Donnerstag, 28. Februar 2019

Notwendigkeit und Macht des objektiven Wissens

Wissen ist Macht, und wer definieren kann, was als Wissen anerkannt wird und was nicht, hat die Macht über diese Macht und damit über die unmündigen Menschen, die sich nicht selber ein Urteil bilden wollen. Das haben viele Diktaturen im Lauf der Geschichte bewiesen, und allem Anschein nach motiviert es gerade in unseren Tagen viele Nachahmer dazu, sich der Definition von Wissen zu bemächtigen und sich damit den Schlüssel zur Herrschaft über die Menschen zum eigenen Vorteil zu sichern. Der Vorgang ist immer der gleiche: Subjektive Überzeugungen werden als objektives Wissen ausgegeben, und objektives Wissen wird zu subjektiver Meinung herabgestuft.

Deshalb ist eine tragfähige Unterscheidung von subjektivem und objektivem Wissen notwendig. Während es einfach ist, subjektives Wissen zu definieren, gibt es um das Verständnis von objektivem Wissen mehr Klärungsbedarf. Hier möchte ich argumentieren, dass eine Klarstellung ganz wesentlich für das Funktionieren einer offenen Gesellschaft und Demokratie ist. Objektives Wissen ist ein zentrales Gut, weil es einen privilegierten Zugang zur Wahrheit verkörpert. Deshalb konkurrenzieren  verschiedene Interessen um diesen Zugang. Objektives Wissen ist eine Geburt der menschlichen Kreativität und Schaffensfreiheit, darum will es von vielen festgenommen werden.


Das subjektive Wissen


Subjektives Wissen ist etwas, das eine Person aufgrund eigener Erfahrung für wahr hält. Wenn ich spät schlafen gehe, habe ich nächsten Tag in der Früh Kopfschmerzen. Wenn ich Bohnen esse, bekomme ich nachher Bauchdrücken. Wir machen einzelne Erfahrungen, und solche, die sich wiederholen, bezeichnen wir dann als Wissen. Subjektives Wissen heißt, es gilt für mich persönlich und ich halte es für wahr. Ich kann mein Verhalten danach ausrichten, dieses Wissen hat also einen praktischen Wert für mich. Wenn ich Bauchdrücken vermeiden will, esse ich keine Bohnen. Wenn ich gut ausgeruht sein will, gehe ich früher schlafen. Für andere mag das anders sein.

Subjektives Wissen ist nicht falsifizierbar im Sinn von Karl Popper. Niemand kann mich dazu bringen, meine Geschmacksvorlieben oder Lebensüberzeugungen für falsch zu erklären. Auch wenn alle anderen nicht meiner Meinung sind, kann ich dabei bleiben. Subjektives Wissen braucht auch nicht falsifiziert zu werden. Es besteht so lange, als ein Subjekt daran glaubt und es für wichtig erachtet und in seiner Lebenspraxis anwendet. 


Objektives Wissen


Objektives Wissen ist solches, das für alle gilt, das also alle für wahr halten. Um diese Form des Wissens zu gewinnen, haben die Menschen die Wissenschaft erfunden. Sie soll eine Form des Wissens garantieren, die unabhängig von subjektiven Vorlieben und Interessen ist und die von allen eingesehen und genutzt werden kann.

Die traditionelle und bewährte Regelung von wissenschaftlichem Wissen besteht darin, dass jeder, der dazu bereit ist, zur gleichen Erfahrung kommt. Mit den geeigneten Messinstrumenten müsste jeder Mensch, der die Schwerkraft misst, zum gleichen Ergebnis kommen. Jeder, der ein Elektronenmikroskop bedienen kann, erkennt die gleichen Zusammenhänge in einem Atom. Jeder, der das Doppelspaltexperiment durchführt, kommt zu den gleichen Beobachtungen. Die Ergebnisse hängen nicht vom Subjekt und den Geschmacksvorlieben der Forscherperson ab.

Objektives Wissen ist demokratisch


Diese Rahmenbedingungen geben dem wissenschaftlichen Wissen eine Sonderstellung in Vergleich zu verschiedenen anderen Wissensformen. Wissenschaftliches Wissen hat eine demokratische Struktur, weil sie eben jeder Mensch gleichermaßen, ohne Machteinflüsse, erzeugen, erwerben und für sich verwenden kann. 

Dazu kommt, dass die Ergebnisse der Wissenschaften vom Prinzip her allen zugutekommen sollen. Sie sind vom Anspruch geleitet, Wirklichkeit in einer Weise zu erkennen und zu erklären, die jeder Mensch in sich hat und für sich aktivieren kann (soweit jemand das Erwachsenenalter erreicht hat und nicht durch eine geistige Behinderung gehandicapt ist). 


Objektives Wissen beruht nicht auf Willensbildung


Diese Berufung auf eine grundsätzliche Gemeinsamkeit aller Menschen als Erkenntnisvoraussetzung für objektives Wissen schließt eine Mehrheitsstruktur, wie sie in demokratischen Willensbildungen vorkommt, aus. Denn objektives Wissen kommt nicht durch subjektive Entscheidungen zustande, sondern durch die Erforschung der Wirklichkeit. Über die Richtigkeit eines objektiven Wissens kann nicht die Mehrheit in einer Abstimmung entscheiden. 

Solche Prozeduren können höchstens über die Geltung des Wissens in einer Gesellschaft bestimmen. In diesem Sinn war zwar zu Beginn der Neuzeit das geozentrische Weltbild (die Erde als Mittelpunkt des Weltalls) geltendes Wissen, aber das objektive Wissen weniger Wissenschaftler auf der Basis einer verbesserten Datenerhebung und Datenerfassung hatte schon das heliozentrische Weltbild als überlegen und richtig erkannt. Über längere Zeit hatte dieses Wissen noch für eine kleine Minderheit, oft im Geheimen, verbindlich gegolten, bis es schließlich zum Allgemeingut der Menschheit wurde und nur mehr von einer sehr kleinen Minderheit bestritten wird.

Ein Staat oder eine Gemeinschaft kann also z.B. beschließen, dass es keine menschengemachte Erderwärmung oder keine Evolution des Lebens gibt. Sie setzt damit fest, dass das objektive Wissen, das das Gegenteil belegt, nicht gilt und deshalb auch nicht angewendet wird. Unter Umständen wird die Ideologie – und darum handelt es sich bei sozial festgelegten Wissenssystemen ohne objektive Rückbindung und ohne Selbstinfragestellung – mit Macht und Autorität durchgesetzt, indem z.B. “Andersgläubige” verfolgt und abweichende Meinungsäußerungen unterdrückt werden. Im Bildungssystem wird wissenschaftliches Wissen durch Glaubenswissen oder Ideologie ersetzt. Schüler und Studierende werden nicht in der Anwendung des kritischen Denkens geschult, sondern mit vorgegebenem ideologischem Wissen, also verallgemeinertem subjektivem Wissen indoktriniert. In diesen Fällen wird objektives Wissen für unwichtig und irrelevant erklärt und der – grundsätzlich subjektive – Glaube wird zur Richtschnur der Wahrheitsdefinition. 

