Mittwoch, 21. August 2024

Die politische Korrektheit

Im Hintergrund und Umkreis der erörterten Begriffe von wokeness, kultureller Aneignung und cancel culture steht die political correctness. Hier geht es vor allem darum, Diskriminierungen in der Sprache zu vermeiden. In vielen sprachlichen Ausdrücken schwingen negative Bewertungen mit, die bei den angesprochenen Gruppen Verletzungen auslösen und deshalb vermieden werden sollten. Die Idee besteht darin, durch die Änderung von Sprachgewohnheiten das Bewusstsein zu ändern, das dann zur Aufhebung von sozialen Benachteiligungen führen könnte. 

Wie bei ähnlichen Bestrebungen, die von liberalen oder linksgerichteten Intellektuellen initiiert wurden, entstanden auch beim Thema der politischen Korrektheit bald kulturpolitische Auseinandersetzungen, bei denen konservative und rechte Kreise sich dagegen zur Wehr setzten, Gewohnheiten zu verändern. Wie bei anderen verwandten Themen trat auch hier der Effekt auf, dass irgendwann der Ausdruck selber abgewertet oder lächerlich gemacht wurde. Wer sich politisch korrekt verhalten will, sei ein „Hypermoralist“, der/die nur die anderen zu kleinlichen, umständlichen oder absurden Formulierungen zwingen will. Diese Kreise sprechen sich in der Regel zwar nicht direkt für Diskriminierungen aus, lassen aber in ihrem Kampf gegen Sprachveränderungen jeden Respekt vor den benachteiligten Personen vermissen.

Das Gendern

Bekannt und weit verbreitet ist die Debatte um das Gendern, das den rechtsgerichteten Politiker*innen ein Dorn im Auge ist, sodass in den österreichischen Bundesländern, in denen die FPÖ mitregiert, ebenso wie in Bayern das Gendern im amtlichen Bereich verboten wurde. Auf die Zusammenhänge zwischen dem Kampf gegen das Gendern und für die Aufrechterhaltung des Patriarchalismus bin ich an anderer Stelle eingegangen. 

Benennungen und Status

Eine andere Kritik an der politischen Korrektheit weist darauf hin, dass die Veränderung des Sprachgebrauchs nichts an den Diskriminierungen ändert und höchstens verschleiert, dass es sie nach wie vor gibt. Es erweckt den Anschein, als wäre eine „Raumpflegerin“ sozial oder ökonomisch besser gestellt als eine „Putzfrau“ oder als hätten „Sexarbeiterinnen“ mehr Prestige als „Prostituierte“ oder gar „Huren“. Andererseits können solche Sprachveränderungen dazu führen, das Selbstgefühl der betroffenen Personen zu heben, indem sich z.B. ein „facility manager“ wertvoller und respektvoller behandelt fühlt als ein „Kloputzer“.

Manche politisch korrekte Bezeichnungen sind mittlerweile im Großen und Ganzen unbestritten, wie z.B. die Ächtung des Begriffs „Neger“, der im Duden mit einem besonderen Hinweis versehen ist, der auf den diskriminierenden Bedeutungsinhalt hinweist. Oft ist an solchen Stellen nur mehr vom N-Wort die Rede. Sinti und Roma werden nicht mehr als Zigeuner bezeichnet; die Eigenbenennung einer ethnischen Gruppe soll immer den Vorrang vor oft abwertend verwendeten Fremdbezeichnungen haben. Ähnliches gilt für die Inuit. Diese Beispiele zeigen Fortschritte in der Bewusstheit in der Achtung von Minderheitenrechten, die sich gegen konservative Widerstände durchgesetzt haben.

Politische Korrektheit in Hinblick auf die Vergangenheit

Ob allerdings der Gebrauch dieser inzwischen verpönten Ausdrücke auch auf die Vergangenheit übertragen werden sollte, wird heftig debattiert. In Österreich ging es z.B. um den Kinderbuch-Klassiker „Hatschi Bratschi Luftballon“ von Franz K. Ginzkey (erstmals 1904 erschienen), in dem Schwarze und Türken rassistisch abgewertet vorkommen. Soll das Buch deshalb nicht mehr verkauft werden? Es gibt jetzt abgewandelte und entschärfte Versionen, aber auch die ursprüngliche Fassung kann mit einem Begleitheft erworben werden, in dem auf die zeitbedingten ethnischen und rassistischen Blindheiten aufmerksam gemacht wird.

In Deutschland gab es vor zwei Jahren eine große Aufregung, weil die Winnetou-Filme angeblich nicht mehr im Fernsehen gezeigt werden sollten. Manche befürchteten einen Kahlschlag nationaler Kulturgüter im Namen der politischen Korrektheit und deckten sich rechtzeitig mit Karl-May-Ausgaben ein, sodass die Winnetou-Bände für einige Zeit an die Spitze der Bestsellerliste kamen. Von einem Politiker wurde sogar ein „Winnetou-Gipfel“ verlangt: Die Koalitionsparteien müssten damit den Häuptling „retten“ und der Kanzler dort „endlich Flagge zeigen“. Schließlich stellte sich heraus, dass die Filme weiterhin gezeigt und die Bücher ungehindert lieferbar sind, und die Debatte verlief im Sand.

Historische Bedingtheiten

Wer mit einigem historischen Verständnis ausgestattet ist, kann solchen Debatten wenig Sinnvolles abgewinnen. Die Vorurteile und Stereotypen, die in früheren Zeiten selbstverständlich waren,  haben sich überlebt, auch wenn das noch nicht allen aktuellen Zeitgenoss*innen bewusst geworden ist. Wir erkennen einen Fortschritt in der Achtung von anderen Kulturen und Traditionen, von Hautfarben und unterschiedlichen sexuellen Orientierungen. Dieser Fortschritt soll mit den Hinweisen auf politische Korrektheit weiter vorangetrieben werden. Historisch denken heißt, alle kulturellen Hervorbringungen als Ausdruck einer bestimmten historischen Epoche, eines Zeitgeistes mit all seinen Beschränkungen zu verstehen. Deshalb ist in solchen Fällen nur ein Mehr an geschichtlichem Reflektieren notwendig und nicht das Korrigieren von klassischen Texten. Es ist bekannt, dass Karl May ein guter Geschichtenschreiber war und spannende Romane verfassen konnte, aber nicht, dass er über ein toleranteres Weltbild verfügt hätte als der Durchschnitt seiner Zeitgenoss*innen. Die Bücher von Ginzkey sind eben auch Zeitdokumente und führen uns vor Augen, mit welchen Brillen unsere Vorfahren die Welt erlebt haben.

Sich sprachlich und auch sonst politisch korrekt zu verhalten, ist Ausdruck der Toleranz und des Respekts vor den Rechten von Randgruppen, Minderheiten und anderen benachteiligten Gruppen. Wie alles Menschliche hat auch die politische Korrektheit ihre Grenzen und stellt kein Allheilmittel gegen soziale Ungerechtigkeiten dar. Aber sie setzt Maßstäbe für die Verbesserung des ethischen Umgangs in der Gesellschaft, die wir beachten sollten, wenn wir unseren Mitmenschen achtungs- und würdevoll begegnen wollen. 

Zum Weiterlesen:
Gendern und die Wunden des Patriarchats
Woke - ein Beispiel für politische Aneignung
Das Reizthema LBTQ und der Patriachalismus
Das N-Wort und die politische Korrektheit


Freitag, 16. August 2024

Kulturelle Aneignungen im Kapitalismus und in der Kulturentwicklung

Im Reigen der neueren Begriffe in der kulturpolitischen Debatte fehlt jetzt noch jener der „kulturellen Aneignung“. Dieser Begriff ist eng mit der Kolonisationsgeschichte verbunden, geht aber auch darüber hinaus. Er kommt vom englischen Cultural Appropriation, und das heißt so viel wie widerrechtliche Aneignung oder Inbesitznahme, was soviel bedeutet wie kultureller Diebstahl. Die gebräuchliche Übersetzung ins Deutsche klingt harmloser und wird deshalb häufig missverstanden.

