Dienstag, 30. September 2014

Das Angstgedächtnis

Ein Rascheln im Unterholz in der Wildnis: Das ist ein Geräusch, das ein Tier oder einen Menschen sofort anhalten und leise werden lässt, in Erwartung eines Angreifers. Dieses „Einfrieren“ ist Teil der Angstreaktion, eine Reaktion auf einen Reiz aus der Umgebung und Teil der Orientierung des Gehirns, ob es nun davor Angst haben soll und die gesamte Angstkaskade einleiten soll.

In einer Studie des Cold Spring Harbor Laboratory (Assistant-Professor Bo Li und Professor Z. Josh Huang) wurde untersucht, wie Angstreaktionen erlernt, kontrolliert und erinnert werden. Es konnte gezeigt werden, wie eine besondere Gruppe von Neuronen in einer Unterteilung der Amygdala aktiv bei diesen Prozessen mitwirken.



Das Angstgedächtnis in der Amygdala


Aus früheren Forschungen weiß man, dass Strukturen innerhalb der Amygdala, einem Paar von mandelähnlichen Gebilden tief drinnen im Gehirn für Gefühle und Verhaltenssteuerung über Belohnung zuständig sind und auch Teil des Kreislaufes sind, der das Angstlernen und –gedächtnis steuert. Es handelt sich insbesondere um eine Region, die als zentrale Amygdala (CeA) bezeichnet wird, die als passives Relais für die Signale, die innerhalb dieses Kreislaufes weitergegeben werden, angesehen wurde.

Das Forschungslabor von Li stieß während der Untersuchung dieses Kreislaufes auf die Beobachtung, dass Neuronen innerhalb der zentralen Amygdala namens laterale Unterabteilung (CeL) bei Mäusen „aufleuchteten“, die einer bestimmten Belastung ausgesetzt waren. Schon bisher wurde angenommen, dass es zu Veränderungen in der Stärke der Neuronenverbindungen in der zentralen Amygdala kommen muss, wenn das Angstgedächtnis eingeprägt wird, aber es konnte bisher noch nicht bewiesen werden. Das führte zu einer weiteren Frage: Wenn die zentrale Amygdala das Angstgedächtnis bildet, wie werden dann diese Gedächtnisspuren ausgelesen und in Angstreaktionen übersetzt?


Im Versuch wurden Mäuse einem Angsttest ausgesetzt, bei dem ihnen eine Reaktion auf  einen akustischen Reiz ankonditioniert wurde. Die Mäuse „froren ein“, in einer üblichen Form der Angstreaktion, wann immer sie einen der Töne hörten, auf den sie trainiert waren. Um die beteiligten Neuronen zu studieren, wurden Untersuchungsmethoden angewendet, bei denen ein ganz dünnes fiberoptisches Kabel direkt in den Bereich mit photosensitiven Neuronen eingepflanzt wurde. Dadurch konnte das Team Farblaser mit hoher Präzision auf die Zellen richten und sie dadurch aktivieren. Diese Technik heißt Optogenetik. Alle Veränderungen im Verhalten der Mäuse als Reaktion auf den Laser wurden aufgezeichnet.



Ein Teil der zentralen Amygdala kontrolliert den Angstausdruck


Die Fähigkeit, genetisch definierte Neuronengruppen zu erforschen, war deshalb wichtig, weil es zwei Neuronensets gibt, die für das Angsterlernen und für Gedächtnisprozesse wichtig sind. Der Unterschied zwischen beiden liegt in der Ausschüttung von nachrichtenübermittelnden Neurotransmittern in die Synapsen zwischen den Neuronen. In einer Untergruppe der Neuronen wurde die Neurotransmitterausschüttung gesteigert und in einem anderen reduziert. 


Genauer gesagt, führt die Angstkonditionierung zu erfahrungsabhängigen Veränderungen in der Ausschüttung von Neurotransmittern bei exzitatorischen Synapsen, die mit hemmenden Neuronen verbunden sind – Neuronen, die die Aktivität anderer Neuronen unterdrücken – in der zentralen Amygdala. Diese Veränderungen in der Stärke der neuronalen Verbindungen sind als synaptische Plastizität bekannt.