Mehrheitsentscheidungen beruhen auf verallgemeinerten subjektiven Wissensinhalten. Es wird behauptet, dass eine subjektive Einsicht wahrer ist als eine andere. Mit der aktuellen und verräterischen Rede von “Postfaktizität” und “alternativen Fakten” wird zusätzlich suggeriert, dass das objektive Wissen auch nur die Spielart eines subjektiven Wissens wäre, so wie eine rechte US-Politikerin die Meinung vertritt, dass die Leugner des Klimawandels genauso richtig lägen wie die Vertreter der Gegenposition. Auf diese demokratiefeindliche Weise wird das Feld des Wissens durch eine ideologisierte Debatte auf die Konkurrenz subjektiver Meinungen nivelliert, mit dem Ziel, durch Manipulation und Gehirnwäsche die Macht an sich zu reißen und gegen alle demokratisch motivierten Versuche abzusichern, mittels objektivem Wissen die herrschende Subjektivität zu entmachten.


Wissensformen und diskursive Kommunikation


Ist die Subjektivität an der Macht, so gibt es keine Basis mehr für eine diskursive Wahrheitsfindung. Diskurse dienen dann einzig dem Austausch von subjektivem Wissen, ohne Aussicht auf einen substantiellen Abgleich von Stärken und Schwächen einer bestimmten Argumentation, geschweigedenn auf einen Konsens. Eine Person sagt: Für mich ist die Theorie A (z.B. in Konzentrationslagern wurden keine Menschen umgebracht) wahr, die andere sagt das Gleiche über die Theorie B (In NS-Konzentrationslagern wurden systematisch Millionen Menschen umgebracht). Jeder hat seine Gründe für die eigene Überzeugung, die Meinungen stehen gegeneinander und bleiben so fixiert. Es gibt keine Basis, auf der diese Gründe verglichen werden könnten, z.B. die Basis von Augenzeugenberichten, Messungen, Forschungsberichte oder Quellenstudien. Eine diskursive Übereinstimmung gibt es nur dort, wo sich subjektive Meinungen gleichen oder angleichen, wo sich also Gleichgesinnte treffen und sich in ihrer Blase gegenseitig die gemeinsame Wirklichkeitskonstruktion bestätigen. 

Im Gegensatz dazu muss sich jeder Anspruch auf objektives Wissen dem kritischen und offenen Diskurs aussetzen, der das Zustandekommens des Wissens überprüft: Hat hier jemand kurz die Augen geschlossen und sich eine Theorie zusammenfantasiert oder hat jemand Fakten gesammelt, Daten analysiert und ausgewertet, Messinstrumente angewendet, andere Theorien und Forschungen studiert und verglichen usw.? Ist also jemand nur seiner momentanen individuellen Eingebung gefolgt oder hat er sich mit der äußeren Wirklichkeit in einer Weise auseinandergesetzt, die jeder andere imitieren kann, um zu überprüfen, ob das gleiche Resultat herauskommt? Vertritt da jemand ihre Meinung als allgemeingültige und unveränderliche Wahrheit oder meint sie, dass sie nur über vorläufiges und verbesserbares Wissen verfügt?

An einem kritischen Diskurs kann sich jeder beteiligen, sofern er die Grundvoraussetzung der objektiven Wissensgewinnung teilt und sich der entsprechenden Anstrengungen unterzieht. Es gibt also eine verbindliche Basis zur Wissensgewinnung und Wissensüberprüfung. Objektives Wissen ist grundsätzlich veränderbar und offen für Weiterentwicklung und Verbesserung. Objektives Wissen ist also immer dynamisch und flexibel. Es haftet auch nicht an einzelnen Personen wie das Werk eines Dichters oder Komponisten, oder auch eines politischen Ideologen. Vielmehr ist dieses Wissen immer eine Gemeinschaftsproduktion und muss sich im kritischen Diskurs bewähren.


Zwei Welten in der Wissenslandschaft


Um Welten liegen diese beiden Formen der Wissenserzeugung auseinander. Häufig beginnt die Gewinnung von objektivem Wissen bei subjektiven Einsichten, dem berühmten Einfall in der Badewanne. Doch dann erst kommt der lange Weg der Wissensgewinnung und -absicherung, die Mühsal der Ebenen, die erst die Entstehung von Objektivität ermöglichen. Ohne Arbeit, kritische Reflexion und Zusammenwirken von Methoden, Vorwissen und Diskussion kommen wir nicht zu objektivem Wissen. 

Aber der Weg lohnt sich, weil das objektive Wissen dadurch, dass es mehrfach intersubjektiv gegen subjektive Einflüsse abgesichert ist, zuverlässiger und nutzbringender ist als jedes subjektive Fürwahrhalten. Kein Smartphone würde einen Pipser von sich geben, wenn es allein auf der Grundlage von subjektiven Fantasien zusammengebastelt wäre. Jedes technische Gerät ist eine Manifestation von Unmengen an objektivem Wissen, das systematisch von jeder Subjektivität gereinigt wurde. Ohne die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Wirkung der Fluorkohlenwasserstoffe auf die Ozonschicht der Erde wäre das Loch einfach weitergewachsen. Und es waren nicht die Wunderheilungen, die die Überlebenschancen bei Krebs in den letzten Jahrzehnten drastisch verbessert haben, sondern die Fortschritte in der medizinischen Forschung.


Der Objektivitätszustand



Es gibt offenbar einen Bereich im Gehirn, in dem sich Menschen hinreichend ähnlich sind, sodass sie, wenn dieser aktiv ist, bei bestimmten Prozeduren zu den gleichen Ergebnissen gelangen. Einleuchtend ist das bei der Mathematik, in der es immer um ein eindeutiges Richtig oder Falsch geht. Auch in den anderen Wissenschaften geht es um die klare und objektiv nachvollziehbare Unterscheidung von Faktizität und Fiktion. Die Kriterien dafür haben sich im Lauf der Wissenschaftsgeschichte entwickelt und wurden immer mehr verfeinert. Die Menschen haben auch die Philosophie entwickelt und für unseren Zusammenhang besonders wichtig die Instanz der Erkenntnis- und Wissenschaftsphilosophie, die für die Geltungskriterien für ein objektives Wissens zuständig ist und sie mit ethischen Standards in Verbindung bringt. Die Überprüfung der “Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung” nach Immanuel Kant stellt die Qualität objektiver Erkenntnisse sicher und grenzt sie klar von subjektivem “Dafürhalten” ab.