Die Sensibilisierung in den westlichen Gesellschaften für dieses Thema hat in den westlichen Gesellschaften vor ungefähr 40 Jahren im Kreis der Kultur- und Sozialwissenschaften begonnen und  ist nun in der breiten Öffentlichkeit angekommen. Auch die Erkenntnisse in der Aufarbeitung der Kunsträubereien durch die Nationalsozialisten haben zur Bewusstheit für diese Thematik beigetragen und dazu geführt, dass entwendete Kulturgüter an die ursprünglichen Eigner zurückgegeben wurden. Probleme treten vor allem dort auf, wo Kulturgüter unter Ausnutzung von asymmetrischen Machtverhältnissen angeeignet werden und die Ursprungskultur verschwiegen oder verachtet wird. 

Das Thema kulturelle Aneignung kann viele Emotionen entfesseln, weil es bei Schwarzen, indigenen Menschen oder People of Color Erinnerungen an traumatisierende Erfahrungen mit rassistischen Abwertungen weckt. Diese Empfindlichkeit spiegelt die Lasten des Kolonialismus wider, der bis heute wirksam ist und dessen Ideologie besagte, dass die Weißen allen anderen Rassen überlegen sind. Die vor allem von Europa ausgehende koloniale Expansion zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert hat nicht nur mit der Sklaverei und der Ausplünderung von Bodenschätzen unendliches Leid hervorgebracht und viele Kriege angezettelt, sie hat auch eine große Zahl von indigenen Kulturen und Traditionen ausgerottet oder schwer beschädigt. Das, was den Weißen von den einheimischen Kulturgütern als interessant oder hübsch erschienen ist, haben sie einfach mitgenommen und stolz in unsere Museen gestellt.

Viele weiße Personen, die von den Gräueln des Kolonialismus nichts wissen oder wissen wollen, können die verletzten Gefühle der Vertreter indigener Völker oft nicht nachvollziehen und verstehen die Empfindlichkeiten nicht. Es fehlt an historischer Aufklärung über die Schneisen an Gewalt und Ausbeutung, die durch die Kolonialmächte quer durch die südlichen und östlichen Kontinente geschlagen wurden. Die Verachtung und Arroganz, mit welcher die Kolonialherrn alle nicht-weißen Menschen behandelt und misshandelt haben, wirken bis heute als kollektive Traumen nach und nähren die Scham- und Wutgefühle bei den betroffenen Menschen, die sich dann an jeder neuen Form der hochmütigen weißen Ignoranz aufs Neue entzünden. Der Respekt für jede Form von Kultur ist erst in letzter Zeit in den westlichen Ländern langsam gewachsen und schwächt den strukturellen Rassismus, den es nach wie vor in unseren Breiten und in Übersee gibt und der auf viele Normen und Sichtweisen hierzulande einen subtilen Einfluss ausübt.

Strittige Fälle der kulturellen Aneignung

Die UNESCO hat schon 1970 ein Abkommen verabschiedet, mit dem der Handel mit Kulturgütern unterbunden und das nationale Erbe des jeweiligen Landes geschützt werden soll. Dennoch gibt es immer wieder Fälle der kulturellen Aneignung, bei denen die Rechte der ursprünglichen Besitzer nicht geachtet werden. 

Ein Beispiel bilden die Dreadlocks. Sie stammen aus der Rastafari-Bewegung schwarzer Jamaikaner und wurden als Symbol der Unterdrückung und des Protestes dagegen getragen. Als sie zum Modegag für Leute wurden, die alle westlichen Freiheiten genießen und zu den Profiteuren des Kolonialismus zählen, reagierten viele mit antikolonialem Hass. 

Der Hip-Hop als Musikrichtung diente zunächst und ursprünglich der Wiedergabe der Lebenswelt schwarzer Menschen, die Texte waren vor allem gegen Diskriminierung und Benachteiligung gerichtet. Als auch Weiße mit diesem Musikstil Geld machten, fühlten sich die schwarzen Hip-Hopper bestohlen und ihres Protestmittels beraubt.

In Mexiko soll erstmals die kulturelle Aneignung unter Strafe gestellt werden. Der Anlass besteht darin, dass westliche Modelabels Webmuster der indigenen Bevölkerung  ungefragt und ohne Kompensation für ihren Profit verwendet haben. Diese Muster haben für die Bevölkerung eine hohe kulturelle und religiöse Bedeutung.

Kapitalismus und kulturelle Aneignung

Der Kapitalismus breitet sich ungehemmt aus, wenn er nicht durch staatliche Gesetze oder zwischenstaatliche Abkommen eingeschränkt wird. Er inhaliert auch alle kulturellen Güter, aus denen Profit geschlagen werden kann, wie z.B. eine verkitschte Mozartmelodie, die im Einkaufszentrum zu konsumieren anregen soll. Das mexikanische Beispiel schlägt in die gleiche Kerbe. Kulturgüter werden zu Waren und dienen der Ankurbelung der kapitalistischen Prozesse, bei denen an irgendeiner Stelle der Reichtum angehäuft wird und anderswo schrumpft.  Die Traditionen werden eingeebnet und gleichgeschaltet, sodass sich die mondänen Einkaufsstraßen in den Metropolen durch nichts mehr voneinander unterscheiden: Die Modeketten, die mit ihren Schaufenstern locken, sind überall auf der Welt die gleichen, ebenso wie die Melodien, die drinnen dudeln. 

Zwar gibt es immer wieder Kunstwerke, die der Vermarktung voraus sind, aber irgendwann werden sie eingeholt, außer sie sind so widerspenstig wie die Zwölf-Ton-Musik oder der Free-Jazz. Den Kulturtraditionen und indigenen Kulturen ergeht es nicht anders. Irgendwann werden ihre passablen Elemente entdeckt und in eine neue Modeströmung eingebaut, in der sie ihre ursprüngliche Aussagekraft verlieren. Sobald die nächste Welle kommt, werden sie wieder vergessen, und ein Stück Ursprünglichkeit ist für immer dahin. Die Profitkarawane zieht weiter und schert sich nicht darum, wer sich verletzt und wütend fühlt. Staatliche Gesetze können dieses Treiben da und dort eindämmen, aber alle Kulturgüter, die durch solche Maßnahmen aus dem Sog der Vermarktungsdynamik herausgehalten und eigens geschützt werden, verhalten sich zur Ursprungskultur wie Zootiere zu ihren wild lebenden Artgenossen. 

Keine Kultur ohne Aneignung

Es gibt keine Kulturentwicklung ohne die Übernahme von Kulturelementen aus anderen Traditionen. Kultur lebt vom Austausch und von gegenseitiger Befruchtung an den Grenzen der Kulturräume. Jeder Kulturschaffende gewinnt seine neuen kreativen Impulse aus dem, was andere bereits geschaffen haben. Allerdings ist es auch Teil der Kultur, denjenigen Respekt und Anerkennung zu zollen, denen man die eigenen Schöpfungen zu verdanken hat.  Dort, wo dieser Akt der Bescheidenheit und Dankbarkeit versäumt wird, kann man von ungerechtfertigter und unmoralischer Aneignung sprechen. 

