Dienstag, 9. September 2025

Religion und Vertreibung

Die Geschichte des Nahostkonflikts ist auch eine Geschichte der Vertreibungen. Eine Folge von Kriegen ist zumeist die Flucht und Vertreibung von vielen Menschen, die ihre Leben inmitten der Zerstörungen retten wollen. Es sind vor allem die Älteren, die Frauen und die Kinder, die von diesem Schicksal betroffen sind.

Vertreibung bedeutet nicht nur den Verlust einer gewohnten, Sicherheit und Zugehörigkeit vermittelnden Umgebung, sondern auch eine Demütigung und Beschämung. In den meisten Fällen sind Vertreibungen mit traumatisierenden Verletzungen verbunden, wenn sie gewaltsam erzwungen werden. Jede Flucht geht mit Leid einher, und das Ankommen in einem fremden Land erzeugt in der Regel neues Leid und neue Beschämung: Für die Menschen dort wirkt der Flüchtling als Fremdling, als Eindringling, als möglicher Feind. Es bedarf langer und mühevoller Anstrengungen, um sich in der Fremde eine Heimat zu schaffen. Doch keine neue Heimat kann die alte, in der sich die Wurzeln der Herkunftsfamilie befinden, ersetzen. Der Makel der mangelhaften Zugehörigkeit wirkt oft in den nächsten Generationen weiter, und der Verlust der Heimat zeigt sich im Fehlen von Wurzeln und Bodenanbindung. Das Land, auf dem sich der Vertriebene bewegt, ist fremd; der vertraute sichere Boden ist verloren.

Eine Geschichte von Vertreibungen

Die Geschichte des jüdischen Volkes (wie auch die Geschichte anderer Völker) kann als Geschichte von Vertreibungen beschrieben werden. Die Ureltern, Adam und Eva, wurden beschämt aus dem Paradies vertrieben, in einer Urszene der Scham. Später wurden vermutlich Teile des Volkes als Sklaven nach Ägypten verschleppt und dort von Mose in die Freiheit ins Land Kanaan geführt, das Land, das Jahwe Mose versprochen hat.  Ab 597 v. Chr. mussten große Teile der Bevölkerung Judäas nach Babylon ziehen („babylonisches Exil“). Interessanterweise haben übrigens die Juden immer an ihrem Gott festgehalten, im Unterschied zu anderen Völkern, bei denen eine Gottheit so lange verehrt wurde, so lange es Siege gegeben hat, und nach Niederlagen schwand die Verehrung wie z.B. beim Gott Marduk der Babylonier. Der Grund für diesen Unterschied wird darin gesehen, dass der jüdische Gott nach den Propheten die Israeliten in die Niederlage geführt hat, damit sie für ihre Sünden büßen müssen. Es ist also ein Gott, der sein Volk durch Beschämung zu einem besseren Leben erziehen möchte (und daran immer wieder scheitert...).

Im Jahr 70 n.Chr. kam es zur Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die Römer; es gab nun kein religiöses Zentrum der Religion mehr, und viele Juden verließen Jerusalem. Schließlich wurden die Juden unter Kaiser Hadrian im Jahr 135 aus Palästina vertrieben. Die Vertriebenen hielten aber über die Jahrhunderte am Glauben fest, dass sie wieder ins „Gelobte Land“ zurückkehren würden. Im Achtzehnbittengebet, dem Hauptgebet der Juden, ist dieser Glaube verankert.  Der Wunsch „Nächstes Jahr in Jerusalem“ wird am Ende des jüdischen Sederabends und des Versöhnungstags ausgesprochen. Er drückt die Hoffnung und Vision der Juden aus, nach Israel zurückzukehren, wo immer auch sie in der Diaspora waren.

Die Treue zum Glauben

Das jüdische Volk ist in der Geschichte mit dem Schicksal von Vertreibungen nicht einzigartig. Das Besondere liegt einerseits in dem Festhalten am Glauben trotz aller Zerstreuung in verschiedenste Länder und andererseits in der Verbindung von Land und Religion, die von den gläubigen Juden über die Generationen in der Fremde aufrechterhalten wurde. Das „Heilige Land“ ist für die Juden nicht nur heilig, weil sich dort heilige Stätten befinden, sondern etwas, das Gott dem jüdischen Volk versprochen und gegeben hat. Das Land selbst ist also Teil ihrer Religion. Der Anspruch auf das Land enthält damit eine absolute, also von Gott gegebene Rechtfertigung. Nach 1948, als die UNO die Staatsgründung von Israel proklamiert hat, wurde dieser Anspruch militärisch, eben gewaltsam durchgesetzt. Die darauf folgende Geschichte ist durchzogen von Kriegen, die immer auch diesen religiösen Aspekt beinhalten – bis zum heutigen Tag. 