Faktizität ist das, was alle Menschen für richtig nehmen können, wenn sie sich in einem bestimmten Geisteszustand befinden und sich mit der äußeren Wirklichkeit beschäftigen. Diesen Geisteszustand könnte man den Objektivitätszustand nennen. Es braucht dazu ein nüchternes Wachbewusstsein, das frei von starken Emotionen, aber auch frei von Eitelkeit ist. Nach Tacitus sollte die Geschichtserforschung „sine ira et studio“, also ohne Zorn und Eifer, nach Seneca ohne Hass und Sympathie betrieben werden. Vielmehr sollte das Streben nach dieser Form des Wissens durch Neugier und Interesse motiviert sein. Wir können schwerlich zu objektiven Erkenntnissen gelangen, wenn wir angeheitert oder todmüde sind. Auch wenn wir uns über etwas oder jemanden aufregen, unter Schock stehen oder wegen eines Todesfalles trauern, sind wir nicht in der Lage für diese Form der Wahrheitserforschung. Wir sollten auch weitgehend frei sein von Ego-Antrieben wie Geltungssucht oder Geld- und Machtgier.


Objektivität und Ethik


Jeder, der objektives Wissen erarbeitet, ist ein Subjekt und also solches anfällig für Emotionen, Denkmuster usw., die zu unethischem Verhalten verleiten. Mischen sich solche Elemente in die Forschung ein, gibt es andere, die die Fehler, Irrtümer oder Irreführungen aufklären und korrigieren können. Das objektive Wissen ist ein geistiges Feld, an dem alle Subjekte mitarbeiten können, und am Schluss bleibt das Wissen über, das in ethischer Weise entstanden ist, weil es in der Wirklichkeit anwendbar ist und zu erwünschten Resultaten führt. 

Objektivität in der Erkenntnis ist also eng mit der Ethik verbunden. Innere Integrität ist erforderlich, um in der Haltung der bedingungslosen Wahrheitsverpflichtung zu bleiben, wenn es um die Wirklichkeitserfahrung geht. Emotional aufgeheizte Egomuster verzerren die Wahrnehmung und deren Interpretation. Für die Erlangung von Objektivität braucht es eine Intention, eine klare innere Entscheidung, nämlich von Ego-Erwartungen und Ego-Bestätigungen abzusehen. Ein um Objektivität bemühter Forscher muss bereit sein, ein Scheitern seiner Hypothesen in Kauf zu nehmen, wenn es sich aus der Forschung ergibt, und das ist nicht immer leicht, wie die Wissenschaftsgeschichte belegt.

Wir verfügen damit über eine zuverlässige Basis für die Objektivierung von Wissen, die zur Gewinnung von Wissen dient, das allen Menschen nachvollziehbar und zugänglich ist und dessen Nutzung prinzipiell allen offen stehen sollte. 

Nicht-Objektivität ist etwas, das laufend passiert, wenn die unbewussten Muster Oberhand gewinnen. Dann werden wir parteilich, egoistisch, rechthaberisch oder gläubig. Wir neigen zu vorschnellen Schlüssen und Urteilen, wir verallgemeinern, wir unterliegen Denkfehlern usw. Das entspricht unseren Tendenzen zu Bequemlichkeit und Vereinfachung, aber auch unseren Prägungen zur Sicherung unseres individuellen Überlebens. Zur Objektivität kommen wir nur mit Anstrengung, z.B. den ersten Eindruck von einer Sache mit mehreren weiteren zu vergleichen, Quellen für Behauptungen zu suchen, Erforschungen anzustellen, eigene Vorurteile zu erkennen. Und wir brauchen eine soziale Einstellung, dass es nicht um die Durchsetzung eigener Interessen geht, sondern um die Erweiterung des Wissensschatzes der Menschheit.


Ohne objektives Wissen ist die Demokratie schutzlos


In jedem Rückfall auf Glaubenssysteme wird die demokratische Macht des objektiven Wissens außer Kraft gesetzt, und darum ist es wichtig, die Freiheit der Wissenschaften zu sichern und gegen alle ideologischen Angriffe zu schützen und damit die zuverlässigen Quellen des objektiven Wissens garantieren. Sonst hat das Machtstreben der Machtbesessenen keinen Gegenhalt, und die Gesellschaft fällt zurück auf einen vormodernen Status, in der die Mächtigen willkürlich bestimmen, was wahr und falsch ist, welchen Menschen das volle Menschsein zugesprochen wird und welchen nicht. 

Der Weg in eine Zukunft mit mehr Menschlichkeit gelingt nur, wenn er von Erkenntnissen geleitet ist, die sich auf objektives Wissen stützen. Gäbe es ein solches nicht, wüssten wir gar nicht mehr, was Menschlichkeit ist.

Dienstag, 26. Februar 2019

Leben mit dem Bauchhirn

Wir sprechen davon, aus dem Bauch heraus zu entscheiden und zu handeln, weil wir davon ausgehen, dass wir in unseren Eingeweiden über ein intuitives Wissen verfügen, das dem Verstand mit seiner Fähigkeit und Unfähigkeit zum ewigen Hin- und Herdenken überlegen ist. Was hat es mit dieser Vorstellung auf sich?


Einige Fakten zum Darm


Der Darm ist 8 Meter lang und hat eine Fläche von 1qm; im Vergleich dazu: Die Haut bedeckt 2 qm; mit Falten und Zotten entsteht aber eine Oberfläche von 500 qm. Somit bildet er die größte Kontaktfläche zur Außenwelt, über die wir verfügen. 

Der Bauch ist aber nicht nur ein Verdauungs- und Ausscheidungsapparat. Er ist auch ein Intelligenzzentrum mit 200 Millionen Nervenzellen, so viele wie Hunde oder Katzen in ihren Gehirnen haben. Die enterischen Nervenzellen überziehen die Darmwand, über die gesamte Länge des Verdauungskanals. Sie ermöglichen und steuern die Verdauung, führen aber auch noch viele andere Funktionen aus, die erst zum Teil erforscht sind.