Der antikoloniale Affekt ist verständlich, der in Bezug auf viele Kulturschöpfungen aus benachteiligten Kulturräumen und –traditionen ausbricht, wenn sie ungefragt kopiert und in entfremdende neue Kontexte eingebettet oder zu Profitzwecken vermarktet werden. Solche Wutgefühle genügen aber nicht dafür, die Kulturentwicklung insgesamt einzuschränken. Die Freiheit, die diese Entwicklung braucht, ist wesentlich für ihr Gedeihen, und ihr Gedeihen ist wesentlich für den Fortbestand der Gesellschaft und letztlich für das Wohlbefinden der Menschen. In dieser Entwicklung finden immer mehr Traditionen und Kulturräume ihren mitgestaltenden Platz, indem sie in ihrer Eigenart und ihrem Eigenwert anerkannt und zugleich zu einem kommunikativen Austauschprozess eingeladen werden. Auch indigene Kulturtraditionen haben nicht nur einen historischen Wert, der bewahrt werden sollte, sondern auch ein inneres Veränderungspotenzial als Reaktion auf die verändernden Rahmenbedingungen und auf die historischen Prozesse, in denen sich alle Traditionen befinden. 

Andererseits ist es ein wesentlicher Teil der Kulturentwicklung, die bewertungsfreie Anerkennung aller Kulturschöpfungen und kulturellen Traditionen zu fördern, die die Menschheit je hervorgebracht hat. Wir sind Teil einer Weltkultur, die aus allen Quellen der Kreativität der Menschen auf dieser Erde schöpft und in ihrer Gesamtheit Wirkungen auf alle Menschen entfaltet. Jede Abwertung irgendeiner kulturellen Tradition bedeutet einen Rückschritt in der Kulturentwicklung. Die Debatten um die kulturelle Aneignung machen auf diese Dimension aufmerksam und dienen deshalb selber als Teil dem kulturellen Fortschritt.


Sonntag, 11. August 2024

Cancel-Culture und künstlerische Freiheit

Ich gehe weiter in der Begriffserkundung neuerer Worte, die in der kultur-politischen Debatte benutzt werden und Kontroversen auslösen. Worum geht es bei Cancel-Culture? 

Wie Julian Nida-Rümelin, Philosoph und Autor schreibt, wurde das „canceln“ zunächst (2014) als spaßiger Ausdruck dafür gebräuchlich, dass man jemanden aus der Bekannten- oder Freundesliste streichen will, der abwegige Meinungen vertritt. Aus dem Film „New Jack City“ (1991) wurde ein Zitat übernommen: Selina: „You’re a murderer, Nino. I’ve seen you kill too many people, Nino.” Nino Brown: “Cancel that bitch. I’ll buy another one.” 

Das Wort wurde aber dann bald von Randgruppen aufgegriffen und benutzt, um gegen Diskriminierungen aufzutreten. Personen, die für Verletzungen von Menschenrechten und für menschenverachtende Ideologien verantwortlich gemacht werden, sollen geächtet und, soweit es sich um KünstlerInnen handelt, die öffentlichen Auftritte boykottiert oder verboten werden. Damit soll der Fortschritt in der Toleranz und gesellschaftlichen Offenheit gefördert werden. Die Debatte dreht sich vor allem um Fragen von Sexismus und Rassismus, ähnlich wie die Themen, die mit dem Woke-Begriff verbunden sind. Es sollen Menschen, die den Idealen der Emanzipation und sozialen Gerechtigkeit nicht folgen, durch öffentlichen Druck zum Umdenken gebracht werden. Dabei wird über den Anlassfall hinaus immer auch für eigene Anliegen Aufmerksamkeit erzeugt. Es geht also grundsätzlich um die Erweiterung und Sensibilisierung der Moral und des gegenseitigen Respekts, Grundlagen für jede freie Demokratie, Anliegen, die anhand von einzelnen Vorkommnissen thematisiert werden.

Inzwischen hat sich um diesen Begriff eine komplexe Debatte entwickelt. Auf der einen, der konservativen Seite, wird eine Überempfindlichkeit beklagt, mit der kleinste Kleinigkeiten oder missverstandene Äußerungen zum Aufschreien von Massen führen können. Die Folge bestünde dann darin, dass sich niemand mehr etwas zu sagen traue, aus Angst, sich einem shitstorm in den sozialen Medien auszusetzen. Es ginge in der Debatte nicht mehr um bessere Argumente, sondern um die richtige moralische Einstellung, und der rationale Diskurs bleibt auf der Strecke. Damit werde schließlich der Zensur Vorschub geleistet. Oft wird dann wehleidig gejammert: „Da darf man ja wohl gar nichts mehr sagen.“ Natürlich darf in einer freien Gesellschaft jeder alles sagen, nur muss man mit ablehnenden Reaktionen rechnen, wenn sich andere Menschen oder Menschengruppen durch eine Äußerung verletzt fühlen, oder wenn das, was gesagt wird, der Vernunft oder der Ethik widerspricht. Das ist das Wesen einer offenen Debatte. Die Nutzung des Rederechtes ist unter den Bedingungen der Meinungs- und Redefreiheit nur eine Frage der Zivilcourage.

Deshalb wird auf der anderen, der liberalen Seite darauf aufmerksam gemacht, dass es um einen Kampf in der Meinungsführerschaft geht, der mit der konservativen Kritik an einer Cancel-Culture angefeuert wird. Notwendige kritische Stimmen gegen Ungerechtigkeiten könnten mit dem Cancel-Vorwurf abgewehrt werden. Ähnlich wie beim Woke-Begriff ist auch die Cancel-Culture inzwischen zum fixen offensiven Bestandteil rechtsorientierter Propaganda geworden. Z.B. wird der Begriff im rechten US-Sender Fox News wesentlich öfter verwenden als auf den liberalen Sendern CNN oder MSNBC. 

Vertreter auf beiden Seiten des Debattenspektrums befürchten aus unterschiedlichen Gründen die Einschränkung des öffentlichen Diskurses und damit eine Gefährdung der bürgerlichen Freiheiten und der Demokratie. 

Cancel-Culture und Rache

Es gehört zu den menschlichen Schwächen, anderen, die einen auf die Nerven gehen oder durch ihr Reden und Tun verletzen, Schaden zufügen oder sie bestrafen zu wollen. Der Impuls zur Rache ist uns allen bekannt. Zugleich ist es wichtig, diesen Impuls einzudämmen, um nicht Böses mit Bösem oder noch Böserem zu vergelten, um also Konflikte nicht zu eskalieren, sondern mit gegenseitigem Respekt lösen. Vor allem ist es wichtig, dass Inhalte und Personen unterschieden werden. Wenn im Namen von mehr Gerechtigkeit und Toleranz Personen angegriffen werden, die offenbar oder nur scheinbar diese Ideale verraten, geht die Rache zu weit und erzeugt neues Unrecht und vermehrt die Intoleranz. Eine Künstlerin beispielsweise, die Bemerkungen machte, die als antisemitisch verstanden werden könnten, wird anderswo nicht mehr eingeladen, erleidet also einen geschäftlichen Schaden, ohne dass über die Stichhaltigkeit der Vorwürfe ausreichend diskutiert wird. Immer wieder wird im Namen der Cancel-Culture über das Ziel hinaus geschossen, was nicht zur Bewusstseinsbildung führt, sondern nur zur Vertiefung von kulturellen und politischen Frontenstellungen. Denn sobald es zu solchen Vorfällen kommt, melden sich die Vertreter der unterschiedlichen Richtungen zu Wort, mit dem Ziel, den Anlass für ihre eigenen Ziele im Meinungswettstreit zu nutzen.

Die Racheimpulse und das Bewusstsein über ihre Gefahren gibt es schon lange. Sie kommen überall im politischen Spektrum vor. Neu ist es, dass solche Entgleisungen als Cancel-Culture benannt werden. Mit dem neuen Begriff wird das Konfliktpotenzial aufgeladen. Konflikte erhalten eine neue Dimension, eine Meta-Ebene, bei der es nicht mehr um das ursprüngliche kontroversielle Thema geht, sondern um die Behauptung im Kampf um Positionen in der politischen und kulturellen Landschaft. 