Eine besonders wichtige Entdeckung waren die somatostatin-positiven (SOM+) Neuronen. Somatostatin ist ein Hormon, das die Neurotransmitterausschüttung betrifft. Li und seine Kollegen fanden heraus, dass die Bildung des Angstgedächtnisses geschädigt wurde, wenn die Aktivierung der SOM+ Neuronen unterbunden wurde.


SOM+ Neuronen sind notwendig, damit Angsterinnerungen wachgerufen werden können. Es war ausreichend, diese Neurone zu aktivieren, um Angstreaktionen hervorzurufen. Die Amygdala ist also kein passives Relais für die Signale, die das Angstlernen und –reagieren bewirken, sondern eine aktive Komponente, angetrieben von Impulsen aus der lateralen Amygdala, mit der sie verbunden ist. Das Angstgedächtnis in der zentralen Amygdala kann also den Kreislauf so modifizieren, dass er in Handlungen übersetzt wird, in die Angstreaktion.  Es besteht die Hoffnung, dass aus diesen Erkenntnissen Einblicke gewonnen werden können, wie posttraumatische Stressstörungen und andere mit abnormem Angstlernen verbundene Störungen beeinflusst werden können.

Donnerstag, 25. September 2014

Die Doppelbotschaft der Ausbeutungsgesellschaft

Nach Zahlen der EU-Gesundheitsagentur betragen die Kosten für Burnout 240 Milliarden, auf Österreich entfallen dabei ca. 7 Mrd./Jahr. 50 bis 60 Prozent aller Arbeitsunfähigkeitstage sind demnach durch arbeitsbedingten Stress und psychosoziale Risiken bedingt.

Negativ wirkt Stress dann, wenn die von ihm ausgelöste Ausschüttung des Hormons Cortisol  das Gehirn dauerhaft überschwemmt, wenn die Anspannung also nicht nach lässt. Es kommt so quasi zu einer Cortisolvergiftung, die nach und nach Nervenzellen im Gehirn abtötet.

Wer täglich acht bis zehn Stunden in diesem Zustand ist und sich dann der Freizeit- oder der Elektronikindustrie aussetzt, beraubt sein Gehirn der Möglichkeit zum Abbau von Cortisol, sagen Neurobiologen. Laut Forschungen des Max Planck-Institutes können so bis zu einem Drittel der Intelligenz verloren gehen.


Gib mir alles


Soweit die Zeitungsnachricht. Die Doppelbotschaft liegt klar auf der Hand: Die Gesellschaft will alles von dir, und das, was du zur Bereitstellung brauchst, musst du dir selber organisieren: Wir wollen dich mit Haut und Haaren, und du musst selber schauen, wie nachwächst, was du herzugeben hast. Die postkapitalistische Wirtschaft/Gesellschaft verlangt die vollständige Spaltung zwischen Körper und Geist. Der Körper hat dafür zu sorgen, dass die geistige Arbeitskraft ganz den Erfordernissen des Arbeitsprozesses zur Verfügung gestellt werden kann. Der geistig arbeitende Mensch soll sich möglichst radikal vom Körper trennen, damit dieser der Arbeitsleistung nicht in die Quere kommt.

So wird durch die Leistungsanforderung die Beziehung zum Körper abgeschnitten, der gleichwohl in der Freizeit für die Regeneration sorgen soll. Wo er es nicht mehr schafft, entzieht er dem Geist die Grundlage, sodass die gestressten Menschen immer mehr an Leistungsfähigkeit verlieren, bis sie im Burnout landen. Nachdem viele Arbeitsplätze nach diesen Grundsätzen definiert sind, ist es schwer, ohne die Bereitschaft zur Selbstausbeutung überhaupt noch Arbeit zu finden. 


Wie können wir aufhören mitzuspielen?