Sie können die Darmtätigkeit völlig ohne Mitwirkung des Gehirns regeln: Bei Experimenten wurden Versuchstieren das Gehirn entfernt, aber die Darmbewegungen waren weiterhin aktiv. Das enterische Nervensystem ist also weitgehend autonom, wenn es auch in engster Verbindung mit dem Gehirn und den anderen Bereichen des Körpers steht.

Eine weitere Eigenheit bilden die Billionen an Bakterien und Tausende Bakterienstämme, die nicht nur unsere Verdauung, sondern auch unsere Persönlichkeit beeinflussen. Ein wichtiger Indikator ist die Artenvielfalt in unserem Darm: Gesunde Menschen haben viele verschiedene Bakterienarten, während Parkinson-, Alzheimer- oder  MS-Erkrankte über weniger Artenvielfalt verfügen. Von Natur aus sind wir also auf Multikulturalität und Diversität eingestellt, und diese Einstellung hat viel mit Gesundheit zu tun. Andererseits finden wir in dieser Diversität unsere Individualität. Nicht nur unsere DNA unterscheidet uns grundlegend von allen anderen Menschen, sondern auch die individuelle Zusammensetzung der Bakterienwelt in uns.


Warum haben wir zwei unterschiedliche Gehirne?


Manche bezeichnen den Bauch als unser zweites Gehirn, manche aber sogar als erstes, weil es entwicklungsgeschichtlich älter ist. Zu Beginn bestanden die Mehrzeller vor allem aus einem Verdauungssystem, aus dem sich dann das untere Hirn entwickelte. Das obere Gehirn wurde erst später ausgelagert und kann sich in der Folge mit anderen Sachen beschäftigen, die im Lauf der Zeit immer komplexer wurden. Es gibt die Theorie, dass die Zähmung des Feuers vor 1,5 Mill. Jahren bei dieser Entwicklung mitgeholfen hat. Unsere Vorfahren haben das Braten und Grillen erfunden, als eine Art von Vorverdauung, sodass weniger Energie für das Verdauen nötig war. Diese Ersparnis hat zur Ausbildung eines großen Gehirns beigetragen, das immer mehr ausgebaut wurde. Beim homo ergaster (ca. 1,6 Mill) hatte das Gehirn noch ein Volumen von 700 ccm. Im Zug der Evolution kam es zu einem langsamen und stetigen Wachstum bis auf 1500 – 1600 ccm, bei einigermaßen gleichbleibender Körpergröße.

Zunehmend wanderte die Dominanz der inneren Steuerung vom Bauch in den Kopf, wodurch der enorme zivilisatorische Prozess in Gang kam, der die Erde umgestaltet hat und ihr überall den Stempel „Mensch“ aufgedrückt hat. Das Bauchhirn geriet in Vergessenheit, weil es weniger wichtig für die aufregenden kulturellen Errungenschaften war, und auch deshalb, weil seine Intelligenz vollständig im Unterbewusstsein wirkt. Das hochgepriesene Bewusstsein gibt es nur im Kopf.

Doch steht der Kopf unter starken Einflüssen durch den Bauch. Die Hauptverbindung stellt der Vagus-Nerv dar, der in beiden Richtungen die Informationen übermittelt. Allerdings herrscht ein starkes Ungleichgewicht: Es fließen wesentlich mehr Informationen von unten nach oben als von oben nach unten, im Verhältnis 10:1. Der Bauch sagt mehr, als er sich sagen lässt. Wir stehen also unter der Fuchtel unserer Eingeweide, ohne dass wir es merken.


Neurotransmitter


Beide Gehirne nutzen über ihren Kommunikationskanal Vagus die gleichen Neurotransmitter. Diese chemischen Verbindungen namens Dopamin, Endorphin, Serotonin, GABA usw. sind die Grundlage der Sprache, in der die Neuronen beider Gehirne miteinander kommunizieren. Im Darm werden 40 verschiedene Neurotransmitter hergestellt. Er ist also auch ein vielfältiges Sprachlabor.

Ein Beispiel ist das Serotonin: Es bewirkt im Kopfgehirn ein angenehmes Wohlbefinden; im Bauch, wo 95 Prozent des Hormons gebildet werden, hilft es bei der Regulation des Immunsystems und der Verdauungsrhythmik. Es wird über die Blutbahn transportiert, im Gehirn wirkt es auf den Hypothalamus, der für die Gefühle zuständig ist. 


Der Reizdarm


Die Botschaften, die eigentlich für den Bauch gedacht sind, können allerdings im Gehirn zu Missverständnissen führen. Nicht nur beeinflussen die Gefühle den Bauch, sondern auch umgekehrt. Wie überall, ist es meist der Stress, der hier für Durcheinander sorgt.

Ein Beispiel dafür ist das Reizdarmsyndrom, das auch als Kommunikationsproblem zwischen Gehirn und Bauch verstanden werden kann. Die Frage ist, wer die falschen Botschaften schickt. Die Ursache liegt in der Darmwand, die in der Lage ist, starke Gefühle von Wohlbefinden aber auch von schweren Schmerzen im Gehirn auszulösen. Ein übersensibles Nervensystem im Bauch neigt zu solchen Überreaktionen und Fehlinformationen, und diese Empfindlichkeit ist das Resultat von Stress oder traumatischen Erlebnissen. Der Darm schickt also Signale an das Gehirn, und dieses bewertet sie und findet sie aufgrund von Vorerfahrungen unerträglich und erzeugt den Druck, dass etwas getan werden muss, um dem Übelstand abzuhelfen.

Forscher haben die große anatomische Ähnlichkeit der beiden Gehirne festgestellt und es wird untersucht, ob die Ursachen für Parkinson und Depressionen im Bauch zu finden sind. Parkinsonerkrankungen sind häufig mit Verdauungsbeschwerden verbunden. Die neuronalen Abbauprozesse sind nicht nur in der Substantia nigra im Gehirn zu beobachten, sondern auch im Darm. Vielleicht beginnt die Krankheit tatsächlich schon an der Peripherie, so die Symptome anfangs noch diffus sind, und erreicht dann langsam das Gehirn. Denn die Schäden der Nervenzellen sind im Bauch gleich wie im zentralen Nervensystem. Die Störungen im Bauch können aber schon 20 Jahre vorher beobachtet werden.


