Montag, 20. Januar 2014

"Alles ist bestimmt"

"Alles ist bestimmt", so lautet ein Satz, den spirituelle Lehrer, vor allem aus der Advaita-Tradition, gerne verwenden. "Alles ist gut so, wie es ist, und alles muss so geschehen, wie es geschieht, weil es so vorgesehen ist."

Was hat dieser Satz, über eine Tautologie hinaus, zu sagen? Wenn alles so sein muss, wie es ist, so heißt das, dass es nicht anders sein kann, was ja, nachträglich betrachtet, immer stimmt, und deshalb ein leerer Satz ist. Die Sonne geht auf, weil es so bestimmt ist. Was sagt das mehr aus, als wenn wir bloß feststellen, dass die Sonne aufgeht?

Erst wenn wir uns am Lauf der Dinge stoßen, wenn wir aus irgendeinem Grund nicht wollen, dass die Sonne aufgeht, z.B. weil wir als Vampir noch zu weit von unserer Ruhestätte entfernt sind, oder weil wir mit dem Morgengrauen aufstehen müssen und noch lieber im Bett blieben, erst dann mahnt uns der Satz, dass wir gegen bestimmte Abläufe in der Wirklichkeit keine Chance haben.

Es ist unser Ego, das mit dem Satz besänftigt werden kann. Es will die Welt nach seinen Vorstellungen gestalten, es will ihr seinen Willen überstülpen. Es leidet darunter, wenn uns etwas Unvorhergesehenes oder Schicksalhaftes trifft. Dann braucht es einen Trost und eine Hilfe, um sich mit dem Unabwendbaren zu versöhnen.

Die Wirklichkeit macht, was sie will, ohne uns zu fragen. Unsere Einflusssphäre ist winzig klein im Vergleich zu dem, was völlig unserer Kontrolle entzogen ist. Das Wetter entwickelt sich unabhängig von meinen Ausflugsplänen, die Regierung beschließt Gesetze, die mir nicht sinnvoll und gerecht erscheinen, auf der Welt werden Kriege geführt, obwohl ich das schrecklich finde, Menschen (und wir selber auch) werden krank, auch wenn es besser wäre, gesund zu bleiben, und allzu viele haben zu wenig zu essen, wie sehr ich das auch bedauere.

Spiritueller Zynismus


Ist es angesichts des mannigfaltigen Leides auf der Welt, angesichts des elementaren Mangels, in dem die meisten Menschen auf dieser Erde leben, nicht zynisch zu sagen, dass alles so bestimmt ist, wie es ist, dass eben die Armen arm und die Reichen reich sind, dass die einen am Zuviel-Essen und die anderen am Zuwenig-Essen sterben?

Es ist auch bestimmt, dass wir es zynisch finden, wenn wir es zynisch finden, dass jemand angesichts von Katastrophen und elendiglichen Lebensumstände davon redet, dass alles so bestimmt sei. Und bestimmt ist auch, dass wir uns dafür einsetzen (wenn wir das tun), dass sich die Ungerechtigkeiten und Unmenschlichkeiten auf der Welt verringern. Es ist bestimmt, dass wir über ein Gewissen verfügen, das uns daran erinnert, dass unsere eigenen Handlungen Auswirkungen auf das Wohlergehen anderer haben, und dass wir Verantwortung nicht nur für unser eigenes Leben, sondern darüber hinaus noch für die gesamte Welt haben - mit unserem vergleichsweise winzigen Anteil, der aber auch der einzige ist, über den wir verfügen können.

Kritik an der Wirklichkeit


Das, was ist ("weil es dazu bestimmt wurde, so zu sein"), ist nicht verdammt dazu, so zu bleiben, wie es jetzt gerade ist. Es gilt, das, was in unseren Kräften steht, zu mobilisieren, Änderungen der Wirklichkeit in Gang zu bringen, in eine Richtung, die uns als besser und menschenwürdiger erscheint. Deshalb ist es wichtig, an dieser Wirklichkeit immer wieder Kritik zu üben, indem wir sie an den Standards eines evolvierten und evolvierenden Bewusstseins messen. Und deshalb ist es wichtig, die kreative Fantasie zu entwickeln, die es braucht, um neue Kräfte ins Spiel zu bringen, die verkehrten und verfahrenen Situationen dieser Wirklichkeit aus ihren Verengungen herauszuführen. Auch dann sind wir in Übereinstimmung mit dem, was gerade ist.

Insofern lässt uns das Wort von der Bestimmtheit nicht einfach in Frieden, fast scheint es, als wären wir von ihm eingesponnen wie von einem Spinnennetz. Wir brauchen uns allerdings nicht permanent auf seine reflexive Spitzfindigkeit einlassen. Es genügt, wenn wir die Gedankenoperation an Schlüsselpunkten unseres Lebens aktivieren und uns ins Bewusstsein rufen, dann eben, wenn uns das Schicksal aus der Bahn zu werfen droht.

Gibt es Bestimmer der Bestimmung?


Wer bestimmt, was bestimmt ist? Wir müssen für die Instanz, die die Geschicke der Dinge lenkt, nicht unbedingt ein göttliches Wesen annehmen. Sollte dieses für nichts anderes gut sein als für ein monotones tautologisches Geschäft, gewissermaßen für eine permanente affirmative Verdoppelung dessen, was gerade abläuft? Wie ein alter Herr, der hinter den Geschehnissen nachläuft und dabei dauernd kundtut: "Genau so wollte ich es, genau so habe ich es bestimmt." Wir brauchen auch keine Idee der Vorherbestimmtheit, der Prädetermination, die Idee einer gigantischen Intelligenz, die alle Vorgänge des Weltgeschehens von seinen Anfängen bis in alle Zukunft vorausgeplant hat. Das sind nur Gedankenspielereien, die dem Satz von der So-Bestimmtheit all dessen, was ist, eine besondere Mächtigkeit und gravitätische Würde verleihen sollen, die er in seiner Einfachheit und für seine Wirksamkeit gar nicht braucht.

Wir können vielmehr vom einfacheren Ausgangspunkt starten, dass die Wirklichkeit, so wie sie wirkt, die Ereignisfolgen bestimmt, in unserem Inneren wie in der kleinen und der großen weiten Welt um uns herum. Das, was ist und wird, ist und wird die Wirklichkeit, die nicht anders sein kann, als sie ist. Das erleben wir im Grund auch so, im Wach- wie im Schlafzustand, und in vielen Momenten des Lebens - außer eben, es kommt etwas Heftiges in uns hoch, das sich zwischen uns selbst und diese Wirklichkeit drängt, wodurch wir uns vom Dahinfließen dieses Lebens abkoppeln, weil wir ihm unsere Zustimmung versagen. Wann immer wir das tun, tun wir das nicht freiwillig, sondern es unterläuft uns, weil uns unsere eigene Agenda dazwischenkommt, das, was wir aus unserer Selbstvollkommenheit als passend vorgesehen hatten und weil wir in diesem Moment gerade nicht Kraft und Bewusstheit aufbringen können, die es brauchen würde, zu akzeptieren, was ist.