Wir bauen diesen Stress auf, weil wir zu sehr nach außen orientiert und von außen motiviert sind. Die Reize, die uns in Trab halten, kommen von außen, das Telefon, das beantwortet werden muss, das Gespräch, das geführt werden muss, die Aufgabe am Schreibtisch, die gelöst werden muss. Wir bekommen dafür wieder Äußerlichkeiten, Geld, das wir zum Lebensunterhalt und zum weiteren Konsumieren ver-brauchen.

Wie es in unserem Inneren ausschaut, bekommen wir selten mit, oft erst, wenn es gröbere Fehlfunktionen gibt, die uns zu schaffen machen. Der Körper signalisiert uns, dass er nicht mehr mitspielen kann, dass seine Ressourcen am Ende sind. Wir können die Krise als Chance nehmen, einen Neuanfang zu wagen, indem wir beschließen, das weitere Leben mit und nicht gegen den eigenen Körper zu führen.

Es muss auch nicht so weit kommen. Wir können uns jederzeit vergewissern, wie es uns in unserem Inneren geht: Nicht mit dem Blick auf das Bankkonto, sondern mit dem Spüren zu unserem Herzen und zu unserem Bauch. Was sagen diese Bereiche in uns zu der Weise unseres Lebens? Was brauchen sie, wie können wir gut für sie sorgen?

Indem wir unsere Aufmerksamkeit nach innen richten, erleben wir uns als Einheit, als Zusammengehörigkeit, und können nachspüren, was aus dieser Einheit als Antwort aufsteigt, wenn wir eine Frage haben oder vor einem Problem stehen. Je mehr Zeit wir dieser inneren Einheit, dem, was wir sind und was uns ausmacht, widmen, desto leichter wird es fallen, die innere Stimme zum Leben zu erwecken und als helfende Kraft für unser Leben zu gewinnen. Sie wird uns darauf aufmerksam machen, wann wir über die Grenzen unserer Belastbarkeit gehen, wann wir Dinge tun, die uns ausbrennen lassen, wann wir uns für Anforderungen von außen aufopfern, wann es Zeit ist, eine Pause einzulegen und zu uns selber zurückzukehren.

In Anbetracht der massiven psychischen Schäden, die von der Arbeitswelt in unserer Gesellschaft verursacht werden, ist es höchst an der Zeit, diese überlebensnotwendige Wende nach Innen breiter ins Bewusstsein zu bringen. Es müsste in den Pflichtenkatalog der Bildungsinstitutionen und der Politik ebenso Aufnahme finden wie in den Tagesablauf jedes Einzelnen. So sehr wir uns vielleicht ein radikales Umkrempeln des ganzen Systems wünschen, damit es mehr den Menschen und ihren Bedürfnissen angepasst wird und nicht umgekehrt, so gibt es zugleich Nischen in diesem Getriebe, die wir kreativ nutzen können, um zu verlangsamen, zu entschleunigen und uns mit uns selber verbinden, bevor wir auseinanderfallen.

Samstag, 20. September 2014

Verlust der Ideale?

Eine Langzeitstudie untersuchte Werthaltungen bei US-amerikanischen Studentinnen und Studenten zwischen 1966 und 2002. Anfangs, also mitten in den sechziger Jahren, wollten 80% vor allem eine „bedeutungsvolle Lebensphilosophie“ entwickeln. Nur für eine Minderheit war es entscheidend, finanziell sehr gut aufgestellt zu sein und viel Geld zu verdienen. Dann begannen sich diese Einstellungen allmählich zu verändern. 1977 hielten sich die Angaben exakt die Waage: Viel Geld zu verdienen und eine prägende Lebensphilosophie waren den Befragten in etwa gleich wichtig. Dann drehte sich das Verhältnis um, und seit Mitte der neunziger Jahre spielt der finanzielle Status für etwa 75% der Studenten die herausragende Rolle. Nur mehr 40% gaben an, dass ihnen eine bedeutende Lebensphilosophie ein Anliegen sei.