Das Mikrobiom


Wir haben zehn mal mehr Bakterien im Bauch als Zellen im Körper. Damit verfügen wir über mehr bakterielle DNA als menschliche DNA. Die Bakterien tragen 1 – 2 Kg zu unserem Körpergewicht bei und erzeugen 30% unserer Kalorien. Wir können einen großen Teil unserer Nahrung (30 Tonnen Nahrung, 50 000 Liter Flüssigkeit im Lauf des Lebens) ohne Bakterien nicht verdauen. Wir nutzen dann die Energie aus der Arbeit, die sie verrichten. Sie helfen uns zu ermitteln, was brauchbar und unbrauchbar, was giftig und ungiftig ist. Das größte Immunsystem unseres Körpers befindet sich im Darm:  70% der Immunabwehr erfolgt dort. Wenn es uns in diesem Bereich nicht gut geht, leidet nicht nur unsere Verdauung, sondern es ist auch unser gesamtes Immunsystem geschwächt.

Die Bakterien heben die Trennung zwischen Ich und Außenwelt auf: Statt einer Dualität herrscht die Kontinuität. Die Bakterien verarbeiten die Informationen, die wir über die Nahrung zu uns nehmen und stellen sich darauf ein. Wenn wir z.B. Reisen in andere Länder, wo es andere Nahrungsmittel, Hygienevorstellungen und Zubereitungsarten gibt, muss sich unser Mikrobiom umstellen, was wir an Veränderungen in der Verdauung bemerken können. Sobald wir über die Umstellungen unserer Bakterienkulturen die neue äußere Kultur verinnerlicht haben, fühlen wir uns wohl und können die neuen Eindrücke genießen.


Die Bauchatmung


Die Bauchatmung ist der einzige Weg, über den wir bewusst und direkt auf unser enterisches Nervensystem Einfluss nehmen können. Sie verbindet uns mit der Intelligenz und Weisheit unseres Bauches. Wenn wir unser Zwerchfell rhythmisch von oben nach unten und in die Seiten bewegen, wird der gesamte Bauchraum mit all seinen Organen und Geweben in Schwingung versetzt. Wir können damit die autonome Rhythmik im Verdauungskanal unterstützen und dem gesamten Bereich unsere besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen. Der Lohn ist ein angenehm strömendes Bauchgefühl, das uns das Leben voll genießen lässt. 

Unser Bauchbereich ist auch über Hypnose und Selbstsuggestion beeinflussbar, wie Beispiele aus der Hypnotherapie und dem Autogenen Training belegen. Zu den Standardformeln dieser Entspannungsmethode gehört der Satz: „Das Sonnengeflecht ist strömend warm“. Die „Sonne“, die wir dabei im Bauch spüren und visualisieren können, ist unser geschätzter Nervus Vagus.

Von der Hypnose ist bekannt, dass sie in einigen Hirnregionen auf die Schmerzempfindung lindernd einwirken kann. Bei Schmerzen wird der Thalamus, der Hirnstamm, der Inselkortex, der anteriore zinguläre Kortex und der Frontallappen aktiviert. Die hypnotische Suggestion wirkt auf diese Zentren und verringert den Schmerz. Die Botschaft wird an den Bauch zurückgeschickt, dass die Gefahr nicht so groß ist.


Beeinflussung von oben nach unten


Alle Vorgänge, die die Einflussnahme von oben, also vom Haupthirn, nach unten, also zum Bauchhirn stärken, können uns helfen, unsere Selbstheilungskapazitäten zu steigern.  Jeder Ausbau der Top-down-Kontrolle stärkt unsere Autonomie und Freiheit. Wir können bewusster wahrnehmen, was uns guttut und entsprechend handeln.

Ein wichtiger Schritt auf dem Weg dorthin stellt die achtsame Bewusstheit dar. Wir können unseren Eingeweiden immer wieder unsere Aufmerksamkeit widmen, damit wir sie nicht nur dann bemerken, wenn sie Alarm schreien. Auch Kindern sollten wir uns immer wieder zuwenden, nicht nur, wenn sie in Not sind. Die liebevolle Hinwendung zu diesem wichtigen Bereich unseres Körpers kann unserer Gesundheit und unserem Wohlbefinden nur zuträglich sein. 

Die achtsame Beschäftigung mit unserem Bauch kann auch unser Verhalten in sinnvoller Weise beeinflussen, indem wir uns z.B. mehr mit der Weisheit und Erfahrung unserer Bauchorgane beraten, wenn es um die Gestaltung unserer Speisepläne und um die Mengen der Nahrungsmittel, die wir zu uns nehmen, geht. Unsere Essgewohnheiten sind im Kopf entstanden, der entscheidet, was wir essen. Der Darm hat sich diesen Vorgaben angepasst und wirkt dann verstärkend auf die Gewohnheiten zurück: Wenn die Belohnungssysteme in unserem Großhirn auf bestimmte Nahrungsmittel konditioniert sind, z.B. zuckerhältige Softdrinks, dann stellen sich die Darmbakterien auf das Angebot ein, indem spezialisierte Bakterienkolonien gebildet werden. Diese verlangen dann nach der entsprechenden Zufuhr und signalisieren Unruhe ans Gehirn, wenn sie ausbleibt.

Umgekehrt unterstützt uns das Mikrobiom im Darm, wenn wir aus Gesundheitsüberlegungen bestimmte Nahrungsmittel nicht mehr zu uns nehmen. Die darauf spezialisierten Darmkulturen werden abgebaut, das Verlangen nach den entsprechenden Substanzen schwindet und wird durch Abneigung und Ekel ersetzt. Viele Vegetarier berichten, dass sie nach Beendigung des Fleischkonsums eine Zeitlang mit dem Verlangen nach Fleisch konfrontiert waren, aber mehr und mehr durch Neutralität und schließlich durch Abneigung ersetzt wurde – in dem Maß, in dem sich die Bakterienwelt im Darm umgestellt hat.

Schließlich ist die Innewendung und das Gewahrwerden auch der Weg zur Nutzung der Intelligenz und der Weisheit unserer Eingeweide. Auf diese Weise lernen wir zu hören, zu fragen und zu informieren. Wir verstärken den Kommunikationskanal in beide Richtungen: Wir lernen die Signale von unten besser zu verstehen und wir verschaffen uns mit unseren Intentionen Gehör im unteren Bereich. Wie wir die Freundschaften im zwischenmenschlichen Bereich pflegen und vertiefen, können wir auch die Freundschaft mit dem ältesten Intelligenzzentrum unseres Inneren ausgestalten.

