen fehlen. Sie können auf zu wenig Ressourcen im prosozialen Verhalten zurückgreifen, sodass sie aggressiv und hasserfüllt reagieren, wenn sie in eine Notlage kommen.

Sie neigen dann dazu, das, was ihnen selber in der frühen Zeit ihres Lebens angetan wurde, auf andere Menschen, die ihnen nichts getan haben, zu projizieren. Dazu eignen sich bekanntlich Menschengruppen, die als Außenseiter definiert werden. Diese kriegen dann den Hass ab, der eigentlich den Menschen gelten sollte, die die „Täter“ einer kindlichen Unterversorgung oder eines emotionalen oder sexuellen Missbrauchs waren, die also die erwachsene Verantwortung für Traumatisierungen hatten, die den Kindern widerfahren sind.

Die „Täter“ sind geschützt durch das mangelhafte Gedächtnis für solche schlimmen Erfahrungen. Denn wir haben einen Schutzmechanismus, der uns davor bewahrt, dass wir uns immer wieder an besonders schwierige und schmerzhafte Erfahrungen erinnern. Wir können mit Hilfe dieses Mechanismus zwar weiterleben, aber mit beschränkter Lebenskraft und Lebensfreude. Statt dessen tragen wir ein Potenzial an Aggressivität, Gewaltbereitschaft und Hass mit uns herum. Dieses Potenzial kann dann jederzeit hervorbrechen und auf Unschuldigen abgeladen werden. Besonders eigenen sich für diese undankbare Rolle die eigenen Kinder, da uns deren Heranwachsen besonders an unsere eigene Kindheit mitsamt ihren Mängeln und Widernissen erinnert.

Damit kommen wir gleich zu der Erklärung, warum ich „Täter“ unter Anführungszeichen gesetzt habe. Wenn nämlich dieses Argument stimmt, dann waren Täter immer zuerst Opfer. Menschen werden nur zu bösen Tätern, wenn sie selber Böses erlebt haben und erleiden mussten. Solche Erfahrungen, die nicht verarbeitet werden konnten, reduzieren die Möglichkeiten für das Tun des Guten. Denn das Tun der Guten kann nur heranwachsen, wenn es vorgelebt und konsistent erwidert wird.

Wir brauchen also den „bösen“ Menschen kein unabänderliches Schicksal infolge einer schlechten genetischen Ausstattung, eines angeborenen mangelhaften Charakters andichten, sondern können darauf setzen, dass böses Verhalten eine Schutzhandlung darstellt, die nicht freiwillig und mit voller Verantwortung übernommen wird. Vielmehr wird sie gewählt, weil keine Alternative zur Verfügung zu stehen scheint, wenn der Stress und die innere Anspannung zu groß sind.

An anderer Stelle wurde schon dargelegt, dass es zwischen dem Guten und dem Bösen, zwischen der Liebe und dem Hass, kein Kontinuum wie zwischen hell und dunkel gibt, sondern dass wir das eine (das Gute) als das Normale des Menschen ansehen können, das er mehr oder weniger gut erfüllen kann, und das andere (das Böse) als die Ausnahme, die in Zuständen innerer Not gewählt wird.

Zum Weiterlesen:  
Liebe und Hass - eine Polarität?
Der Bösewicht in uns

Donnerstag, 6. November 2014

Halbwahrheiten - schlimmer als Unwahrheiten

Eine Halbwahrheit kann schlimmer sein wie eine Unwahrheit. Denn die Halbwahrheit verführt und verwirrt. Die Unwahrheit ist leichter durchschaubar, wir verfallen ihr entweder ganz oder durchschauen sie gleich. Die Halbwahrheit dagegen benutzt einen Aspekt der Wahrheit und verschleiert ihn gleichzeitig. Sie gibt eine unhaltbare Zusicherung oder erhellt, was sich im gleichen Atemzug wieder verbirgt. Sie will befreien, bereitet aber in Wirklichkeit ein schlechtes Gewissen. Sie vermischt Relatives mit Absolutem, so als könnte das Absolute das Relative rechtfertigen. Deshalb oszilliert die Halbwahrheit, sie will uns beruhigen, während sie uns gleichzeitig aufregt. Thornton Wilder meinte einmal: "Jede Halbwahrheit ist eine Dreiviertellüge."