Wie kann diese Entwicklung mit Hilfe des Modells der Bewusstseinsevolution verstanden werden? Die „bedeutungsvolle Lebensphilosophie" gilt als Frage nach verbindlichen Wertvorstellungen, die in der eigenen Verfügbarkeit liegen. Was ist mir wichtig im Leben? Vermutlich ist damit auch gemeint, einen weiteren Horizont im Blickfeld zu haben, der über die unmittelbaren eigenen Belange hinausreicht. Das sind Kennzeichen des personalistischen Bewusstseins: Das Infragestellen der übernommenen Einstellungen und das Finden einer eigenen Sicht auf das Leben und seiner Sinnhaftigkeit sowie der Blick über den Tellerrand der eigenen Belange hinaus, der für das Übernehmen von Verantwortung für die größeren Probleme der Welt motiviert.

Die Wichtigkeit von finanziellem Erfolg dagegen wird der vor der personalistischen Stufe liegenden materialistischen Stufe zugeordnet. Das Gelingen des eigenen Lebens primär daran zu bemessen, wieviel Geld verdient werden konnte, ist ein typisches Merkmal dieser Entwicklungsstufe. Das Leben soll durch Besitz und Verfügung über Sachen abgesichert werden.

Deshalb zeigt diese Untersuchung, dass bei der befragten Personengruppe eine Rückentwicklung in Bezug auf die Bewusstseinsevolution stattgefunden hat. Studenten gelten ja im Allgemeinen als eine Gruppe, die neuen Werthaltungen gegenüber offen steht, veränderungsbereit und flexibel ist. Wie kann es also sein, dass innerhalb von fast 40 Jahren fortgeschrittenere gegen überholte Wertvorstellungen eingetauscht wurden?

Ich interpretiere die Entwicklung nicht als eine Rückkehr des Kapitalismus, wie sie viele nach dem Fall der kommunistischen Systeme in Osteuropa diagnostiziert haben. Vielmehr sehe ich die Entwicklung so, dass der Kapitalismus ungebrochen weiter wächst und immer mehr Bereiche des Lebens erfasst, dass er sich gewissermaßen zunehmend in die Feinstrukturen des Lebens hinein ausbreitet. Dieses Wachstum hat noch lange nicht seinen Plafond erreicht. Da wir erst lernen müssen, diese Tiefenarbeit der materialistischen Verführungen und Selbsttäuschungen zu durchschauen, sind dort so viele Energien gebunden, dass andere Werte in den Hintergrund treten. Damit wird personalistisches Denken zum Luxus, und „idealistische“ Werthaltungen werden geopfert. Was dann bleibt, ist der Rückgriff auf die materialistische Lebenseinstellung, die dann automatisch wieder auf den Plan tritt und wieder stärker das Innenleben bestimmt.

Verschwimmende Fronten


Im 19. Jahrhundert bis weit ins 20. hinein waren die Fronten viel klarer spür- und erkennbar: Hier die ausbeutenden Kapitalisten, dort die ausgebeuteten Arbeiter, erkennbar an ihren ausgemergelten und ausgezehrten Körpern. Damit waren auch einfache Lösungen in Sicht: Die Entmachtung der Kapitaleigner und die Umverteilung der Erträge in die Hände vieler. Einiges konnte erreicht werden, was sich an der Ausbreitung des Wohlstandes in den entwickelten Ländern zeigte. Noch lange ist auf dieser Wegstrecke nicht alles getan, was zu tun ist; nach wie vor wächst der Reichtum in den ganz obersten Schichten, während die Lebensmöglichkeiten der großen Mehrheit stagnieren oder leicht schrumpfen. Noch ist das Problem der Armut auch inmitten des Reichtums nicht gelöst.