Zum Weiterlesen:
Unsere Identität und die Mikrobiome
Der Vagusnerv und die Selbstheilkraft
Aus der zuckersüßen Welt

Mittwoch, 13. Februar 2019

Das Lehren und seine Fallen

Leben kann man auch mit Lernen übersetzen. Denn das Leben entwickelt sich stets weiter und erfordert beständiges Weiterlernen. Fürs Lernen brauchen wir Lehrer, die wissen, können oder verstehen, was wir noch nicht wissen, können oder verstehen. Sie teilen ihre Erfahrungen, Kenntnisse und Einsichten, damit wir sie in unseren Erfahrungsrahmen einbauen können. Sie zeigen uns, wie es geht und wie es nicht geht. Schließlich müssen nicht alle Fehler immer wieder auf die gleiche Weise gemacht werden. 

Lehrer-Schüler-Beziehungen begleiten uns durch unser Leben von den Anfängen bis weit ins Alter. Denn das Lernen endet erst mit dem Sterben, was wir als Letztes lernen. Die ersten Lehrer waren unsere Eltern, und sie haben unsere Einstellungen zum Lernen und zum Schülersein geprägt. Unsere nahezu totale Abhängigkeit von ihnen zu Beginn unseres Lebens hat all die anderen Erfahrungen mit den Grundbedürfnissen in diese Ebene eingespeist. Ob Lernen für uns lustvoll und motivierend ist, hängt auch davon ab, in welcher emotionalen Atmosphäre unser Lernen in den ganz frühen Phasen abgelaufen ist. Von Anfang an lernen wir dort am meisten, wo wir das persönliche Interesse eines anderen Menschen an uns als Person und an unserem Lernfortschritt spüren können. Andererseits können Mängel an Zuwendung und Wertschätzung die Lust am Lernen und inneren Wachsen dämpfen und schwächen. 

All diese Prägungen fließen in unsere spätere Lernkarriere ein und wirken sich darauf aus, welches Verhältnis wir zu Lehrern und Lehrerinnen aufbauen. War Lernen mit Freude und Anerkennung verbunden, erwarten wir das auch von zukünftigen Lehrern. Herrschten dagegen Druck und Kritik beim Lernen in der frühen Kindheit, so entsteht die Neigung, Lehrpersonen mit Widerstand und/oder Unterordnung zu begegnen. Wenn wir viele negative Erfahrungen mit dem Lernen hatten, suchen wir nach positiven Autoritätsfiguren, die die emotionalen Mängel, die aus den frühen Erfahrungen stammen, ausgleichen sollen.

Geistige Lehrer


An dieser Stelle kommen die psychologischen und spirituellen Lehrer aufs Tablet. Sie werden in diese Lücke eingeladen, die in der Kindheit mit der Autorität des Lehrens auf der emotionalen Ebene offen geblieben sind. Wir suchen nach neuen Formen des Lernens, das nicht von Rechthaben und Macht, sondern von der Wertschätzung des individuellen Lernwegs bestimmt sind. Und wir suchen nach neuen Persönlichkeiten, die diese Qualitäten verkörpern.

Aus dieser Perspektive betrachtet, soll ein Lehrer weniger durch seine Kenntnisse und sein Wissen qualifiziert sein als durch seine emotionalen Beziehungsfähigkeiten. Er soll also über Fähigkeiten wie bedingungslose Wertschätzung, Empathie und Authentizität verfügen, Qualitäten, die Carl Rogers als maßgeblich für die Kompetenz eines personzentrierten Therapeuten beschrieben hat. 

Leicht und häufig kann es geschehen, dass eine Lehrerin oder ein Meister zum Fokus der positiven Elternprojektionen wird. Alles, was die Eltern schuldig geblieben sind, soll die neue Lehrerpersönlichkeit abdecken und ausgleichen. Die Schüler wünschen sich einen perfekten Lehrer, weil sie das selber perfekt macht. Ihr Selbstgefühl wird größer, wenn der Lehrer groß ist. So meinen sie, dass alles, was sie geben müssen, die bedingungslose Verehrung des Meisters ist, damit dessen Kraft, Klarheit und Weisheit ungehindert überfließt und sie selbst stärker, klarer und weiser macht. Je reiner und tiefer die Verehrung ist, desto stärker sollte der Rückfluss sein. 

Diese Erwartung ist nicht weiter verwunderlich und einer der Gründe, warum psychologische und spirituelle Lehrer einen regen Zulauf haben. Es ist auch nicht weiter verwerflich, mit solchen Projektionen im Rucksack zu Seminaren, Konferenzen und spirituellen Treffen zu gehen. Niemand ist frei von ihnen, und viele erwarten sich gerade die Befreiung von allen Projektionen, wenn sie sich unter die Fittiche eines Meisters begeben.

Narzisstische Dynamik: Verehrung und Verehrtwerden


Solche Projektionen können nur aufgelöst werden, wenn sich die Lehrerin ihren narzisstischen Tendenzen gestellt hat und die darin verborgenen Wunden geheilt hat. Häufig jedoch klappt an diesem Punkt die Guru-Falle zu. Die Bewunderung, die die Schüler der Lehrerin entgegenbringen, fließt ins Ego zum Zweck der Selbstbestätigung der eigenen Großartigkeit. Die narzisstische Dynamik hat sich entfaltet. Sie verleitet die Schüler zur Verehrung und kritiklosen Bewunderung, die leicht in eine Idealisierung mündet: Schwächen oder Fehler des Lehrers werden übersehen oder umgedeutet – ein Phänomen, das in vielen Schulen, Gruppen und Sekten beobachtet werden kann. Die Illusion des makellosen Meisters muss bestehen bleiben, damit sich das eigene Selbst daran stabilisieren kann. 

Auf der anderen Seite wird die Lehrerin zum Verehrtwerden und zum Baden in der dargebotenen Bewunderung verleitet und zum Übergehen von Lernchancen. Je mehr Bewunderung über sie ausgeschüttet wird, desto weniger wird sie eigene Fehler bemerken. Vielmehr wächst die Neigung, das idealisierte Bild der Verehrer zu bestätigen und zu verstärken. Das unbewusste Zusammenspiel beider Seiten stabilisiert die Dynamik, die nur aufgelöst oder transformiert werden kann, wenn sie erkannt und bearbeitet wird.