Künstlerische Freiheit und Cancel-Culture

Es steht jedem Veranstalter frei, ein- oder auszuladen, wen er oder sie will. Es steht jedem Besucher frei, Veranstaltungen zu besuchen oder nicht; wenn aber im Sinn der Cancel-Culture Vorverurteilungen vorgenommen werden oder wenn auf Grund von öffentlicher Aufregung und nicht nach sorgsam abgeklärten Vorwürfen Kulturschaffende ausgeladen und damit zu Objekten politischer Debatten und Konflikte gemacht werden, dann werden genau die Grenzen überschritten, die durch die Cancel-Culture gewahrt werden sollten.

Mit dem Gaza-Krieg hat die Cancel-Culture neue Höhepunkte erreicht. Proisraelische Kulturinstitutionen oder solche, die nicht antiisraelisch wahrgenommen werden wollten, konnten nun keine Leute einladen, die sich nicht klar proisraelisch outeten und mussten mit Boykottaufrufen von propalästinensischen Kreisen rechnen, und vice versa. Statt die öffentliche Debatte mit verschiedenen differenzierten Sichtweisen zu beleben und aufzulockern, kam es zu einer bedauerlichen Verarmung der kulturellen Streitkultur. In solchen Vorgängen erhebt die politische Sphäre einen Machtanspruch über die kulturelle Sphäre und beraubt sie damit der Freiheiten, die sie für ihre Kreativität braucht. Kultur, die in ihrem Schaffen der Politik untergeordnet ist, verliert ihre künstlerische Potenz und provokative Aussagekraft, das kann am Beispiel jeder Diktatur belegt werden.

Politische Konflikte heizen also die Cancel-Culture jedes Mal wieder neu auf, seit sie thematisiert wurde. Der künstlerische und kulturelle Bereich verliert dadurch mehr und mehr an Chancen, gerade solche Konflikte aus ungewohnten Perspektiven zu beleuchten und andere Aspekte bewusst zu machen, die übersehen werden. Es wird zunehmend von Kunstschaffenden verlangt, dass sie sich klar politisch positionieren, und das stellt eine Bevormundung und eine Einschränkung der künstlerischen Freiheit dar.

Zum Weiterlesen:
Woke - ein Beispiel für politische Aneignung


Freitag, 2. August 2024

Woke - ein Beispiel für politische Aneignung

Ein Etikett geistert in den Debatten im kulturell-politischen Bereich herum, schillernd und wandelbar, in Verwendung für moralische Imperative und für pauschale Abwertungen. Es taucht als Selbstzuschreibung für eine tolerante und auf Ungerechtigkeiten sensibilisierte Werthaltung auf und wird zunehmend eher als verallgemeinerte Fremdzuschreibung für gegnerische politische Orientierungen gebraucht.

Es geht hier um das „Woke“-Sein. Der Duden definiert"woke" als: „in hohem Maß politisch wach und engagiert gegen (insbesondere rassistische, sexistische, soziale) Diskriminierung."

Der Begriff war ursprünglich gegen rassistische Diskriminierung gerichtet, als Aufruf an die Angehörigen von Minderheiten oder benachteiligten Gruppen, bezüglich der Verletzungen von Menschenrechten wachsam zu sein und sich für die Verbesserung der eigenen Situation zu engagieren. Der Begriff ist in den 19-dreißiger Jahren in afro-amerikanischen Kreisen entstanden und ist in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren zunehmend in den öffentlichen Diskurs gekommen. Dabei wurde die Begriffsverwendung ausgeweitet und auf jede Form von Diskriminierung (rassistisch, sexistisch, sozial) angewendet. Seitdem hat sich die Bedeutung des Begriffes in verschiedene Richtungen verändert. Als Tendenz kann beobachtet werden, dass sich immer weniger Menschen selbst als „woke“ bezeichnen, während der Begriff umso mehr als Fremdbezeichnung verwendet wird. Konservative oder rechtsorientierte Gruppierung nutzen ihn in einem abwertenden und abwehrenden Sinn, um Tendenzen zu bekämpfen, die ihnen nicht gefallen oder vor denen sie Angst haben. Die „wokeness“ bezeichnet inzwischen eher eine Grenzlinie im aktuellen Kulturkampf als eine klare politische Einstellung und Werthaltung.

Ein Aspekt in dieser Begriffsentwicklung scheint mir interessant und typisch für verschiedene gesellschaftliche Entwicklungen zu sein. Ursprünglich als Aufforderung zum Erkämpfen und Wahren von Minderheitsrechten der Afroamerikaner geprägt, wurde das Wort verallgemeinert und immer detaillierter auf alle möglichen Aspekte von sozialer Benachteiligung angewendet. Der Katalog an Einstellungen, die notwendig waren, damit sich jemand als „woke“ bezeichnen konnte, wurde ständig erweitert. Damit verlor der Begriff an direkter Schlagkraft und wurde zu einer allgemeinen Bezeichnung für eine offene und inklusive Position im kulturellen und politischen Spektrum. Ab diesem Punkt hat er die Gegner solcher Entwicklungen auf den Plan gerufen, und sie hatten ein Schlagwort, unter das sie alles subsummieren können, was sie an den kulturellen Veränderungen verhindern wollen.

Der Begriff ist also als Abwehrwaffe gegen gesellschaftliche Veränderung in das Repertoire von rechtsgerichteten Politikern gelangt. Gewissermaßen ist dem Begriff eine koloniale Aneignung widerfahren, ein Prozess, der in solchen Zusammenhängen immer wieder aufscheint und kritisch registriert wird: Ein Wort mit emanzipativem Gehalt und Impuls wird seinem ursprünglichem Zusammenhang entnommen und auf andere Anliegen angewendet, um diesen mehr Gewicht zu verleihen. Durch die Erweiterung der Anwendung verliert der Begriff an Kraft. Zugleich wächst die Gegnerschaft, denn jedes neue Anliegen hat neue Gegner. Sie nehmen das Wort auf und nutzen es als Etikett für ihre Gegenaktionen. Es wird in der Folge zur Überschrift für alles, was nach der Meinung der Gegner in die falsche Richtung geht. Ein Wort, das ursprünglich als Ermutigung zur Befreiung aus Umständen mit Ungerechtigkeit und Unterdrückung gedient hat, hat sich in diesem Prozess in einen Begriff zur Abwehr dieser Befreiung und damit zur Aufrechterhaltung von Benachteiligung und Unterdrückung verwandelt.

Zum Beispiel wurde durch die Verallgemeinerung der „wokeness“ die Verwendung einer gendergerechten Sprache zu einem Zeichen für die Unterstützung emanzipativer Bestrebungen. Wer korrekt gendert, ist „woke“. Andererseits: Wer gegen die Verwendung der genderkonformen Sprache ist, und das sind konservative und rechte Kreise, lehnt nicht nur das Gendern ab, sondern, indem es als „woke“ abgewertet ist, zugleich die anderen in diesem Begriff zusammengefassten Befreiungsanliegen. Es lehnen also Leute, die gegen das Gendern sind, auch die anderen emanzipativen Anliegen ab, obwohl sie vielleicht explizit gar nicht gegen eine Aufhebung der Diskriminierung von schwarzen US-Bürgern sind. Aber weil der Begriff als negativ konnotiertes Codewort in den Diskurs eingebracht wird, werden implizit alle bestehenden Unterdrückungsbedingungen bekräftigt. Wer gegen das Gendern in Schrift und Rede auftritt, indem er es als „woke“ Spinnerei kritisiert, argumentiert nicht nur gegen bestimmte Sprechformen, sondern zugleich gegen alle anderen emanzipatorischen Bewegungen. Auf diese Weise ist die „wokeness“ eine begriffliche Waffe gegen die Weiterentwicklung von Freiheitsrechten geworden und wird fleißig in die diversen Propagandakanäle eingespeist.