Aber die relative materielle Sicherheit, der sowohl durch die kapitalistische Produktionsweise wie auch durch deren politische Regulierung erreicht werden konnte, hat bei vielen zur Trübung des Blickes geführt. Dort, wo keine Fronten sind, braucht es keine Ideale, um sie zu überwinden. Wenn in unseren Gesellschaften fast alle zwar ihre Grundbedürfnisse befriedigen können, aber dafür permanent die Substanz ihres Körpers aufzehren müssen, indem der Erwartungsdruck an die Leistungsfähigkeit stetig erhöht wird, fallen viele auf die Kämpfermentalität zurück. Das gesellschaftspolitische Ideal verblasst als Korrektiv, weil der Daseinskampf in der Leistungsmaschinerie nur mehr Platz lässt für die von Konsumsystem angebotenen Erholungsmöglichkeiten. Um diese Angebote zu nutzen, die punktgenau auf die Bedürfnisse der Selbstausbeuter eingestimmt sind, braucht es keine Ideale, vielmehr schwindet ihre Attraktivität, je kurzfristiger die Konsumanreize ausgetauscht werden. Wie im Arbeitsleben die fordernden Reize immer mehr werden und immer schneller kommen, ist das Freizeitangebot vom gleichen Druck geprägt, in dem die permanent sich erneuernden Spielzeuge auf den Markt geworfen und gekauft werden, um kurze Glücksmomente zu bescheren.

Die inneren Horizonte werden in dem Maß enger, wie wir es uns leisten können, jeden beliebigen Ort dieser Erde zu bereisen. Die kreative Spannung, die das Erleben eines unbefriedigenden Ist-Zustandes mit dem als Ideal angestrebten Soll-Zustand verbindet, schrumpft bei vielen Menschen, die ihr inneres Getriebensein nicht mehr loswerden können, auf die Spannung zwischen dem außengesteuerten Zustand in der Arbeitswelt und dem Konsumparadies der Freizeitwelt. Da braucht es keine Visionen mehr, die über die nächsten Einkaufs- oder Reiseziele hinausweisen.

Die absoluten Grenzen des Kapitalismus


Nachdem Bewusstseinsstufen immer mit kollektiven Ängsten verbunden sind, zeigt sich an diesem Beispiel, dass „alte“ Ängste mobilisiert werden, wenn das Neue vom Alten überholt wird. Doch sollte das, wenn wir auf die Kraft der Evolution vertrauen können, nur ein kurzfristiges Phänomen bleiben. Denn innerpsychisch laufen sich die Kreisläufe von Gier und ihrer konsumatorischen Befriedigung irgendwann tot, und der Wunsch nach dem Ausbrechen in neue Dimensionen erwacht. Wir bleiben Menschen, auch wenn wir scheinbar im Meer der geschürten Begierden versinken. Menschen sind immer mehr als das, was sie tun und was sie im Moment für wichtig erachten. Immer, wenn Ängste vorherrschen, ist uns der Blick auf die Fülle unserer Möglichkeiten verstellt. Doch wirkt tiefer in uns eine Kraft, die sich von den Ängsten befreien und in die Weite wachsen will.

Ich vermute, dass der Kapitalismus so lange weiter wachsen muss, bis eine absolute Grenze erreicht ist. Denn er hat so viele selbstbelohnende Mechanismen eingebaut, die alle ein suchterzeugendes Potenzial haben, wie wir z.B. an den Mechanismen von Werbung und Konsum erkennen können. In ihrer Raffinesse sind sie der Gutgläubigkeit der gestressten Menschen meist einen Schritt voraus, sodass wir immer wieder auf die Schleifen von Gier und Belohnung hereinfallen werden.

Diese absolute Grenze liegt einerseits in der „großen Natur“, in der Begrenztheit unseres Heimatplaneten. Wenn die Regelsysteme der Erde, ihrer Oberfläche und der Atmosphäre durch den Einfluss der industriellen Produktion und Lebensweise soweit durcheinandergebracht worden sind, dass das Überleben der Menschheit gefährdet wird, kommt es entweder zu einem Umdenken, zu einer umfassenden Bewusstseinsentwicklung oder zum Siechtum und langsamen Tod der Menschheit, dieser wunderbaren Einzigartigkeit in den Weiten des Alls..