Ein Beispiel dazu ein bekannter Text, der in verschiedenen Versionen durch die Netzwerke geistert und eine Reihe von Kettenbriefen initiiert hat:

"Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, im nächsten Leben würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen. Ich würde nicht so perfekt sein wollen, ich würde mich mehr entspannen.
Ich wäre ein bisschen verrückter, als ich es gewesen bin, ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen. Ich würde mehr Eis und weniger Bohnen essen. Ich würde mehr riskieren, würde mehr reisen, Sonnenuntergänge betrachten, mehr Bergsteigen, mehr in Flüssen schwimmen.
Ich war einer dieser klugen Menschen, die jede Minute ihres Lebens fruchtbar verbrachten; freilich hatte ich auch Momente der Freude, aber wenn ich noch einmal anfangen könnte, würde ich versuchen, nur mehr gute Augenblicke zu haben.
Falls du es noch nicht weißt, aus diesen besteht nämlich das Leben; nur aus Augenblicken; vergiss nicht den jetzigen.
Wenn ich noch einmal leben könnte, würde ich von Frühlingsbeginn an bis in den Spätherbst hinein barfuß gehen. Und ich würde mehr mit Kindern spielen, wenn ich das Leben noch vor mir hätte.
Aber sehen Sie … ich bin 85 Jahre alt und weiß, dass ich bald sterben werde."

Schon die Geschichte des Zitates hat mit Halbwahrheiten zu tun. In manchen Quellen wird es Jorge Luis Borges zugeschrieben, dessen Herausgeber und Witwe die Zuschreibung vehement bekämpfen. Der Text passt ja so überhaupt nicht zum Schreibstil von Borges. Tatsächlich dürfte der Urheber der ersten Fassung ein amerikanischer Humorist namens Don Herold gewesen sein. Manche Ähnlichkeit scheint es mit einem "Abschiedsbrief" von Gabriel Garcia Marques zu geben, den dieser lang vor seinem Tod verfasst hat. Und immer wieder scheint eine Frau namens Nadine Stairs oder Nadine Strain als Verfasserin auf. Offenbar hat sich eine Art Stille-Post-Effekt ergeben, dass irgendeine Urfassung des Textes mit jeder Weitergabe verändert, ergänzt und/oder gekürzt wurde, sodass mittlerweile die unterschiedlichsten Fassungen kursieren.

Abgesehen von der Herkunfts- und Zuschreibungsgeschichte des Zitats liegt die halbe Wahrheit seines Inhalts darin, dass es die Menschen darauf aufmerksam machen will, dass sie das Leben jeden Augenblick genießen und annehmen sollen, was viele als hilfreichen Hinweis auf eine gültige Wahrheit verstehen können: das Leben besteht nur aus den Augenblicken, in denen es erlebt wird.

Verpackt ist diese Wahrheit allerdings in einen Kontext des erbaulichen Ermahnens und des Bedauern über Versäumtes: Begehe nicht die Fehler, die ich begangen habe, iss rechtzeitig genug Eiskreme, mit 86 könnte es zu spät sein, und dann ist der Appetit darauf möglicherweise dahin. Die Leserin wird erkennen, dass sie bisher zu wenig barfuß gelaufen ist, und dann wird ihr vielleicht einfallen, dass sie schon zu lange in der Großstadt lebt, wo das nicht so einfach geht zwischen Frühling und Spätherbst.

Offenbar sollen wir uns fragen, ob wir nicht doch ziemlich falsch gelebt haben. Solange noch Zeit ist, sollten wir auf die richtige Lebenslinie einschwenken, denn schnell könnte es zu spät sein, und dann droht ein in der Rückschau verpfuschtes Leben.

So liest sich der Text unterschwellig als eine Aufzählung von Versäumnissen, von "Zuwenigs". Wir sollen unser Leben als ein Leben erkennen, das anders gelebt hätte werden sollen. Hier wird es allerdings zu einem Zeitpunkt festgestellt, an dem es schon zu spät ist - von jemandem, der von sich behauptet, im Augenblick zu leben. Der Text dürfte wohl in einem Augenblick entstanden sein, indem das Bedauern über die Mängel und Versäumnisse der Vergangenheit überhand genommen haben.

Niemandem ist zu verdenken, melancholisch auf das Unwiederbringliche der Vergangenheit zurückzuschauen, und niemand ist angehalten, widerspruchsfreie oder schlüssige Texte zu schreiben. Der Text kann ja auch unter Poesie eingereiht werden, und da gelten andere Kriterien als die des Wahrheitswertes.

Es verwundert jedoch, welch weite Verbreitung solch ein Text finden kann, der eine besondere Qualität der Weisheit für sich reklamiert und es doch nur zur Hälfte schafft. So schwingt er zwischen Erbauung und Ermahnung, vergleichbar den Ungewissheiten seiner Herkunft.

Dem Bereich der Wahrheitssuche hingegen entzogen und in elegant frivolen Humor übertragen hier die Version von Marlene Dietrich: "Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, würde ich die gleichen Fehler machen. Aber ein bisschen früher, damit ich mehr davon habe."

Zum Weiterlesen:
Die Jagd nach der Erfahrung