Die vielfältigen emanzipativen Bewegungen haben ihren inneren Sinn und ihre Wichtigkeit, weil das Leiden von den betroffenen Gruppen verringert oder beseitigt werden muss. Für die Findung und Förderung von Wegen zur Befreiung hat der Begriff der „wokeness“ inzwischen jede Aussagekraft verloren. Die Konfliktlinie verläuft nach wie vor zwischen denen, die die bestehenden Privilegierungen verteidigen wollen, und jenen, die für die Erweiterung und Vertiefung von Freiheitsrechten eintreten. Die Konflikte müssen zu allen Anliegen, die von Gruppen aufgebracht werden, die sich benachteiligt fühlen, ausgestritten werden. Viele Unterdrückungsverhältnisse konnten im Lauf der Geschichte aufgehoben werden, viele warten noch darauf, und neue werden laufend benannt und angeklagt. Das ist der Prozess der gesellschaftlichen Emanzipation, der seit Beginn der Menschheit im Gang ist. Er wird aktuell da und dort zurückgefahren, auch unter Verwendung des angeeigneten Woke-Schlagwortes. Aber ist gibt überall immer wieder Menschen, die daran glauben und sich dafür einsetzen, dass allen Menschen die grundlegenden menschlichen Geburtsrechte zugestanden werden müssen.

Montag, 29. Juli 2024

Das Erlernen der Demokratie in der Kindheit

Die Kindheit ist politisch, lautet der Titel eines Buches, in dem die Kindheit von Gewalttätern und Diktatoren beschrieben ist*. Das Resultat verwundert nicht: All die Personen, die im späteren Leben zu Gewalttätern, Menschenverächtern und brutalen Herrschern wurden, hatten eine Kindheit voll von massiven Missachtungen der Grundbedürfnisse und von traumatisierenden Grenzüberschreitungen. Jedes Beispiel in diesem Buch liest sich wie eine Bestätigung der These, dass alle Täter vorher Opfer waren.

Hier gehe ich der Frage nach, ob es an der Kindheit liegt, dass Erwachsene zu Demokraten werden oder dass sie eher zu Diktatoren und autoritativen Machtverhältnissen neigen. Könnte die Kinderstube ein Lernfeld für spätere politische Ausrichtungen sein? Da politische Einstellungen viel mit Gefühlen zu tun haben und Gefühle eine ganz zentrale Rolle in der Kindheit spielen, scheint dieser Zusammenhang nicht abwegig.

Ein Grundgedanke der Demokratie besteht darin, dass alle Mitglieder einer Gemeinschaft gleichrangig an der Willensbildung und Entscheidungsfindung teilhaben. Es sollen die Einzelinteressen gehört und im Ganzen berücksichtigt werden. Zugleich steht das Gemeinwohl im Zentrum aller Beschlüsse. Ein weiteres Element stellt die vorrangige Beachtung der Schwächeren dar. Der Ausgleich zwischen Stärkeren und Schwächeren ist in jedem demokratischen System wichtig. Werden die Unterschiede zu groß, leidet der Zusammenhalt der Gesellschaft. Schammechanismen sorgen dafür, dass die Reichen nicht zu reich und die Armen nicht zu arm werden. Wer Reichtum anhäuft, hat häufig die Tendenz, auch politische Macht anzuhäufen. Um dem entgegenzuwirken, muss in der Demokratie dafür gesorgt werden, dass es eine transparente Grenze zwischen wirtschaftlicher und politischer Macht geben muss.

Die Demokratie ist ein inklusives System, das versucht, allem seinen gebührenden Rang zu geben, was dazugehört. Sie bietet den weitesten Rahmen für die individuellen Freiheiten, für die Diversität von Lebensstilen und die Vielfalt von Meinungen und Ideen. Ihr Medium ist der Diskurs, der möglichst frei von Herrschaft gehalten werden soll.

Die Haltung der Rücksichtnahme und Berücksichtigung, also des Einschließens all der anderen Mitglieder in den Horizont der Gemeinschaft gelingt nur, wenn es dafür tragfähige Erfahrungen aus der Kindheit gibt. Herrscht in einer Familie ein demokratischer Grundkonsens, dann nehmen Kinder von Anfang an das menschliche Zusammenleben als gleichwertigen Austausch von unterschiedlichen Positionen wahr und können diese Erfahrungen später auf die Gesellschaft und die Menschheit im Ganzen übertragen.

Die Kinderstube der Demokratie

Die Voraussetzung für den erwähnten Grundkonsens liegt darin, dass Kinder von Anfang an als Partner ernstgenommen werden: Partner in der Interaktion und in den Lernprozessen, die mit dem In-die-Welt-Treten des Kindes beginnen, beim Kind und bei den Erwachsenen. Wenn den Eltern klar ist, dass sie so viel vom Kind lernen müssen wie das Kind von ihnen, dann wissen sie, dass sie keine Autorität brauchen, um das Kind in irgendeine Richtung zu erziehen, sondern dass es darum geht, zu erkennen, in welcher Weise sich das Kind entwickeln will, um es bestmöglich dabei zu unterstützen.

Früher verbreitete Auffassungen von Erziehung als Weitergabe von Kenntnissen und Wissen in einem Kompetenz- und Machtgefälle sind nicht mehr zeitgemäß, weil mittlerweile klar ist, dass Wachstum und Lernen eine Atmosphäre von Entspannung brauchen, frei von Macht und Angst. Es gibt zwar einen enormen Unterschied zwischen den Erwachsenen und den Kindern in diesen Bereichen, aber diese Unterschiede sind nicht ausschlaggebend für das Interaktionsgeschehen und das damit verbundene emotionale Lernen. Wenn es sich nur um unterschiedliche Kompetenzen handelt, hat das Kind kein Problem, diese schrittweise zu übernehmen, ohne sich dabei missachtet oder gedemütigt zu fühlen.

Das Erlernen der Unterschiede in der Gerechtigkeit

Demokratie hat viel mit Gerechtigkeit zu tun, ebenso wie das Aufwachsen von Kindern. Die gerechte Behandlung aller Gesellschaftsmitglieder, die Regelung der gesellschaftlichen Abläufe nach den Grundsätzen der Fairness und der Gleichheit aller Mitglieder sind demokratische Grundelemente. Kinder, die unter der Obhut solcher Grundsätze aufwachsen, kommen zu einem intuitiven Verständnis für Gerechtigkeit und Fairness und erwarten sie auch in allen Belangen über  die Familie hinaus. Kinder hingegen, die sich in ihrer Familie ungerecht behandelt oder zurückgesetzt gefühlt haben, entwickeln ein gestörtes Verhältnis zur Gerechtigkeit. Sie glauben überall, dass sie zu kurz kommen und benachteiligt werden. Sie verstehen unter Gerechtigkeit, zu kriegen, was ihnen fehlt, also einen Ausgleich für das Zu-kurz-gekommen-Sein. Da die Benachteiligung auf emotionaler Ebene erfolgt ist, geht sich ein Ausgleich auf einer materiellen Ebene nie aus. Damit verstärkt sich eine Tendenz, Politikern zu folgen, die ein schiefes Bild von Gerechtigkeit propagieren und  realitätsferne Versprechungen machen, die nie eingelöst werden.