Wir alle lernen, aber die Guru-Falle blockiert das Lernen, für den Schüler wie für den Lehrer. Die narzisstische Wunde wird nicht durch Verehrung und bedingungslose Unterordnung geheilt, sondern vertieft. Schüler haben das Recht und können es von sich aus kaum verhindern, dass sie unbewusste und oft sehr mächtige Projektionen auf die Lehrerpersönlichkeit übertragen. Lehrer hingegen haben die Pflicht, so gut wie möglich darauf zu achten, dass sie auf die unbewusste Einladung zum Hochstilisieren der eigenen Grandiosität nicht eingehen. Sie erfüllen ihre Rolle nur, wenn sie die Dynamik durchbrechen und den Schülern dabei zu helfen, sich dieser Tendenzen bewusst zu werden, indem sie deren Innenreflexion und Selbstermächtigung unterstützen. Mit der Stärkung der Selbstakzeptanz lösen sich die Neigungen zu emotionalen Abhängigkeiten auf.  Ein Lehrer, der die Weisheit und Kraft in sich ausreichend gefestigt hat, weiß, dass die Schüler nicht durch die Vorzüge der eigenen Person weiterkommen, sondern durch das in ihnen wirkende Wachstumsmotiv. Er braucht keine Bestätigung durch Verehrung und Bewunderung. Die Hauptquelle der Befriedigung im Lehren liegt im Wohlgefallen am Wachstum der Schüler, und das sollte als Maß für die Neigung zu Bewunderung genügen.

Lehren ist Weitergeben von Empfangenem


Der Lehrer stellt den Rahmen und die eigene Erfahrung zur Verfügung, und innerhalb dieses Raumes entfalten sich die Selbstheilungskräfte und Wachstumsimpulse aus dem Inneren der Schülerin. Alles, was der Lehrer weitergeben kann, hat er von anderer Stelle erhalten. Lehren ist Bekommen und Geben in einem, oder, anders ausgedrückt, ein Weitergeben oder Durchfließenlassen. Keine Lehrerin ist im Besitz der Quelle und damit ihrer Lehrinhalte, vielmehr ist es die Quelle, die alles zur Verfügung steht, damit es möglichst im Geist der Selbstlosigkeit weitergegeben wird. Ihr gilt aller Dank und alle Verehrung. Das gilt sowohl im psychotherapeutischen Prozess als auch im spirituellen Lernen in Meditationsgruppen und Satsangs. Mehr braucht es nicht an Anerkennung für die leitende Person, außer sie hat eine noch nicht aufgelöste narzisstische Tendenz.

Der gesunde Teil in der Dankbarkeit besteht darin, das Geben und die authentische Präsenz der lehrenden Person anzuerkennen. Wer gibt, der soll bekommen, damit das Gleichgewicht hergestellt wird. Spirituell betrachtet: Geben und Nehmen kommen aus dem Ganzen, das über die Personen hinausreicht, doch die Personen danken sich gegenseitig stellvertretend für das Ganze. Jede echte Dankbarkeit, die ohne die Verehrung einer Person auskommt, schwächt den Narzissmus. Es kippt dort ins Ungesunde einer Abhängigkeitsfalle, wo dieses Gleichgewicht einseitig belastet wird und der Unterschied zwischen Lehrer und Schüler unüberwindlich und fixiert erscheint, so als wären die beiden Ebenen des Lehrens und des Lernens durch zwei Klassen von Menschen getrennt. Oben ist der Lehrer in einer anderen Sphäre des Seins, unten das eigene suchende Ich.

Von einer höheren Perspektive aus betrachtet, gilt: Alle Menschen sind gleichermaßen wertvoll und gleichermaßen durchschnittlich. Einer kann dies besser, ein anderer jenes. Einer kann Stabhochspringern, eine andere Integrale ausrechnen oder Beethoven-Sonaten spielen. Einer kann Satsangs geben oder Meditationen leiten, eine andere hat ein tiefes Verständnis für die Probleme anderer. Niemand ist aufgrund seiner persönlichen Fähigkeiten und Leistungen ein besserer Mensch; niemand ist verehrungswürdiger als irgendjemand anderer. Jeder verdient Anerkennung und Wertschätzung für das eigene Wesen, und all das geht ohne narzisstische Verstrickungen.

Samstag, 9. Februar 2019

Serotonin und Lebensfreude

Einer der zahlreichen Kandidaten für den Titel „Glückshormon“ ist das Serotonin. Doch auch in diesem Fall ist es nicht so einfach, wie der Titel verspricht. Denn Serotonin erfüllt eine Reihe von Funktionen in unserem Körper, die nur sehr indirekt mit unserer Glückseligkeit zu tun haben. Dieser Botenstoff wird vor allem (zu 90%) im Verdauungssystem gefunden, obwohl er auch in den Blutplättchen und im ganzen zentralen Nervensystem, und damit auch im Gehirn nachweisbar ist. Aus einigen Forschung kann geschlossen werden, dass das Serotonin im Darm den Vagusnerv stimuliert. Serotonin aus dem restlichen Körper kann nicht ins Gehirn gelangen, weil es die entsprechende Schranke nicht passieren kann. Für die Serotonin-Versorgung im Gehirn dienen die Raphae-Kerne, die mit allen Gehirnregionen verbunden sind.

Serotonin hat auf jeden Bereich des Körpers Einfluss, bis zu den Gefühlen und motorischen Fähigkeiten. Es gilt als Stimmungsstabilisator. Es hilft beim Schlafen (aus Serotonin wird das Schlafhormon Melatonin hergestellt), Essen (Appetitanregung) und Verdauen (Peristaltik).  Es verringert die Neigung zu Depressionen und Angstzuständen, heilt Wunden und hält die Gesundheit der Knochen aufrecht.

Zu den wichtigsten Funktionen des Serotonins im Gehirn zählen die Steuerung oder Beeinflussung der Wahrnehmung über den Augeninnendruck, des Schlafs, der Temperaturregulation, der Sensorik, der Schmerzempfindung und Schmerzverarbeitung, des Appetits, des Sexualverhaltens und der Hormonsekretion. Serotonin fungiert dabei einerseits als Neurotransmitter im synaptischen Spalt, andererseits wird es diffus über freie Nervenendungen ausgeschüttet und wirkt als Neuromodulator. 

Die bekanntesten Wirkungen des Serotonins auf das Zentralnervensystem liegen in seinen Auswirkungen auf die Stimmungslage. Es reguliert das Befinden auf natürliche Weise. Wenn der Serotoninspiegel normal, also weder zu hoch noch zu gering ist, fühlt man sich glücklicher, ruhiger, konzentrierter, weniger ängstlich und emotional stabiler. Gefühle der Gelassenheit, inneren Ruhe und Zufriedenheit überwiegen. Serotonin dämpft eine ganze Reihe unterschiedlicher Gefühlszustände, insbesondere Angstgefühle, Aggressivität, Kummer sowie das Hungergefühl. Impulsivität und aggressives Verhalten werden gedämpft.