Die andere Grenze liegt in der Körperlichkeit der Menschen, für welche das gegenwärtige Wirtschaftssystem in den meisten Bereichen eine extreme Herausforderung darstellt. Denn die Belastung verschiebt sich zunehmend vom Körperlichen ins Physische. Die hart geforderten und physisch ausgebeuteten Arbeiter der Industrie werden immer weniger, und die Leute, die an ihren Schreibtischen immer mehr erledigen müssen, werden zunehmend mehr

Um die innere Überlastung zu spüren, brauchen wir die ausgeprägte Fähigkeit des inneren Sinnes, der inneren Wahrnehmung. Diese zu trainieren und zu verfeinern wird deshalb zu einer der wichtigsten Überlebensstrategien in der aktuellen Phase des Kapitalismus. Denn nur in unserem Inneren können wir erkennen, wann wir uns überfordern und wann wir gegen unsere eigenen Wünsche und Interessen handeln. Mit dieser Fähigkeit finden wir den Ausweg aus der Selbstausbeutung und aus den Schleifen der angestachelten Gier.

Jeder, der diesen Weg geht, verliert das drängende Interesse an den Konsumverlockungen und ersetzt sie durch personalistische Werte. Die kurzfristigen Glücksverheißungen der Warenwelt werden unwichtiger, und die Freude an einfachen Erlebnissen und Erfahrungen wächst. Dann kann es auch gelingen, die starre Trennung von belastender Arbeitszeit und befreiender Freizeit zu lockern.

Wie das gehen könnte, zeigt das folgende Zitat des vietnamesischen Achtsamkeitsmeisters Thich Nhat Hanh: „Üblicherweise machen wir einen Unterschied zwischen ‚Arbeitszeit‘ und Freizeit‘. Doch mindert ein solches Denken unsere Freude und unseren Erfolg bei der Arbeit. Wir können so arbeiten, dass wir Wahlmöglichkeiten erkennen in dem, was wir tun und wie wir es tun. Wir können arbeiten und dabei Gelegenheiten zur Freude finden; wir verharren nicht in der Gewohnheit, uns unter Druck und Stress zu versetzen und darunter zu leiden.“ (Thich Nhat Hanh: Achtsam arbeiten, achtsam leben. O.W. Barth 2013, S. 27)

Freitag, 19. September 2014

Ansteckender Stress

Stressstörungen gelten als die häufigsten psychischen Störungen, wenn nicht überhaupt chronifizierter Stress der Schlüsselfaktor für die meisten Erkrankungen ist. Denn Stress schädigt das Immunsystem und dereguliert viele andere für unsere Gesundheit wichtige Körperfunktionen. Wir sind nicht für Daueranspannung ausgestattet. Stress kann aber nicht nur von innen (z.B. durch Sorgen oder Ängste), sondern auch von außen ausgelöst werden: durch stressbelastete Menschen. Dieser Zusammenhang konnte nun experimentell belegt werden.

In einer umfassenden Studie untersuchten Forscher der Abteilung für Soziale Neurowissenschaft des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und der Abteilung für Psychologie der Technischen Universität Dresden die Frage, ob sich Stress, der rings um uns entsteht, uns „anzustecken“ vermag. Gibt es also empathischen Stress (definiert als ausgeprägte physiologische Stressreaktion, die allein durch das Beobachten von jemandem entsteht, der sich gerade in einer stressigen Situation befindet), und dringt dieser Stress bis in den Kern des Stresssystems vor, in die HPA-Achse (Hypothalamus-Hypophyse-Adrenalin-Achse)? Es wurde also in der Studie zwischen einer unspezifischen Erregung des sympathischen Nervensystems und der spezifischen Aktivierung der cortisolproduzierenden HPA-Achse unterschieden. Weiters wurde untersucht, ob diese empathische Stressreaktion durch die Bekanntheit zwischen Beobachter und Zielperson, durch die Modalität der Beobachtung (virtuell – real) und durch das Geschlecht beeinflusst wird.

Insgesamt zeigten 26% der Beobachter einen signifikanten Cortisol-Anstieg, wenn sie andere gestresste Menschen beobachteten. Gab es zwischen Beobachter und Zielperson eine hohe Bekanntheit, so stieg der Wert auf 40%, und bei der Repräsentation des Stressors in einer wirklichen Lebenssituation auf 30% im Vergleich zu einer virtuellen Situation. Das Vorkommen des empathischen Stresses, der bei manchen Versuchspersonen bei völlig fremden Personen und bei nur virtueller Beobachtung auftrat, kann wichtige Auswirkungen auf die Entwicklung von stressbezogenen Störungen haben.