Vielmehr bleiben wir in der Kurzsichtigkeit stecken, die uns nur sehen lässt, dass etwas quertreibt, ohne uns um Erlaubnis zu fragen. Um uns wieder einzukriegen, sagt uns dann jemand oder etwas in uns: "Es war eben genau so bestimmt, was geschehen ist, es sollte genau so geschehen." Dann können wir aufwachen und wieder den Einklang mit der Wirklichkeit und ihren Abläufen suchen.

Ich kann eine kleine Erfahrung zu dieser Wirkung beisteuern. Nachdem ich den obigen Text am Flughafen vor dem Boarding geschrieben und korrigiert habe, habe ich mich während des folgenden interkontinentalen Nachtfluges mehrfach daran erinnert – wenn mich etwas in der Umgebung gestört hat oder kein Schlaf kommen wollte oder die Knochen zu schmerzen begannen. Der Satz: „Alles ist bestimmt so“ ist gekommen, und schon war Frieden im Inneren. Und irgendwann wusste ich dann nicht mehr, wo die Stunden hingekommen waren, als ich kurz vor der Landung auf die Uhr schaute.

Beziehungsunterbrechung mit der Wirklichkeit


Woran wir leiden, sind ja nicht die einzelnen Prozesse, die die Wirklichkeit ausmachen, sondern unsere Einschätzung dieser Prozesse. Unsere inneren Bewertungsvorgänge entscheiden, ob uns die Vorgänge um und in uns gefallen oder gegen den Strich gehen, ob sie uns erfreuen, wie beim Gewinnen eines Wettspiels, oder uns in unseren Grundfesten erschüttern, wie beim überraschenden Tod einer nahestehenden Person. Wir haben uns die Welt so oder so in unserem Kopf eingerichtet, und sie hat so zu sein und sich so zu verhalten, wie es diesem Szenario in uns entspricht; im besten Fall sollten sie unsere „kühnsten Träume“ noch übertreffen. Sobald aber die Entwicklung gegen unsere Pläne verläuft, wird unsere Beziehung zur Wirklichkeit unterbrochen.

Niemand außer uns selbst kann diese Unterbrechung reparieren. Wir müssen uns klarmachen, dass es in unserer Verantwortung lag, den Kontakt zur Wirklichkeit zu verlieren, auch wenn es nicht unsere Absicht war. Wir müssen aufhören, andere oder die Wirklichkeit als Ganze dafür verantwortlich zu machen, weil wir damit jeden Einfluss auf unser eigenes Wohlbefinden abgeben und uns davon abhängig machen, dass die Wirklichkeit zufällig irgendwann wieder mit unseren Vorstellungen in Einklang kommt.

"Es ist alles bestimmt, wie es kommt", der Satz erinnert uns wieder daran, dass die Wirklichkeit darauf wartet, dass wir wieder mit ihr mitgehen, statt trotzig unseren eigenen Weg einzufordern. Wir können in jedem Moment die innige Beziehung mit dem Leben, das wir sind und das durch uns fließt, wieder aufnehmen und damit genau die Bestimmung leben, die uns bestimmt ist.

Sein und Sollen


“Alles soll so sein, wie es ist.” Ein Missverständnis gibt es noch zu klären. Wie oben schon gesagt: Das „Sollen“ bedeutet hier nicht, dass alles, was ist, in einem ethischen Sinn auch gut ist, dass es also einem ethischen Sollen entspricht. Es heißt vielmehr, dass die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, der Zusammenklang von Welt und Selbst etwas Gutes ist, weil wir dadurch zu innerem Frieden und Klarheit kommen, und weil es Leiden schafft, wenn beides auseinander fällt.

„Alles soll so sein, wie es ist“, will also heißen: „Mit allem, was geschieht, sollst du übereinstimmen, mit allem sollst du sein. Du sollst aber nicht allem zustimmen, was ist und geschieht und du musst nicht alles davon als gut einschätzen.“

Samstag, 11. Januar 2014

Geschlossene Systeme und ihr Zentrum


Geschlossene Systeme kreisen um ein Zentrum. Darin befindet sich etwas, das nicht in Frage gestellt, kritisiert oder verändert werden darf und kann. Das Zentrum wird absolut gesetzt und der relativen Sphäre entzogen. Es wird mit einer Sphäre des Glaubens umgeben. Das Wissen endet an der Schwelle zum Zentrum, Zutritt zu ihm hat nur, wer bedingungslos glaubt.


Zentren in den Religionen


Bei den Offenbarungsreligionen befindet sich die Offenbarung im Zentrum. Dort hat Gott zu Menschen gesprochen, und das, was er da gesagt hat, gilt absolut, darf also keiner Relativierung ausgesetzt werden. Bei (anderen?) Sekten ist es häufig das Wort des Sektengründers oder der Gründerin, das kritiklos akzeptiert werden muss. Und wenn er aus seiner höheren Eingebung befiehlt, dass sich alle Gruppenmitglieder umbringen müssen, dann wird dem auch kritiklos Folge geleistet.

Im geschlossenen System ist also das Zentrum absolut gesetzt, und alles herum ist relativ, auf das Zentrum bezogen. Das Zentrum entscheidet, was richtig und was falsch ist, und diese Entscheidungen gelten absolut. Das Zentrum ist vollkommen, und alle außerhalb davon ist unfertig und fehlerhaft. Meist gilt auch: Je näher jemand dem Zentrum kommt, desto näher kommt sie der Vollkommenheit. Wer sich daran hält, kann Karriere machen (z.B. im geschlossenen System einer Diktatur), wer sich nicht daran hält, muss mit schlimmen Konsequenzen rechnen (z.B. ein längerfristiger Aufenthalt in der Hölle im Fall des Christentums oder Islams). 

Das Zentrum generiert die Regeln, die das geschlossene System geschlossen halten, obwohl sich die Zeit weiterbewegt und dauernd neue Einflüsse auf das System einwirken. In der katholischen Kirche galt der Satz: "Roma locuta, causa finita." - Wenn Rom gesprochen hat, ist der Fall abgeschlossen. Innerhalb des geschlossenen Systems dürfen so lange unterschiedliche Meinungen vertreten werden, darf es also so lange offene Systeme geben, bis das Zentrum gesprochen hat, was die Wahrheit ist, dann müssen alle den Mund halten und gehorchen. Die Geschlossenheit ist wieder hergestellt.

Für die katholische Kirche gilt also Rom und damit der Papst (als Stellvertreter von Jesus Christus auf der Erde) als Zentrum. Er wurde ja im 19. Jahrhundert mit der Gabe zu unfehlbaren Lehrmeinungen betraut. Aus diesem Zentrum fließen alle Regeln, die der Gläubige für sein Leben braucht, um sich in den richtigen Bahnen zu bewegen. Jeder neue Einfluss muss geprüft werden und wird entweder gebilligt oder verworfen. Deshalb gab es einen Index mit verbotenen Büchern, Dogmen, die dadurch definiert waren, dass jeder als Ketzer gilt, der nicht an sie glaubt, Verfahren gegen Angehörige der eigenen Kirche, die abweichende Meinungen vertreten, Verurteilungen von Gedanken oder Ideen, die außerhalb der Kirche entstanden sind und vor denen die Gläubigen gewarnt werden müssen - defensive Maßnahmen mit dem Zweck der Absicherung der Geschlossenheit. 