Es gibt nach Thomas von Aquin eine kommutative und eine distributive Gerechtigkeit. Die erste Form zielt auf die Gleichbehandlung, etwa nach dem Grundsatz, dass vor dem Gesetz alle gleich sind, und die andere danach, was jedem gebührt oder zukommt, also eine verteilende Gerechtigkeit, die für den Ausgleich zwischen den Stärkeren und den Schwächeren sorgt. Eltern sollen und wollen zumeist ihre Kinder gleich behandeln, was in der Praxis nie aufgeht, weil die Kinder unterschiedlich sind und deshalb auch unterschiedliche Bedürfnisse haben, auf die die Eltern unterschiedlich reagieren müssen. Andererseits wollen die Kinder gleich behandelt werden und fühlen sich unwohl, wenn sie bevorzugt oder benachteiligt werden. Erbschaftsstreitigkeiten entstehen häufig aufgrund einer frühen Ungleichbehandlung zwischen den Kindern, die dann bei der Verlassenschaftsabwicklung lange wirkende Unstimmigkeiten bis Feindschaften zwischen den Nachkommen nach sich ziehen.

Da im Idealfall beide Formen der Gerechtigkeit je nach Bedürfnislage berücksichtigt werden, schwanken die Abläufe in der Familie zwischen diesen beiden Polen. Die Kinder lernen auf diese Weise, das Gleichheitsprinzip und das Ausgleichsprinzip zu unterscheiden und zu verstehen und entwickeln einen ausgewogenen Gerechtigkeitsbegriff. Es kann z.B. sein, dass ein Geschwister häufiger krank ist und deshalb mehr Fürsorge braucht oder dass es schlechter in der Schule ist und mehr Unterstützung in Anspruch nehmen muss. Das andere Kind, das den Eltern weniger Probleme bereitet, braucht dennoch die gleiche Liebe von den Eltern. Sonst fühlt es sich zurückgestellt, ungerecht behandelt und zugleich hilflos, weil es die Notlage des Geschwisters versteht.

Das Erlernen der demokratischen Grundsätze in der Familie ist komplex und hängt stark von den Fähigkeiten der Eltern ab, die beiden Formen der Gerechtigkeit mit den jeweiligen Bedürfnissen und Kompetenzen der Kinder abzustimmen. Kinder, die mit Einfühlung und Respekt aufwachsen, werden im gesellschaftlichen und politischen Kontext zu Demokraten, sie können gar nicht anders. Denn sie erwarten das, was sie in ihrer Familie als Garanten von Sicherheit und Achtung erlebt haben, auch in der Gesellschaft, und sie sind von sich aus bereit, dazu beizutragen.

Kinder hingegen, die in einer Familie aufgewachsen sind, in der emotionale Versorgung und Rücksichtnahme mangelhaft war, neigen dazu, die Frustrationen und Traumatisierungen auf die Gesellschaft und auf die Politik zu projizieren und von diesen Instanzen zu erwarten, dass sie dem persönlichen Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein, abhelfen. Sie bringen kein Grundverständnis für die Demokratie mit und misstrauen deshalb leicht den demokratischen Abläufen und Entscheidungsprozessen. Sie neigen dazu, Politikern zu vertrauen, die dieses Misstrauen teilen und sich als lautstarkes Sprachrohr für alle mögliche Frustrationen und gegen alle Missstände verstehen und sich zugleich als die einzig wirksamen Erlöser präsentieren.

Literatur:
* Sven Fuchs: Die Kindheit ist politisch (Heidelberg: Mattes-Verlag 2019)

Zum Weiterlesen:
Demokratie in der Krise?
Demokratie und Gefühle
Die Verharmlosung von Diktatoren und die Demokratie

 

Dienstag, 16. Juli 2024

Faschismus - eine Annäherung an den Begriff

Rechtsextreme Strömungen sind im Aufwind, lesen wir jeden Tag. Woran erkennen wir, zu welchem Teil des politischen Spektrums eine bestimmte politische Partei gehört? Und was hat der Begriff Faschismus damit zu tun? In der aktuellen Debatte werden immer wieder den Begriff des Faschismus verwendet, ohne dass es klar ist, was damit gemeint ist. Denn auch die Rechte nutzt den Begriff, indem sie z.B. vom Woke-Faschismus oder vom Linksfaschismus spricht. Wir werden uns deshalb hier etwas eingehender mit dem Faschismus und seinen Grundelementen beschäftigen und dazu auch psychologische Hintergründe beleuchten. Damit kann mehr Klarheit geschaffen werden, um den Begriff treffsicher und sinngetreu zu verwenden, statt ihn bloß als Waffe im ideologischen Kampf zu benutzen.

Ich nutze hier eine Sammlung von zentralen Elementen, mit denen Jason Stanley, Philosophieprofessor in Yale, in einem Artikel im Standard den Begriff „Faschismus“ bestimmt hat. Wie wir wissen, stammt der Ausdruck aus Italien, wo er nach dem ersten Weltkrieg von Mussolini und seinen Parteigängern geprägt wurde. Er kommt aus der römischen Bezeichnung für die Rutenbündel der Liktoren, den fasces. Diese symbolisierten seinerzeit die Macht über Leben und Tod.

In der historischen Forschung ist der Begriff umstritten, weil er nur von Mussolinis Partei verwendet wurde. Doch gibt es gerade in der Zwischenkriegszeit eine Reihe anderer Bewegungen, die sich am italienischen Faschismus orientiert haben. Auch heute noch übt das Modell für viele eine große Anziehung aus, obwohl sich die Zeitbedingungen sehr verändert haben. Es sind aber die emotionalen Kernthemen, die unverändert attraktiv sind.

1) Das erste Element des Faschismus besteht in der Verklärung einer mystischen oder mystifizierten Vergangenheit. Was war, war auf geheimnisvolle Weise besser und muss deshalb wiederhergestellt werden. Alles, was schlecht in der Vergangenheit war, wird ausgeblendet und in die Gegenwart eingeblendet. Damit werden rückwärts gewendete Sehnsüchte von Menschen bedient, die glauben, dass sie im Vergleich zur Vergangenheit verloren haben – an Wohlstand, Sicherheit, Status. Es handelt sich im Grund um eine Form der Verklärung der Kindheit, die besonders bei Menschen auftaucht, die eine schwere Kindheit hatten, aber sich einbilden und einreden können, dass sie wunderbar war. Die Verdrängung des Leides der Vergangenheit wirkt in diesen Fällen so, dass Leid nur in und an der Gegenwart wahrgenommen wird.

2) Das zweite Element besteht im hemmungs- und schamlosen Einsatz von Propaganda, bei der es nicht um Wahrheit geht, sondern um den Gewinn von Sympathie. Fakten zählen nicht, wichtig ist nur, dass Anhänger mobilisiert und abhängig gemacht werden. Sie sollen auf einer emotionalen Ebene erreicht werden, indem ihr Zorn und Hass durch manipulierte Informationen mobilisiert wird. Dazu ist jedes Mittel recht. Lügen und Faktenverdrehungen werden systematisch und skrupellos eingesetzt. 

Wer von Kindheit an gewohnt ist, manipuliert, belogen und getäuscht zu werden, verliert das Gespür für den Unterschied zwischen wahr und falsch und glaubt, dass jeder Mensch egoistisch mit allen Mitteln der Wahrheitsverdrehung zu seinem Vorteil kommen will, und deshalb bleibt einem selbst nichts anderes übrig, als genauso vorzugehen. Selbstsüchtige Eltern prägen selbstsüchtige Kinder.

3) In die gleiche Kerbe schlägt das nächste Element, der Anti-Intellektualismus. Alle, die im Bildungssystem zu kurz gekommen, benachteiligt oder abgewertet wurden, finden ein Ventil für die Kränkungen im faschistischen Affekt gegen die „Eliten“, die Oberen, die Besserweggekommenen, die überheblichen Besserwisser. Sie sollen gedemütigt und entmachtet werden, als Rache für die eigenen Frustrationen. Der Generalverdacht und die Feindschaft gegen die Wissenschaften haben hier ihre Wurzeln.