Interessanterweise hat das Geschlecht keinen Einfluss auf das Empfinden von empathischem Stress, Männer reagierten in dieser Studie gleich wie Frauen, obwohl die allgemeine Meinung den Frauen eine höhere Empathiefähigkeit zuschreibt.

Jedenfalls konnte gezeigt werden, dass empathischer Stress nicht nur ein subjektiv-psychologisches Phänomen ist, sondern bis in den Kern unseres physiologischen Stresssystems hineinreicht und von dort aus gesteuert wird. Daraus kann geschlossen werden, dass wir viel mehr Stress aufnehmen, ohne es zu merken und ohne ihn zu verarbeiten. Wer sich durch den hektischen Verkehr in einer Großstadt bewegt und am Abend geschlaucht ist, hat vielleicht gar nicht wahrgenommen, dass sich der geballte Stress der vielen Menschen im eigenen System niedergeschlagen hat. Dann wird noch das Fernsehgerät eingeschaltet, und ein Aufreger jagt den nächsten, und wieder lagert sich im Inneren der Stress ab, weil wir auch gegen virtuellen Stress nicht immun sind.

Das Erleben von empathischem Stress muss allerdings nicht unbedingt negativ gesehen werden. Es handelt sich auch um eine nützliche Fähigkeit. Sie weist darauf hin, dass Menschen natürlicherweise darauf angewiesen sind, die Situation von anderen zu verstehen und sich darauf einzustimmen. Mütter (und Väter) sollten den Stress ihrer Babys verstehen und richtig deuten können, um ihn entsprechend gut beruhigen zu können. Darüber hinaus könnte hier der Antrieb für soziales Verhalten liegen, wie ich es selber in der Schlussphase des Wachauhalbmarathons erleben konnte: Ich war kurz unachtsam und stolperte über den Fuß eines zur Abgrenzung aufgestellten Aluminiumgitters. Ich bin nicht gefallen, aber ein fremder Laufkollege neben mir streckte gleich die Hand aus, um mich zu halten. In dieser Phase des Laufes hat jeder nur mehr das Ziel vor Augen, aber es scheint einen stärkeren Impuls zu geben, der die Not eines anderen bemerkt und zu Hilfe eilen will. Meine Frau konnte beim Zieleinlauf beobachten, wie einem Läufer die Beine versagten und andere ihm noch ins Ziel helfen wollten, obwohl sie für diese Tat der Nächstenhilfe vielleicht ihre persönliche Bestleistungen des Tages verfehlten.

Verfügen wir also über eine biologisch verankerte Grundreaktion zur Nächstenliebe? Ist sie nicht nur ein ethischer Imperativ, dem wir folgen sollten, sondern entspricht es eigentlich unserer Natur, Menschen in Not zu helfen, weil unser Nervensystem sofort empathisch reagiert, wenn andere in Stress geraten?

Allerdings darf nicht übersehen werden, dass ein langfristig erhöhter Kortisolspiegel sehr wahrscheinlich negative Auswirkungen auf die Gesundheit hat. Die Natur hat uns offenbar auf Situationen vorbereitet, in denen es darum geht, kurzfristig auf Belastungen und Nöte anderer Menschen einzugehen, um Abhilfe zu schaffen. Wenn allerdings die Anspannung andauert, leidet der eigene Organismus und damit die Gesundheit Schaden. Wenn also der empathische Stress chronisch wird, gilt es gegenzusteuern. Das kann der Fall sein, wenn z.B. in einer Familie Menschen unter langwierigen Krankheiten oder unter psychischen Störungen leiden und die Menschen im Umfeld dann unter den Folgen des empathischen Stresses zu leiden beginnen. Wenn Kinder in einem derartigen Umfeld aufwachsen, ist es nicht verwunderlich, wenn sie mit einem hohen Grad an innerem Stress ins Leben gehen.


Den Hinweis auf die Studie verdanke ich Catherine Dowling. 



Vgl. Fernsehkonsum und Lebenserwartung
Vgl. Stressansteckung und die Pflicht zum Entspannen