Diese riesige Aufgabe kann natürlich angesichts einer Welt, die immer komplexer wird, nicht mehr erfüllt werden. Deshalb scheint es, dass der neue Papst eine neue Richtung gewählt hat, sich mehr um die Anliegen der Menschen, vor allem der Benachteiligten, zu kümmern als um die Einhaltung von Lehrmeinungen, eine Richtung, die mehr Offenheit verspricht.

Gegen den Zentralismus der römischen Kirche, der ja auch das Zerwürfnis mit dem osteuropäischen Christentum bewirkt hat, ist auch Martin Luther aufgetreten. Es war ein Anliegen der Reformation, das römische Zentrum mit dem Papsttum aufzusprengen und durch das alleinige Zentrum der schriftlichen Ofenbarung zu ersetzen. Luther versprach sich durch die Etablierung einer abstrakteren Zentrumsidee mehr Öffnung, schuf aber keinen grundsätzlichen Ausweg aus der Geschlossenheit. Deshalb kam es zu einer enormen Aufsplitterung der Kirchen in diesem Sektor des Christentums, wobei jeweils das Ziel verfolgt wurde, einer bestehenden Zentrumsbildung durch die Bildung eines neuen Zentrums des "noch wahreren" Christentums zu entkommen. Offenbar ergab sich dadurch die Dynamik, dass, je kleiner das System wurde, das Zentrum umso absoluter gesetzt werden musste, sodass sich die engsten christlichen Fundamentalismen gerade in diesen evangelischen oder evangelikalen Teilkirchen finden. (vgl. Kreationismus).


Politischer Zentralismus


Auch im Bereich der Politik wird mit sakrosankten Zentren operiert. Viele politische Bewegungen versammeln sich um eine zentrale Idee, die für unantastbar erklärt wird. Um sie zu verwirklichen, wird mit allen Mitteln gekämpft, da ja der Zweck die Mittel heiligen soll. Ein Beispiel dafür lieferte Robespierre, der am Höhepunkt der französischen Revolution den Kult der Vernunft ausgerufen hat. Wer als Bedrohnung für diesen höchsten Wert angesehen wurde, wurde gnadenlos der Todesmaschinerie überantwortet. 

Ein einfacher Blick auf die Krisen- und Kriegsgebiete der heutigen Welt zeigt nicht nur die massiven und bedauernswerten Lebensvernichtungen, Zerstörungen und Entmenschlichungen, die dort stattfinden. Es zeigt sich auch leicht das Zentrum der jeweiligen Ideologie, die hinter dem Treiben der Konflikt- und Kriegsparteien als Zündkraft steckt. Manchmal sind in diesen ideologischen Zentren die historischen Fäden so dicht versponnen, dass sie sehr komplex wirken. Im Grund dreht es sich um Überlebensängste, aus denen die jeweilige Ideologie den einzig möglichen Ausweg verspricht und zu der sie den hauptsächlichen Widerpart und Erzgegner benennt, der bekämpft werden muss.

Als Beispiel aus der österreichischen Innenpolitik zeigen sich bei der Frage nach der Reform der Schulorganisation unübersehbar die ideologischen Festlegungen, die als wichtiger angesehen werden als alle inhaltlichen Erfordernisse einer zeitgemäßen Schulbildung. Bevor ein Wert in diesem Zentrum ausgegeben oder auch nur neu definiert wird, wird alles darangesetzt, um den gegenwärtigen Zustand einzumauern.


Sinnfindung ohne Zentrum


Auch im kleineren Rahmen einer immer pluraler werdenden Welt der Sinnangebote spielt diese Zentrumsbildung immer wieder eine wichtige Rolle. Zwar treten viele dieser Ansätze mit dem expliziten Anspruch der Öffnung an, übersehen aber allzu leicht die eigenen zentralen Vorannahmen und Festlegungen, die der Erfahrung, in der der Sinn gefunden werden soll, entzogen bleiben und statt dessen geglaubt werden müssen. Der Bogen reicht hier von Richtungen der Lebenshilfe, Psychotherapie zu den unterschiedlichen Schulen und Bewegungen, die es im esoterischen und spirituellen Bereich gibt. 

In der Psychotherapie sind es oft die Gründungspersönlichkeiten, deren Anliegen und Ausführungen wie ein Heiligtum im Zentrum aufbewahrt werden und an denen alles, was sich erneuern möchte, erst messen muss. Auch gibt es Leitkonzepte, die ein Therapeut einmal übernommen hat, weil sie ihm selber geholfen haben, und die er dann bei jeder Klientin anwendet, ohne darauf zu achten, ob sie passen oder nicht. Deshalb ist die fortlaufende Selbstüberprüfung wichtig, um die Therapie ideologiefrei zu halten. Der Leitsatz, gemeinsam mit jedem Klienten eine neue Therapie zu erfinden, hilft, aus der Tendenz zu geschlossenen Konzepten herauszuführen, weil er zur beständigen Offenheit für die Erfahrung im Moment ermutigt.

Die esoterische Szene ist geradezu dadurch definiert, dass sie ihre Anhänger mit versteckten Zentrumsideen gewinnt. Traue deiner Erfahrung, aber glaube alles, was drumherum als Erklärung angeboten wird. Wenn du eine gute Erfahrung gemacht hast, dann erkärt dir das jeweilige System, welchem Engel, Außerirdischem oder Aufgestiegenem du sie zu verdanken hast. Solltest du Zweifel an den entsprechenden Zentren der Lehre hast, wird an dir ein Mangel an Reife und Bewusstheit diagnostiziert, wofür das Zentrum auch die rechte Abhilfe anbieten kann.

Spirituelle Lehrer sollten sich von esoterischen Angeboten dadurch unterscheiden, dass sie ihre Schüler zur konsequenten Eigenerforschung anleiten. "Suche nach dem, was für dich im Innersten stimmig ist und befreie dich von allen Modellen und Konzepten." Solche Anregungen sind offen, weil sie nicht vorgeben, was das Ergebnis der Erforschung sein soll, sondern der Innenerfahrung der Schülerin jede Freiheit lassen.

Allerdings haben viele spirituelle Lehrer ein "Allerheiligstes", einen Kern ihrer Lehre, und häufig fordern sie von ihren Anhängern die Übernahme ihrer Konzepte, ohne dass sie bereit sind, die Zentren ihrer Anschauungen preiszugeben. Dort, wo sich innerhalb von spirituellen Bewegungen oder Gruppen Abhängigkeiten und Machtthemen entstehen, steckt ein unterschwelliges Zentrum dahinter, um das gekämpft wird.