Statt wissenschaftliche Forschungsergebnisse zu nutzen, wird an Verschwörungstheorien geglaubt, die einfache Welterklärungsmodelle liefern, z.B. eine kleine Gruppe von Menschen regiert heimlich die ganze Welt. Abgesichert werden diese Theorien mit paranoiden Konstruktionen: Alles, was der Theorie widerspricht, oder alle, die dagegen sind, sind selber Teil der Verschwörung. Es gibt keine Korrekturmöglichkeiten bei diesen Theorien, sie gelten absolut und geben deshalb eine Sicherheit gegenüber den Wissenschaften, die alles in Frage stellen.

4) Beim nächsten Element geht es um die Betonung gesellschaftlicher Hierarchien, also um eine klare Abstufung von Über- und Unterordnung. Die Gedanken von Gleichheit und Gleichberechtigung werden abgelehnt, weil sie Unsicherheit erzeugen. Hier drückt sich der Wunsch nach einer eindeutigen Elternautorität aus, die in der Kindheit gefehlt hat. Die Demokratiefeindlichkeit der Faschisten ist die größte Gefahr, die von ihnen ausgeht, denn sie will der Willkür, die sich hinter den Bestrebungen nach klaren Hierarchien versteckt, Tür und Tor öffnen.

Demokratie wird in der Kindheit gelernt, oder sie wird nicht gelernt. Eltern, die ihre Kinder grundsätzlich achten und ihnen auf verschiedenen Ebenen als gleichrangig begegnen, geben ihren Kindern ein Wert- und Toleranzgefühl mit, das ihnen hilft, intuitiv die Grundidee der Demokratie zu verstehen. 

5) Daran reiht sich das nächste Element an: Der Ruf nach Recht und Ordnung. Da die Gegenwart als unsicher erlebt wird, muss die Exekutive gestärkt werden, die jede Störung der vorgegebenen Ordnung unterbindet. Damit soll die Gesellschaft auf ihrem gegenwärtigen Stand eingefroren werden, weil jede Veränderung noch weiter von der heilen Vergangenheit wegführen würde. Die Beschwörung von law and order kann so weit gehen, dass die rechtsstaatlichen Normen oder die Menschenrechte missachtet werden (vgl. den Ruf nach der Aufhebung des Asylrechts, der von rechtsgerichteten Parteien erhoben wird, oder die Eingriffe in die Unabhängigkeit der Rechtsinstanzen in Ländern, die von rechten Parteien regiert werden, oder der Sturm auf das Kapitol nach der Abwahl von Trump in den USA).

Erwachsene, die als Kinder in einem Regime von absolut geltenden Regeln aufgewachsen sind, neigen einerseits zur Rebellion und andererseits zur Unterordnung. Die faschistische Richtung deckt beides ab: Rebellion gegen die „Eliten“, also die ungerechten und selbstsüchtigen Eltern, und Unterordnung unter die Partei oder die Führer, die die guten Eltern repräsentieren, die man sich immer gewünscht hat.

6) Faschisten und Anhänger des Faschismus fühlen sich immer in einer Opferrolle – historisch betrachtet als Angehörige einer Nation, der Ungerechtigkeit widerfahren ist, oder sozial als Mitglieder einer Schicht oder Gruppe, die benachteiligt ist. Die angenommene Opferrolle kann nur durch die Übernahme einer Täterrolle ausgeglichen werden, und das ist die Wurzel der Gewaltbereitschaft, die Teil aller faschistischen Bewegungen ist.

Auch hier ist wieder einsichtig, dass die Opfererfahrung als Kind (z.B. durch eine Form des Missbrauchs) auf die eigene Gesellschaft als ganze übertragen wird.

7) Das nächste Element bezieht sich auf die Rolle der Sexualität. Hier wird einem patriarchalen Muster gefolgt, das in diesem Bereich Sicherheit geben soll. Es bleibt die Welt der Männer starr getrennt von der Welt der Frauen, und ebenso starr soll die Machtverteilung mit der Bevorzugung der Männer bestehen bleiben. Deshalb werden alle Bestrebungen des Feminismus ebenso bekämpft wie die Homosexualität und alle nichtbinäre Formen sexueller Orientierung. 

8) Ähnlich wie die Verklärung der Vergangenheit wirkt die Verherrlichung des Landlebens, das mit einer „natürlichen“, „gesunden“ Lebensform in Verbindung gebracht wird. Aus den Städten kommt alles Schlechte, sie sind der Ursprung von allem Unheil und vom Verfall der Sitten. Das wirkt wie ein Nachhall aus der Entstehung des Kapitalismus, durch den viele ihr Land verlassen mussten, um in den Städten Arbeit zu finden und in erbärmlichen Wohnverhältnissen zu leben. Das Leben am Land wird als Idyll gesehen, wie eine schöne Kindheit, die es nie gegeben hat oder die für immer verloren ist. 

In diesem Aspekt knüpft der Faschismus an die Strömungen der Romantik an, die zu Beginn der Industrialisierung mit der Idealisierung der Vergangenheit und des ländlichen Glücks ein melancholisches Zeitgefühl wiedergegeben haben. Die Romantik war im 19. Jahrhundert aber mit dem Liberalismus in der Ablehnung von autoritären Obrigkeiten verbündet. Dieser herrschafts- und machtkritische Aspekt ist in der faschistischen „Romantik“ völlig verschwunden.

9) Schließlich gibt es in der Vorstellungswelt der Faschisten einen klaren Unterschied zwischen den „Anständigen“ und „Fleißigen“ und den „Unanständigen“ und „Faulen“. Die Anhänger dieser rechtsextremen Richtung sehen sich auf der einen, der sauberen Seite und verachten die anderen, die sich nicht ihren Vorstellungen von Rechtschaffenheit und Fleiß fügen, die allerdings oft nur oberflächlich behauptet und vertreten werden. Denn auch Vertreter des Faschismus, die den Anstand im Mund führen, verhalten sich oft schamlos, wenn es um Gewalt oder Sexualität geht, oder liegen auf der faulen Decke, ohne zu merken, dass sie auf der Seite jener gelandet sind, die sie verachten. Das binäre, dichotome Schema ist typisch für ein faschistisches Weltbild, das immer eine Eindeutigkeit vorgeben möchte, die es in der Wirklichkeit nie gibt.

10) Mir erscheint noch ein weiteres Merkmal wichtig: Die Abneigung gegen Kunst, vor allem was ihre modernen Strömungen anbetrifft. Offenbar bedrohen Kunstrichtungen, die die normalen Wahrnehmungsgewohnheiten herausfordern, das Sicherheitsgefühl, das für Menschen mit faschistischen Neigungen das wichtigste ist. Außerdem kann die Kunst nie in ein Schwarz-Weiß-Schema von Gut und Böse eingepasst werden, wie es von Faschisten bevorzugt wird, sondern sie hat die Aufgabe, die Übergänge, Schattierungen und Nuancen darzustellen und dadurch die Rahmensetzungen, die durch die Konventionen errichtet wurden, zu überschreiten und zu sprengen. Die Verunsicherung, die jede Form von lebendiger Kunst auslösen will, ist allen Faschisten ein Dorn im Auge. Die Ursache für den Hass auf neuartige Kunstwerke kann in der Unterdrückung der kindlichen Kreativität durch verständnislose Eltern gefunden werden.