Radikalisierung durch Religion

In fast allen dieser Nahostkriege war und ist die Vertreibung der ansässigen Araber, die in großer Zahl in Nachbarländer ihre Heimat verloren haben und flüchten mussten, ein schweres Schicksal und eine Schuld der Vertreiber. Die Staatsgründung hat den Juden erlaubt, von der Opfer- auf die Täterseite zu wechseln. Aus den Vertriebenen wurden Vertreiber, aus den Beschämten Beschämer. Israel ist (mit Unterstützung westlicher Staaten) die stärkste Militärmacht in der Region und verfügt über eigene Atomwaffen. Der Staat konnte sein Gebiet kontinuierlich ausweiten und die Palästinenser immer weiter zurückdrängen. Palästinensische Gebiete wurden mit jüdischen Siedlungen durchsetzt, und die Gründung eines autonomen palästinischen Staates wurde verhindert. Die religiöse Absicherung dieser Machtpolitik sorgt dafür, dass ethische Fragestellungen und Menschenrechte in diesem Konflikt zweitrangig sind. Es gibt zwar in Israel eine Zivilgesellschaft, die die Standards der Mitmenschlichkeit einmahnt und eine Trennung von Religion und Politik fordert, aber ihr Einfluss auf die Zyniker in der Regierung ist allzu gering.

Der aktuelle Gazakrieg wird befeuert und radikalisiert durch jüdische Extremisten, die Teil der Regierung sind und Druck ausüben, um die Palästinenser vollkommen aus dem Gazastreifen zu vertreiben. Es handelt sich um eine Unmenschlichkeit, die aus dem religiösen Anspruch auf das Land begründet wird und sich keinen Deut um das Leid der Menschen schert – ein weiteres Beispiel von religiös verbrämter Gewalttätigkeit. Der dieser Haltung innewohnende Hass erzeugt wiederum nur Hass bei den Opfern – und das Lechzen nach Rache. Der Konflikt wird noch mehr mit destruktiven Emotionen aufgeladen.

Eine psycho-logische Reaktion auf die mit Vertreibung verbundene Demütigung stellt eben die Rache dar, mit deren Hilfe die Opfer versuchen, ihre Beschämung zu überwinden. Die Gegengewalt bricht aus, sobald genügend Mittel gesammelt sind, um zurückschlagen zu können. Manchmal ist sie direkt gegen die Vertreiber gerichtet, manchmal gegen Stellvertreter oder Sündenböcke.

Ohne Vernunft keine Konfliktlösungen

Wenn die Mächtigen statt der Vernunft religiösen Dogmen folgen, kann es nur eine Form Konfliktlösung geben, nämlich die gewaltsame Durchsetzung des eigenen Standpunkts. Kompromisse sind ausgeschlossen. Wenn die eigenen Machtinteressen nicht durchgesetzt werden können, wird der Konflikt weiter am Leben erhalten und erzeugt über lange Zeiträume Zerstörung und Leid. Der jeweilige Status Quo kann nur mit Gewalt aufrechterhalten werden.

Als hätten wir nicht genug mit sozialen, politischen und ökonomischen Konflikten zu tun, werden immer wieder Ideologien, die aus Versatzstücken der Religion zusammengebastelt sind, in diese Konflikte hineingeschleust, mit der Folge, dass sie nicht nur unlösbar gemacht werden, sondern dass sie dazu noch emotional aufgeheizt werden. Da das Absolute unverhandelbar ist,  kann sich die andere Seite nur unterwerfen; wenn sie dazu nicht bereit ist, wird bis zur Erschöpfung weitergekämpft. Menschen, die dieses Schauspiel von außen beobachten, können sich nur angewidert von der Religion abwenden, die so schamlos missbraucht wird.

Die Widersprüche in den Religionen

In allen Religionen ist die Rede davon, dass Fremde aufgenommen und Vertriebene getröstet werden sollen. Jesus sagte: „Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen“ (Mt 25,35). Die christliche Pflicht gebietet demnach, Vertriebenen beizustehen und sie zu versorgen. In der Sure 4,36 sprach Muhammad davon, dass Gläubige für Fremde auf der Reise sorgen sollen. Deshalb versteht der Islam Gastfreundschaft und Trost für Vertriebene als religiöses Gebot. Außerdem war Muhammad mit seinen Anhängern auf der Flucht, da er aus Mekka vertrieben wurde. Im Alten Testament ist an verschiedenen Stellen die Rede davon, dass die Fremden, Witwen und Waisen besonders geschützt und getröstet werden sollen.

Der Widerspruch zwischen diesen religiösen Pflichten und der Praxis, den religiösen Eifer auf Gewalt und Unmenschlichkeit zu richten, ist schmerzhaft. Es tut weh zur Kenntnis zu nehmen, dass in den Kirchen, Moscheen und Synagogen  der Verzicht auf Gewalt und die Botschaft des Friedens gepredigt wird, und dass draußen Menschen mit religiöser Segnung umgebracht, vergewaltigt und vertrieben werden.

Zum Weiterlesen:
Religion und Krieg


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