Wenn wir uns auf ein systemisches Bewusstsein einlassen, stellen wir uns der Herausforderung, zu lernen, ohne absolutgesetzte Zentren zu leben. Wir erkennen dann die Wichtigkeit, solche Zentren innerhalb der geschlossenen Systeme, die uns begegnen, ausfindig zu machen, zu benennen und Alternativen zu entwerfen, die ohne Zentrum auskommen. Wir sind zwar daran gewöhnt, dass wir für unsere innere und äußere Sicherheit etwas brauchen, was sich nicht verändert, was immer gilt und was uns für jede Situation eine Orientierung vorgibt. Wir haben aber auch die Kraft und die innere Stärke, die Illusionen zu durchschauen, die uns solche scheinbar sicheren Orientierungspunkte und Kernkonzepte zu geben vermeinen. Jede dieser Illusionen, die wir verabschieden können, tauschen wir gegen ein wertvolles Stück innerer Freiheit ein.

Sackgasse Fleischkonsum


Aus einem Bericht der Organisationen Heinrich-Böll-Stiftung, die Umweltorganisation Bund und Le Monde Diplomatique: Prognosen zeigen, dass die weltweite Fleischproduktion von heute 300 Millionen auf 470 Millionen Tonnen im Jahr 2050 erhöht werden muss. Denn in den Schwellenländern wird immer mehr Fleisch nachgefragt. Die Auswirkungen auf die Umwelt dieser Entwicklung sind drastisch: Es wird zu einem enorm wachsenden Flächenverbrauch für Futtermittel komen müssen. Um den erwarteten Konsum zu stillen, müssen sich allein die Produktion von Sojabohnen von derzeit 260 auf weltweit 515 Millionen Tonnen fast verdoppeln, heißt es. Es sei derzeit "nicht abzusehen", wie all die Tiere in den entstehenden Massentierhaltungsbetrieben ernährt werden sollen, kritisiert der Bericht.

Die BUND-Agrarexpertin Reinhild Benning warnte vor den negativen Folgen einer drastisch höheren Fleischproduktion für die Umwelt. Demnach werden mittlerweile 70 Prozent aller Agrarflächen der Erde von der Tierfütterung beansprucht. Das habe fatale Folgen für Regenwälder, Böden und Gewässer, etwa durch die Belastung mit Pestiziden. Außerdem würden die Preise für Grundnahrungsmittel wegen knapper werdender Agrarflächen steigen. Für die Viehhaltung in der EU werden aktuell 16 Millionen Hektar Sojabohnenfelder benötigt, ein großer Teil davon in Entwicklungsländern.
(Quelle mit Grafiken: standard.at)

Wieder einmal erreicht uns eine drastische Nachricht zu einem Bereich, in dem das Schicksal der Menschen und unserer Umwelt ganz eng verflochten sind. Je mehr Fleisch WIR essen, desto mehr Umweltzerstörung findet statt und desto mehr Menschen müssen hungern. Das einzige Argument, das die Fleischesser vorbringen können: "Mir schmeckt es eben" ist dagegen dürftig und offenbart die egoistischen Wurzeln des Übels.

Natürlich hilft der moralische Zeigefinger nicht. Was vielleicht helfen kann, ist, dass wir uns immer wieder die Faktenlage vor Augen halten: Fleischessen ist in vielfältiger Weise schädigend; durch einen Verzicht auf Fleischkonsum können wir einen wirksamen Beitrag zum Umwelt- und Tierschutz und zur Hungerbekämpfung sowie zu unser eigenen Gesundheit leisten. Wir haben es durch unser Verhalten in unseren Händen. Grundsätzlich ist jeder Verzicht ein Betrag zur Trendumkehr, ob jemand, der bisher viel Fleisch gegessen hat, weniger isst, ob jemand zum Vegetarier oder Veganen wird. Wichtig ist, dass wir in unserem Konsumverhalten bewusst bleiben, sodass wir zulassen, dass bei unserem Essen die Welt, die erste, zweite und dritte, mit am Tisch sitzt.

Wer zu dem Schritt bereit ist, sich selbst als Vegetarier oder Veganer zu definieren, macht es sich insoferne leichter, als er oder sie eine neue Rolle übernimmt. Sie führt uns heraus aus der Fleischkultur, die in unserer Gesellschaft fest etabliert ist ("Iss was gscheids"=Fleisch) und setzt einen Kontrapunkt zu den Unbewusstheiten, die mit diesen kulturellen Gewohnheiten verbunden sind. Sie macht uns sicher in diesem Bereich unserer Identität und verhindert, dass sich die alten Gewohnheiten wieder einschleichen: Ein Bericht, der uns zum Herzen geht und unser Gewissen rührt, bringt uns vielleicht dazu, ein paar Tage kein Fleisch zu essen. Dann erlauben wir uns wieder die Wurstsemmel, und bald sind wir auf dem früheren Niveau des Konsums zurück. So fest hat uns unser Gewohnheitsverhalten im Griff. 

Wenn wir eine bewusste Entscheidung getroffen haben, die mit unserer Identität zu tun hat, dann können wir höchstens diese Entscheidung revidieren, was einen größeren inneren Aufwand erfordert, oder allenfalls da oder dort einen kleinen Rückfall erleben. Mit einer bewussten Entscheidung haben wir unsere Gewohnheiten fester unter Kontrolle und können neue aufbauen, beim Einkaufen, Essen, bei Einladungen und Festen usw. Je mehr wir auch unsere Freunde und Kollegen von unserer Entscheidung informieren, desto stärker fühlen wir uns mit ihr und desto leichter bleiben wir bei ihr. Nach einiger Zeit fällt die Überwindung weg, die von dem Gefühl gespeist wird, auf etwas Angenehmes und Wohlschmeckendes zu verzichten. Bald beneiden wir niemanden mehr, der Fleisch isst, sondern freuen uns, dass wir von einem selbst- und sozialschädlichen Verhalten losgekommen sind und die Köstlichkeiten der vegetarischen Küche genießen können. Die Lust auf Fleisch schwindet gegen Null und die Oma hat sich auch schon daran gewöhnt, bei unserem Besuch statt der Schnitzel die Melanzani zu panieren.

Freitag, 10. Januar 2014

Evolution und Zufall


Im 19. Jahrhundert galt die Entdeckung von Charles Darwin, dass die Menschen "von den Affen" abstammen, als Affront und Kränkung für die menschliche Selbstbespiegelung. Nun haben wir, die westlich-.aufgeklärten Menschen des 21. Jahrhunderts diese "Beleidigung" schon längst akzeptiert, und die meisten Zeitgenossen haben kein Problem mit der Theorie der evolutionären Entwicklung der Arten.