Depressionen und Serotonin


Die Rolle des Neurotransmitters bei Depressionen ist nicht wirklich geklärt, weil zum Teil widersprechende Forschungsergebnisse vorliegen. Zwar konnte nachgewiesen werden, dass depressive Menschen einen niedrigen Serotonin-Level haben, doch weiß man nicht, ob dieser die Ursache oder die Wirkung der Depression ist. Der Serotoninspiegel in einem lebenden Gehirn kann nicht gemessen werden und die Forscher wissen deshalb nicht, ob der Spiegel im Blut dem Spiegel im Gehirn entspricht. 

Einige Antidepressiva wirken als Wiederaufnahmehemmer von Serotonin (SSRIs). Diese Medikamente sollen bewirken, dass mehr Serotonin im Gehirn im Umlauf bleibt. Eine neuere Theorie legt nahe, dass SSRIs bei der Produktion neuer Gehirnzellen mitwirken und deshalb einen positiven Einfluss auf Stimmungen haben können. Stress als häufiger Vorläufer der depressiven Erkrankung könnte die Neuproduktion von Gehirnzellen unterbinden, während die SSRIs die gegenläufige Entwicklung in Gang setzen, wodurch dann die Depressionen gemildert werden. 

SSRIs haben bei schwer depressiven Patienten eine stärkere Wirkung als Placebos, allerdings das auch nur bei ca. 20%. Die wirksamste Behandlung stellt eine Kombination von Medikamenten mit Psychotherapie dar, in der die Patienten lernen, besser mit Gedankenmustern umzugehen und Veränderungen in Alltagstätigkeiten vorzunehmen. Dabei könnte die Tatsache helfen, dass Serotonin das Lernen fördert. Ob SSRIs bei milden bis mittelgradigen Depressionen helfen, ist trotz zahlreicher Studien nicht eindeutig belegt.

Serotonin kann weiters noch eine Rolle bei folgenden Störungen oder Erkrankungen spielen: Zwangsstörungen, posttraumatische Belastungsstörungen, Phobien und Epilepsie. Ein zu hoher und zu niedriger Serotoninspiegel wurde mit Herzkrankheiten, Osteoporose und dem schmerzhaften Blasensyndrom in Verbindung gebracht. 

Machen Bananen und Schokolade glücklich?


Können wir über unsere Nahrung die Serotoninproduktion und -ausschüttung beeinflussen? Die essentielle Aminosäure Tryptophan, aus der Serotonin gebildet wird, kommt zwar in einigen Lebensmitteln (Käse, Geflügel, Eier, Sojaprodukte, Seetang, Kiwis, Bananen, Ananas, Tomaten, Walnüssen oder Kakao) vor, kann aber die Blut-Hirnschranke nicht überwinden. Deshalb enthält also kakaohaltige Schokolade ebenfalls Serotonin.  Die stimmungsaufhellende Wirkung von Schokolade ist aber nicht auf das darin enthaltene Serotonin, sondern auf den hohen Kohlenhydratgehalt zurückzuführen. Serotonin kann die Blut-Hirn-Schranke nicht überwinden. Es kann also über die Nahrung nicht ins Gehirn gelangen. Kohlenhydratreiche Nahrung stimuliert jedoch – über eine Reihe von Zwischenschritten – die Serotoninbildung im Gehirn. Das Gehirn hat also nichts von tryptophanreicher Nahrung, vielmehr kommt es auf den Kohlenhydratgehalt an, wenn wir unser Essen für eine Serotoninsteigerung nutzen wollen. Eiweißreiche Lebensmittel haben eine ganze Palette von Aminosäuren, die untereinander in Konkurrenz stehen, wenn es darum geht, ins Gehirn aufgenommen zu werden. 

Glücksbringer Sport


Einfacher und kalorienärmer ist der Zusammenhang zwischen Serotonin und Bewegung: Studien an Menschen und Tieren haben gezeigt, dass sportliches Ausdauertraining den Serotoninspiegel heben kann. Denn durch körperliche Betätigung wird die Verfügbarkeit der Aminosäure Tryptophan, der Serotonin-Vorstufe, im Gehirn erhöht. Das ist einer der Gründe, warum wir uns nach sportlicher Anstrengung besonders wohl fühlen. Regelmäßige sportliche Aktivität kann also dauerhaft den Serotoninspiegel erhöhen und damit ein vorbeugender Faktor gegen alle Störungen sein, die mit Serotoninmangel in Verbindung gebracht werden.

Gründe für den Serontoninmangel


Wieder begegnen wir dem Stress als Haupttäter für Mangel an dem Hormon. Längere Phasen von Stress können die Serotoninspiegel sinken lassen. Unsere schnelllebige Zeit mit der schnellen Nahrung (fast food) bringt viele Systeme unseres Körpers ins Ungleichgewicht, sodass es auch zu Unregelmäßigkeiten bei der Serotoninversorgung kommt. 

Störungen im Stoffwechsel und andere Verdauungsprobleme können den Abbau und die Absorption der Nahrung behindern, wodurch die Serotoninproduktion in Mitleidenschaft gezogen werden kann.  Alle Neurotransmitter werden aus Proteinen hergestellt, und dazu werden verschiedene Vitamine und Mineralstoffe als „Kofaktoren“ benötigt. Wenn es unserer Nahrung an diesen Stoffen mangelt, kommt es zu Ungleichgewichtigkeiten bei der Neurotransmitterproduktion. Außerdem können Schwermetalle, Pestizide, Drogen und auch bestimmte Medikamente die Nervenzellen dauerhaft beschädigen, die für die Serotoninherstellung zuständig sind. Koffein, Nikotin und Alkohol, NutraSweet, Antidepressiva und einige Medikamente, die Cholesterol verringern, stehen im Verdacht, den Serotoninspiegel zu verringern. 

Serotoninfreundlich leben


Der Umkehrschluss lautet: Mit einer ausgeglichenen Lebensweise, die dauerhaften Stress vermeidet, ausreichend Bewegung beinhaltet und mit gesunder Ernährung verbunden ist, tragen wir zu einer ausreichenden Versorgung unseres Körpers und Gehirns mit dem wichtigen Neurotransmitter bei. Dieser versorgt uns mit Wohlgefühl und Gelassenheit, wodurch wir mit den Herausforderungen des Lebens lockerer umgehen können. Wir sehen also, dass wir durch die Ausrichtung unserer Lebensweise auf die wichtigsten Parameter der Gesundheit einen Regelkreis in Gang setzen, der uns ruhiger und glücklicher macht und dazu motiviert, noch bestimmter und leichter in diese Richtung zu gehen. Leben wir serotoninfreundlich, so werden wir mit Serotonin zu Lebensfreunden.

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