Allerdings haben wir die Evolutionstheorie noch nicht zur Gänze verdaut. Schließlich nehmen wir gerne an, dass sie ein zielgerichtetes Geschehen beschreibt, in dem sich eine Entwicklung von niedrigen Lebensformen zu höheren vollzieht und schließlich im Menschen als dem komplexesten und höchsten Lebewesen, als "Krone der Schöpfung" kulminiert. Soweit könnte sie der Vorstellung von einer Welt der fortschreitenden Entwicklung zu einem von einer höheren Intelligenz von Anfang an so gewollten Zweck entsprechen. Wir können uns in einer dergestalt intelligent designeten Welt zuhause fühlen, weil sie unseren Platz als am weitesten entwickelter Lebensform die Berechtigung gibt, die Welt im Ganzen mehr und mehr zu dominieren, indem wir sie unseren Zwecksetzungen unterordnen. Wenn nämlich der Mensch der Endzweck der Schöpfung ist mit seiner vom freien Willen gelenkten und seiner Intelligenz  entworfenen Lebenskunst, dann ist jede Form der Beherrschung der vormenschlichen Natur letztlich Teil des vorgesehenen Planes der Schöpfung. 

Weniger sicher und selbstbewusst stehen wir da, wenn wir, wie es der Stand der Wissenschaften ist, davon ausgehen, dass die Evolution ein von Zufällen gesteuerter Vorgang ist, in dem vorher nicht genau absehbar ist, was nachher rauskommt. Wir sind dann nämlich selber nicht in dieser Großartigkeit gewollte und geplante Geschöpfe, sondern Naturprodukte, die Beachtliches zustande bringen können, aber das nur im Rahmen der Möglichkeiten, die uns diese unsere Natur einschließlich unseres Gehirns zugesteht. Was darüber hinaus wünschenswert wäre, ist unerreichbar, und in Anbetracht der großen Zeiträume, die die Evolution benötigt, um ihre Veränderungen zu implementieren, ist es auch unabsehbar, wann es überhaupt zu einer grundlegenden Veränderung kommen könnte, wie z.B. jener zwischen den Prähominiden und den Hominiden oder jener zwischen Neandertalern und Homo sapiens. Auch ist prinzipiell nicht einmal abschätzbar, ob eine solche Veränderung in der genetischen Substanz im Sinne unserer gegenwärtigen Bewertungen und Idealvorstellungen positiv oder negativ ausfallen würde.

Wir sind also "in dieses Dasein geworfen" mit diesem unserem intellektuellen und emotionalen Potenzial, auf diesem Planeten in diesem Sonnensystem. Ohne einen Schöpfergott im Rücken stehen wir erst recht vor der Herausforderung, aus dem, was wir mitbekommen haben, zu machen, was uns möglich ist, um das Überleben des Lebens auf diesem Planeten zu gewährleisten, viel mehr, als wenn wir überheblich und großspurig davon ausgehen, dass wir genau so geplant und gewollt sind wie wir als Menschen sind. Sind wir Zufallsprodukte einer blind agierenden Evolution, so haben wir gerade deshalb die volle Verantwortung zu tragen für das, was wir machen, ohne Ausrede auf eine höhere Intelligenz, die uns eben dazu eingesetzt hat, "uns die Erde Untertan zu machen". Denn die Evolution hat uns mit dieser Gabe zur Reflexion und diesem Sinn für Verantwortung für das, was wir tun, ausgestattet.

Die Evolution können wir also nur verstehen, wenn wir das Konzept der zielorientierten Folgerichtigkeit (der Teleologie) durch das des Zufalls ersetzen. Denn die Art A, aus der sich dann irgendwann und irgendwie die Art B entwickelt hat, hat in sich keinen Plan oder keine Vorform von B, sondern die Natur bringt eine Unmenge von genetisch leicht unterschiedlichen Exemplaren von A hervor, von denen einige unter geänderten äußeren Umständen besser zurechtkommen als andere, die dann wiederum sich stärker fortpflanzen konnten als jene, bis schließlich irgendwann eine bunte Fischleinart aus silbrigen entstanden ist. Es gibt keinerlei Notwendigkeit in der Natur, die fordert, dass es bunte Fische gibt. Die Natur bringt Formen in Hülle und Fülle hervor, von denen die einen erfolgreich sind und die anderen nicht. 

Und das stellt eine weitere Kränkung unseres menschlichen Narzissmus dar: Wir sind nur das Produkt von zufälligen Veränderungen, von denen sich diejenigen durchgesetzt haben, die zu den jeweiligen Umweltbedingungen am besten gepasst haben. Um zu verstehen, wer und wie wir sind, braucht es nicht mehr als diese Einsicht. Die Annahme einer vorausschauenden planenden Intelligenz, die die gesamte Natur nach einem Bauplan entworfen und dann schrittweise verwirklicht hat, mag uns als nette Idee gefallen, sie dient aber nicht weiter, um erklären zu können, was sich im Zug der Evolution der Arten abgespielt hat und weiter abspielen wird. Wir können uns an unserer Fähigkeit, die Schönheit und Vielfalt der Natur zu bewundern und zu bestaunen, erfreuen und dafür dankbar sein. Es hindert uns auch nicht daran, an einen Gott zu glauben. 

Die Natur selber allerdings, wenn wir sie vorurteilsfrei betrachten, liefert uns keinen Beweis für oder gegen die Existenz einer planenden Vernunft hinter all dem, was ist. Nicht einmal einen Hinweis darauf können wir an ihr ablesen. Alles weitere, was wir zu sehen vermeinen, ist das, was wir aus unseren inneren Erwartungen, Hoffnungen und Sehnsüchten in das, was ist, hineinlegen. Daran ist auch nichts unrecht, falsch oder sinnlos. Wir sollten uns nur klarmachen, dass wir selber es sind, die in der Natur den großen Plan sehen wollen, und dass der Kosmos und die Natur selber diesen nicht brauchen. Unser Verständnis vom Universum benötigt keine Annahme eines Schöpfergottes, der irgendwann aus seiner unermesslichen Weisheit eine kosmische Explosion in Gang gesetzt hat und alles Weitere an jedem Entwicklungsschritt begleitet, evaluiert und korrigiert.

Die verbreitete Ansicht "Es gibt keinen Zufall" verwandelt sich dann in: "Es gibt nichts ohne Zufall" (Nicht einmal die Ansicht, dass es keinen Zufall gibt). Es gibt allerdings unser Bedürfnis nach Notwendigkeiten, Zwangsläufigkeiten, Bestimmtheiten, weil wir dadurch kognitive Sicherheiten bekommen. Dieses Bedürfnis entspringt aus der Unsicherheit, die Zukunft, also das, was auf uns zukommt, überblicken und kontrollieren zu können. Wenn wir geplante und gewollte Abläufe im Geschehen erkennen, macht uns das sicherer, indem wir einen Überblick gewinnen, mögliche Gefahrenquellen einschätzen und mögliche Ressourcen lokalisieren können. Wir wollen also mehr sein als Zufallsprodukte, und wir erleben uns und unser Leben auch als mehr als ein regelloses chaotisches Geschehen.

So sagte der vorige Papst Benedikt XIV. in seiner Antrittspredigt: "Wir sind nicht das zufällige und sinnlose Produkt der Evolution. Jeder von uns ist Frucht eines Gedanken Gottes. Jeder ist gewollt, jeder ist geliebt, jeder ist gebraucht." Dieses Zitat kann so verstanden werden, dass wir als Menschen weder zufällig noch sinnlos sein wollen und dass wir uns viel wohler damit fühlen, dass wir gewollt, geliebt und gebraucht sind. Das braucht jedes Kind, um wachsen und gedeihen zu können, das braucht jeder Erwachsene, um sich entfalten zu können. Das Bedürfnis nach Sinn und ordnendem Zusammenhang hat deshalb einen ganz wichtigen Platz in unserem menschlichen Selbstveständnis.

Aus diesem Grund bleibt das Reich des Zufalls auf die Evolutionsforschung als Domäne der Naturwissenschaften beschränkt. Sobald mit dem Auftreten des Menschen die kulturelle Evolution beginnt, wirken neue und andere Gesetzmäßigkeiten, die die Frage nach Ordnungsprinzipien in dieser Entwicklung neu aufwerfen. Deshalb werden hier zur Erforschung andere Typen der Wissenschaften gebraucht und eingesetzt. Die Menschen als Geschöpfe des evolutionären Zufalls nehmen ihr Schicksal selber in die Hand und werden damit zu Mitschöpfern einer kulturellen Entwicklungsdynamik, die ihre eigene Logik in sich trägt, wie ich sie in meinem Buch "Vom Mut zu wachsen" nachzuzeichnen versucht habe. 

Einige Grundgedanken zu dieser Entwicklungslogik versuche ich in einem weiteren Blogbeitrag zu verdeutlichen.

Mittwoch, 8. Januar 2014

Die Offenheit der Wissenschaften


Die Wissenschaft ist ein System, das prinzipiell offen ist, also immer vorläufige Einsichten und begrenztes Wissen hervorbringt. Eine ihrer Grundlagen wurde von Karl Popper als Falsifizierbarkeit bezeichnet: wissenschaftliche Erkenntnisse gelten solange, bis sie durch bessere Erkenntnisse widerlegt sind. Sie müssen auch so angelegt und formuliert sein, dass sie überprüfbar, wiederholbar und widerlegbar sind. Ein persönlicher Erfahrungsbericht ("Ich habe ein UFO von meinem Küchenfenster aus gesehen") kann deshalb nicht als wissenschaftlich gelten. Niemand kann eine persönliche Erfahrung widerlegen, wiederholbar ist die Erfahrung ebensowenig, außer es befindet sich wirklich ein UFO im eigenen Garten, dann können die Wissenschaftler kommen, um es zu untersuchen und andere können kommen, um deren Ergebnisse in Frage zu stellen.

Missbrauch der wissenschaftlichen Autorität


Allerdings sind Wissenschaftler nicht frei von der Versuchung, sich in geschlossene Weltbilder hineinzubewegen. Das ist der Fall, wenn ein Wissenschaftler alles, was wissenschaftlich nicht erklärt werden kann, prinzipiell als Unfug darstellt. Wird z.B. eine scheinbare Wunderheilung mit wissenschaftlichen Mitteln als scharlatanischer Betrug entlarvt, so ist eine wissenschaftliche Leistung erbracht worden.

Wird aber mit der Autorität der Wissenschaft behauptet, dass eine bestimmte Wunderheilung so nicht erfolgt sein kann, wie es behauptet wird, weil es dafür keine wissenschaftliche Erklärung gibt. Die wissenschaftliche Autorität wird missbräuchlich verwendet, wenn ein derartiges Phänomen als Täuschung oder Betrug bezeichnet wird, ohne dass eine wissenschaftliche Evidenz vorgelegt wird. Eine derartige Behauptung ist also nicht wissenschaftlich, sondern ideologisch, weil sie nicht auf wissenschaftliche Befunde zurückgreifen kann und nicht den Falsifizierbarkeitskriterium der Wissenschaft unterliegt. Sie verfolgt andere Interessen als die einer auf Wissenschaft gegründeten Aufklärung der Öffentlichkeit. Sie will einen Zirkel um die Domäne der Wissenschaften ziehen, und alles, was nicht drinnen ist, ist draußen und eo ipso falsch. Damit wird ein geschlossenes System proklamiert.

Der Erfolg der Wissenschaften gründet darauf, dass sie mit offenen und relativen Konzepten arbeiten und bestrebt sind, geschlossene Konzepte immer wieder in offene zu überführen. Jede wissenschaftliche Erkenntnis besteht solange, bis sie durch eine bessere ersetzt wird. Diese Art des Denkens schafft Vertrauen, weil es auf der Beschränktheit und Revidierbarkeit menschlicher Erfahrungen gründet. Es liegt eine besondere Bescheidenheit in dieser Haltung, die besagt, dass gültige und praktisch nützliche Aussagen über alle Bereichen getroffen werden können, auf welche die Wissenschaften mit ihren Methoden zugreifen können. Dort, wo dies allerdings nicht möglich ist, gibt es (noch) kein nach diesen Maßstäben gültiges Wissen und wir müssen auf die Sicherheit, die ein solches Wissen bringt, verzichten. Wissenschaftliches Wissen kann eben nie absolut sein, sondern ist in seinem Wesen immer als vorläufig und verbesserbar.

Damit konnten und können sich die Wissenschaft von Ideologien und Weltanschauungen klar unterscheiden, ja noch mehr, sie werden zu den Mentoren der Ideologie- und Weltanschauungskritik. Diese Unabhängigkeit von partikularen Interessen bringt ihr eine hohe Glaubwürdigkeit ein und trägt bei zur hohen Akzeptanz in den modernen pluralistischen Gesellschaften. Diese Form der emanzipierten Wissenschaft kann von den Machtapparaten nicht in Dienst genommen werden, weil sie ihr eigenes Wissen immer wieder selbst in Frage stellt und deshalb nicht für die Beherrschung der Menschen taugt.

Wissenschaften gegen Wissenschaften


Es gibt auch unter Wissenschaftlern und zwischen Wissenschaftszweigen Rivalitäten und Konkurrenz. So halten manche Naturwissenschaftler nichts von den Sozialwissenschaften und manche Sozialwissenschaftler nichts von den Wirtschaftswissenschaften usw. Abgesehen von der inhaltlichen und methodischen Kritik, die an jeder Form der Wissenschaft angebracht werden muss, gehören Abwertungen und Vorurteile zum Kapitel "Menschliches, allzu Menschliches", aber nicht zum Geist der Wissenschaften. Dort, wo die Leistungen und Methoden der eigenen Wissenschaft nicht in Frage gestellt und die anderer Wissenschaftszweige ohne ausreichende Argumentation verworfen werden, geht es nicht um die Vertiefung und Verbreiterung von Wissen, sondern um Macht und Einfluss innerhalb einer Gesellschaft. Und an diesen Punkten mischen sich geschlossene Systeme in den offenen Geist des wissenschaftlichen Denkens und Forschens.

Offene und geschlossene Konzepte


Wir tragen viele Konzepte (Meinungen, Überzeugungen, Denkzusammenhänge, Erklärungen usw.) in uns. Einige von diesen sind uns bewusst, wir haben über sie nachgedacht, über sie diskutiert und sie für uns selber anerkannt. Andere sind uns unbekannt, obwohl sie unser Denken und Handeln beeinflussen. Sie stellen Verallgemeinerungen von Erfahrungen dar, die wir lange schon vergessen haben.

Wenn wir über ein offenes Konzept verfügen, ist uns mehr innere Offenheit möglich. Die Umkehrung gilt in beide Dimensionen: Je mehr innere Offenheit, desto freiere Konzepte können wir verstehen und integrieren; je weniger innere Offenheit wir haben, desto engere Konzepte werden wir suchen, in unser Denken einbauen und anderen gegenüber vertreten.
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Wenn wir wachsen wollen, müssen wir auch unsere Konzepte verändern und öffnen. Je mehr Ängste wir haben, desto enger und einfacher sind unsere Konzepte, weil sie uns so am besten die  Sicherheit vermitteln, die wir suchen. Ein geschlossenes System gibt uns die vermeintliche Zusicherung, für jede Gefahr und jedes Problem das richtige Gegenmittel zu haben.

Unser Denken ist ja im Grunde ein Dienstleister. Es sucht oder schafft sich die Konzepte - Denkzusammenhänge, Argumentationslinien, Philosophien und Weltanschauungen -, die zum inneren Gefühlshaushalt am besten passen. Geschlossene Konzepte dienen uns dazu, unsere enge Gefühlslage zu begründen und zu unterstützen, z.B. das Konzept, dass die Welt von Bösewichtern beherrscht wird, oder das Konzept, dass das Leben mühsam ist. Wir bestätigen uns damit, wie wir uns gerade fühlen (ohnmächtig oder beladen), und verstärken die jeweilige Missstimmung, unter der wir gerade leiden.

Offene Konzepte nehmen wir leichter an, wenn wir uns innerlich locker und frei fühlen. Z.B. Konzepte wie: Alles ist im Grund gut so, wie es ist, oder: In jedem Schlechten steckt was Gutes, gefallen uns, wenn wir uns mit dem Leben stimmig verbunden fühlen.

Dann fällt es uns auch leichter, unsere eigenen Konzepte selbstkritisch zu betrachten und Denkmuster, die uns nicht mehr dienlich erscheinen, verabschieden. Mit offenen Konzepten können wir der Welt und unseren Mitmenschen toleranter und akzeptierender begegnen, während wir aus der Sicht von geschlossenen Denkformen unsere Außenwelt nur verzerrt und begrenzt wahrnehmen können. Offene Gedankensysteme lassen uns innerlich wachsen, während zugleich unsere Außenwahrnehmung weiter und umfassender wird.


Denkformen im Lauf der Bewusstseinsevolution



Im Modell der Bewusstseinsevolution findet sich der folgende Leitfaden: Je einfacher die Gesellschaftsformen, desto "einfacher" sind die Ängste. Ängste in frühen Stadien der Menschheitsgeschichte sind real, weil sie unmittelbar mit Überlebensbedrohungen verbunden sind. Die Angst vor einem Gewitter macht darauf aufmerksam, dass ein Blitzeinschlag das eigene Leben zerstören kann. Sie mobilisiert einfache Ressourcen, die vor der Gefahr schützen sollen, z.B. in einer Höhle Zuflucht suchen. Die Ängste sind insofern massiv und unausweichlich, als ihr Ursprung, die drohende Gefahr, nicht kontrolliert werden kann. Ein angreifender Löwe kann durch nichts mehr in die Schranken gewiesen werden.

Je komplexer die Kulturstufe ist, desto mehr Ängste werden durch die Errungenschaften der Zivilisation gebannt. Es gibt Häuser, in denen die Menschen vor Gewittern in Sicherheit sind, und wilde Tiere gibt es in den meisten Gegenden nur mehr hinter Gittern. Der Fortschritt in der Zivilisation besteht auch darin, dass immer mehr Sicherheitssysteme aufgebaut werden können, sodass es eigentlich fast keine Ängste mehr geben müsste. Dennoch leiden die Menschen nach wie vor unter den unterschiedlichsten Ängsten, allerdings haben sie keinen Kontakt mehr zu den realen Bedrohungssituationen, die hinter ihren Ängsten stehen.

Einfachere Gesellschaften funktionieren mit einfacheren Deutungsmodellen. Die Bedrohungen durch die Natur werden z.B. mit Geistern oder Göttern erklärt und mit Opfergaben besänftigt. Die entsprechenden Denkkonzepte reichen für den Rahmen und die Grenzen des eigenen Stammes, es kann aber sein, dass sie vom Nachbarstamm gar nicht mehr verstanden werden, weil dieser über ein eigenes andersartiges Deutungsnetz verfügt. Es stellt sich auch keine Notwendigkeit für übergreifende, verallgemeinernde Interpretationen.

Mit dem Fortschreiten der Bewusstseinsevolution und der Auflösung der Stammesgrenzen wurden weiter gefasste Deutungskonzepte notwendig, die schließlich zur Entwicklung der Religionen und Weltanschauungen geführt haben. Diese bieten sehr weitgespannte und vielfältige, oft auch widersprüchliche Einsichten an, die viele Bereiche und Situationen des Lebens mit Sinn versehen und verstehbar machen konnten. Z.B. können viele Psalmen des Alten Testaments bis heute als Hilfe für schwierige Lebenssituationen dienen. 

Die Hochreligionen wurden von Menschen entwickelt, die zu einem Bewusstsein Zugang hatten, das weit über den Horizont ihrer Zeit und ihrer Zeitgenossen hinausragte. Sie konnten genügend Menschen für die neuen Sichtweisen begeistern, dass sie motiviert waren, die Idee weiter und weiter zu verbreiten, bis sich eine neue Glaubensrichtung gebildet hat. So konnten die Fundamente dafür gelegt werden, dass die meisten der alten Religionen über die Jahrhunderte bis in die Gegenwart bestehen geblieben sind. 

In der Zeit ihrer Gründung war ihr neuartiges Deutungs- und Sinnangebot sensationell und revolutionär. Es riss gewissermaßen die engen Konzepte der Menschen auf und öffnete neue weite Horizonte des Denkens und des Fühlens. Das erklärt ihre große Anziehungskraft.

Doch zeigte sich in der Geschichte aller Religionen, dass mit ihrer geografischen und demografischen Verbreitung und Ausweitung ihr Deutungsgehalt und ihre Aussagekraft eingeengt und festgeschrieben wurde. Die Wahrheiten wurden in den meisten Fällen in Kanones und Dogmen gegossen und verschriftlicht, so, als sollten sie ab nun bis ans Ende aller Zeiten unverändert Geltung behalten und von allen nachfolgenden Generationen und Zeitaltern in der immer gleichen Form nachgebetet werden. Die Befreiungsbotschaften, die die Anfänge einer neuen Weltanschauung kennzeichnen, wurden im Lauf der Zeit langsam, aber sicher mit engen Konzepten umgarnt und schließlich erstickt. Aus den Froh- wurden Drohbotschaften: Wenn du nicht den vorgegebenen Regeln und Vorschriften folgst, wenn du nicht in den vorgepredigten Bahnen denkst, wird es dir schlecht ergehen, nicht nur auf Erden, sondern auch im Jenseits, und damit für immer.

Mit der Verengung der Konzepte wurde nicht nur die Kraft der ursprünglichen Botschaft ausgezehrt. Es wurden auch die individuellen und kollektiven Ängste weiter am Leben gehalten und zusätzlich geschürt, die zu bannen die Religionsstifter ursprünglich angetreten waren. 

Eine weitere Folge war die Hemmung der inneren Weiterentwicklung der Wahrheiten. Es wurde auch die Verständigung mit den anderen Religionen immer schwieriger, sodass bis heute mehr Konkurrenz als Kooperation und mehr Abneigung als Dialog zwischen den einzelnen Großreligionen besteht. 


Geschlossene Konzepte



Geschlossene Konzepte sind dadurch gekennzeichnet, dass jemand nur innen oder außen sein kann. Wenn du nicht für mich bist, bist du gegen mich, ist ein einfaches geschlossenes Konzept. Es gibt eine und nur eine Wahrheit, wer sie teilt, gehört dazu, wer nicht, ist ein Ketzer, Ignorant oder Dummkopf. Das ist eine einfache Art, um geschlossene Konzepte zu erkennen: Wer sie infrage stellt, wird abgewertet oder verfolgt. Denn er stellt eine Bedrohung für das Konzept dar und muss so oder so zum Schweigen gebracht werden 

Geschlossene Konzepte haben für alles eine vorgegebene Erklärung. Was immer geschieht, es hat aufgrund des Konzeptes so sein müssen. Weil die Menschen in Sünde leben, werden sie mit einer Katastrophe bestraft. Weil sie sich gebessert haben, sind sie von einer noch schlimmeren Katastrophe verschont geblieben. 

Solche geschlossenen Systeme verfügen über eine Art von Erklärungsgenerator, der für jedes neue Ereignis, das in der Wirklichkeit auftaucht, regelkonforme Erklärungen produziert und dafür sorgt, das das Konzept unter allen sich verändernden Umständen beibehalten werden kann.

Zum Beispiel gibt es das Konzept der Gedanken, die die Realität erschaffen. Was wir denken, wird real. Was real ist, ist deshalb real, weil wir es gedacht haben. Ich denke an jemanden, und die Person ruft an. Die Regel ist bestätigt. Denke ich an jemanden, und die Person ruft nicht an, habe ich zuwenig klar oder intensiv an die Person gedacht, oder hatte eine unbewusste Abwehr dagegen, angerufen zu werden. Die Regel ist wieder bestätigt, mit Hilfe von aus der Regel generierten Zusatzregeln. Was immer mich in der realen Erfahrung überrascht, weil ich nicht daran gedacht habe, dient als Beweis für das Konzept.

Ein anderes Beispiel: Jemand vertritt eine bestimmte Heilmethode oder ein bestimmtes Heilmittel. Es hat ihm geholfen, und nun will er es auch anderen weitergeben, gleich, ob mit oder ohne materiellem Gewinn. Nun probiert das jemand anderer aus und hat keinen Erfolg damit. Da könnte man annehmen, dass das Mittel oder die Methode nicht für alle und für alles eine taugliche Hilfe ist. Dann bleibt das System offen: Es kann genauer erforscht werden, wo und wann ein positiver Nutzen entsteht und wo und wann nicht. Wird das System geschlossen gehalten, dann heißt es, dass die Person einen Fehler bei der Anwendung gemacht hat, bis hin zu dem Vorwurf, dass sie zu wenig an eine positive Wirkung geglaubt habe.


Spiritualität und Religion



Die sich immer mehr verdichtende Weltgesellschaft muss über die Deutungshöfe der einzelnen Religionen hinausgehen, weil diese voll von defensiven und aggressiven geschlossenen Konzepten sind. Der Begriff "Spiritualität", der langsam über den der "Religion" hinaus wächst, ist ein Indiz dafür. Aus der Sicht der "Spiritualität" unterscheiden sich die tieferen Wahrheiten, also die offenen Konzepte der einzelnen Religionen kaum. Es erscheint vielmehr so, als ob sich jede Tradition auf einem anderen Weg dem Allerheiligsten nähert und es in seiner jeweils eigenen Sprache beschreibt und in einzelnen Aspekten besonders deutlich beleuchtet.

Wenn wir also eine der gesamten Menschheit adäquate Form der Spiritualität finden wollen, brauchen wir die offensten Konzepte, die wir finden können. Wir müssen sie aufeinander abstimmen, sodass die unterschiedlichen Formulierungen in ihrem gemeinsamen inneren Klang gehört werden können.


Der innere Weg zu offenen Konzepten



Wir können nur Wahrheiten annehmen, wenn wir innerlich dazu bereit sind, sonst bedrohen sie uns auf der unbewussten Ebene, und wir wehren sie ab. Erst wenn sich unser Inneres von den Ängsten befreit hat, die sich an unsere eingeengten Konzepte angehängt haben, können wir eine Wahrheit, die wir vorher vielleicht intellektuell verstanden haben, in unserem Leben verwirklichen. Wir brauchen die innere Weite des Freiseins von Ängsten, um eine große Wahrheit tragen zu können.

Wenn wir eine Idee fassen, bevor wir sie noch wirklich tragen können, kann sie uns als Leitstern, als Antrieb dienen, um zu ihrer Verwirklichung zu gelangen. Konzepte können eine Veränderung vorbereiten, indem sie die gedanklichen Grundlagen bereitstellen. Sie können vorauseilen und schon vor der inneren Veränderung verstanden und verinnerlicht werden. Sie können eine Kraft bereitstellen, die wir brauchen, wenn wir den Ängsten begegnen, denen wir uns stellen müssen. Wir lesen ein Buch oder hören einen Vortrag, der uns inspiriert und unsere Denkformen verändert und erweitert. Dadurch sind wir motiviert, Neues in unserem Leben auszuprobieren und zu erkunden.

Andererseits können wir Ideen nutzen, um uns selbst zu täuschen. Denn Konzepte, die offener sind, als diejenigen, auf die wir bisher unser Leben stützten, bedrohen das dazugehörige emotionale Schema. Z.B. konfrontiert das Konzept: "Du brauchst keinen Glauben, um glücklich sein zu können", mit der Unsicherheit, wie es denn gehen könnte, ohne Glauben zu leben, vor allem bei jemandem, dem der Glaube eine besonders wichtige Stütze war. Die Idee stellt eine feste Überzeugung in Frage, die bisher zum Gerüst der inneren Sicherheit beigetragen hat.

Es ist deshalb auch wichtig, beim Übergang zu weiteren und offeneren Konzepten, wie wir sie in einer weiteren und offeneren Weltgesellschaft benötigen, die emotionalen Hemmungen und Blockierungen zu berücksichtigen, zu erkennen und zu bearbeiten. Nur dann können wir aus einer Idee eine Lebenswirklichkeit, eine gelebte Wirklichkeit mit mehr Weite und Offenheit machen.