Aus all diesen Elementen wird klar, dass der Faschismus mit der Demokratie nicht verträglich ist. Genauer gesagt, sind seine Programme antidemokratisch. Alle faschistischen Bewegungen streben danach, die Macht bei sich zu monopolisieren, um dann die Demokratie abschaffen zu können, die durch ein autoritäres System ersetzt werden soll. Deshalb können demokratische Systeme nur dann überleben und weiterentwickelt werden, wenn der Einfluss der Rechtsparteien zurückgedrängt und verkleinert wird. Unabhängige Medien, die der Faktizität verpflichtet sind, unabhängige Wissenschaften, die die hohen Standards der Forschung folgen, und das Aufwachsen von jungen Generationen, die die Werte der Freiheit und Toleranz zu schätzen wissen und gegenüber propagandistischen und ideologischen Verführungen eine kritische Distanz wahren können, sind Garanten für den Fortbestand der Demokratie und für die Eindämmung der rechten Demokratiefeinde.

Der Faschismus und die mit dieser Ideologie verbundenen Rechtsparteien können außerdem wegen ihrer Rückwärtsgewandtheit und Wissenschaftsfeindlichkeit keine Lösungen für aktuelle und für voraussehbar kommende Probleme anbieten. Empirisch konnte nachgewiesen werden, dass rechtsgerichtete Regierungen in der Regel mit ihrer Wirtschaftspolitik die soziale Ungleichheit verstärken, also die wirtschaftliche Lage ihrer Anhänger verschlechtern. Rational betrachtet, gäbe es für niemanden einen Grund, rechte oder faschistische Parteien zu wählen. Deshalb liegt die einzige Chance für faschistische Strömungen, um an die Macht zu kommen, darin, die Gefühle der Menschen mit allen Mitteln der Propaganda und des systematischen Lügens zu manipulieren. Und deshalb liegt das Hauptgegengewicht gegen die rechten Strömungen nicht nur in der Aufrechterhaltung der Rationalität und des vernunftgeleiteten Diskurses, sondern auch in der Bewusstmachung und Aufarbeitung der emotionalen Hintergründe und Triebkräfte, die Menschen nach rechts abdriften lassen.

Donnerstag, 11. Juli 2024

Was ist Manipulation?

Wir reden viel von Manipulation, oft ohne uns genauer zu überlegen, was eigentlich gemeint ist. Zunächst ist es klar, dass es um eine Form der Beeinflussung geht. A hat eine Absicht, und er will B dazu bringen, sie auszuführen. Statt einfach zu fragen, ob B die Absicht umsetzen möchte, wird die Absicht verschleiert und es wird versucht, B dazu zu bringen, zu glauben, dass es für ihn am besten ist, wenn er die Absicht von B ausführt. Beispiel: A möchte B einen Rasenmäher verkaufen. Er weiß, dass B schon einen Rasenmäher hat und keinen neuen braucht. Also muss er versuchen, B dazu zu bringen, dass er selber glaubt, einen neuen Rasenmäher zu kaufen. Es geht also darum, die Einstellung von B so zu verändern, dass dann das, was A will, von B gemacht wird, so dass B meint, es selber zu wollen, und damit können alle scheinbar zufrieden sein.

Die Beeinflussung von anderen geschieht unter Ausnutzung ihrer Schwachstellen und Unsicherheiten. Die Botschaft soll dort ins Innere eindringen, wo die Wachsamkeit aussetzt oder schlecht ausgebildet ist. Der Manipulator zieht seinen Gewinn aus der  Naivität, Gutgläubigkeit oder Gier der Menschen, indem er sie für seinen Vorteil empfänglich macht.

Wir nutzen für Manipulation auch den Ausdruck „jemandem etwas einreden“. Damit ist gemeint, dass wir mittels der Sprache die eigene Rede in jemand anderen einpflanzen wollen. Wir wollen, dass die andere Person unsere Rede und damit unsere Sichtweise übernimmt und zu ihrer eigenen macht. Sie soll also introjizieren, was wir aufoktroyieren wollen. Damit wird die Grundlage für ein Machtgefälle gelegt, indem B tut, was A will, und dabei meint, es selber zu wollen.

Es gibt beim Manipulator eine Absicht, mit der er die andere Person in eine bestimmte Richtung lenken will. Es gibt dazu einen bewussten Teil, der es für richtig befindet, dass das Objekt der Manipulation genau das tut, was man von ihr will. Es gibt auch einen unbewussten Teil, der spürt, wo die Schwachstelle der anderen Person ist, über die sie erreicht werden kann, sodass sie zustimmt, obwohl sie von sich aus nicht will. Aus der Zusammenarbeit dieser beiden Teile entsteht die Manipulation, die wirklich wird, sobald die Person B in die von A gewünschte Richtung geht und deren Absicht ausführt.

Manipulation durch Werbung

Bei der Werbung und Propaganda ist die Absicht klar und unverblümt, und ebenso sind die Schwachstellen der Menschen bekannt, durch Erfahrung und wissenschaftliche Erforschung. Es gibt viele Untersuchungen, wie Menschen zu bestimmten Einstellungen und über die Einstellungen zu Handlungen gebracht werden können, ohne dass sie es merken. Wir wissen zwar, was die werbetreibenden Unternehmen von uns wollen, schauen uns aber trotzdem ihre Botschaften an und können uns den Einflüssen nicht entziehen, die auf unsere unbewusst ablaufenden emotionalen Muster und Denkvorgänge wirken. Auch wenn wir gerade kein Parfüm kaufen wollen, fühlen wir uns freudig berührt, wenn wir ein trautes Paar sehen, das sich beim Sonnenuntergang liebkost. Wir wissen, dass das alles für einen bestimmten Zweck inszeniert ist, aber wenn wir irgendwann einmal in einem Geschäft die Marke sehen, für die geworben wurde, kann uns das gleiche Gefühl wieder befallen, und, so die Hoffnung der Manipulatoren, wir greifen diesmal zu und schon ist das Parfüm in der Tasche gelandet. Wir denken vielleicht später, dass wir eigentlich etwas ganz anderes einkaufen wollten, aber nun ist es schon zu spät. Die Manipulationsfalle ist zugeschnappt.

Zur Manipulation gehört, dass die beeinflusste Person nicht erkennen soll, dass sie beeinflusst wurde, sondern zur Meinung gelangen soll, dass sie eine bestimmte Ansicht von sich aus vertritt und für richtig empfindet. Es geht also um eine Fremdbestimmung, um Fernsteuerung, die unbemerkt ablaufen soll.

Die Parabel vom kleinen Hänschen

Es gibt Manipulationen, die dem Manipulator nicht bewusst sind. Sie bilden den Quell für alle späteren Manipulationsimpulse. Sie entstehen in der Eltern-Kind-Interaktion, wenn Eltern Erwartungen an die Kinder haben, die sie nicht direkt ausdrücken, weil sie mit Scham behaftet sind, aber die sie auf eine Weise mitteilen, dass die Kinder ein schlechtes Gewissen ausbilden, wenn sie die Erwartungen nicht erfüllen. Zum Beispiel sagt die Mutter zum Hänschenklein: „Geh nur in die weite Welt hinaus,“ aber ihr Blick drückt ihr großes Leid darüber aus, dass sie verlassen wird. Der kleine Hans geht in die weite Welt, also in seine Autonomie, aber das schlechte Gewissen holt ihn ein, er besinnt sich, weil er spürt, wie traurig die Mutter ist, und kehrt geschwind wieder heim. Vorbei ist es mit der Autonomie, er hat sich der manipulativen Macht der Mutter unterworfen.

Die Mutter „kann nicht anders“, d.h. sie hat keine bewusste Absicht, ihren Sohn zu manipulieren. Scheinbar will sie ja das Beste für ihn. Sie steckt jedoch fest in ihren narzisstischen Besitzansprüchen und übt damit die Macht aus, die ihr in ihr selber fehlt. Wenn der Sohn geht, fällt sie ganz auf sich selbst zurück und merkt, dass sie nichts wert ist. Also muss der Sohn wieder her, um dieses Vakuum zu füllen. Der kleine Hans lernt dabei, dass es keinen direkten Weg zur Erfüllung der Bedürfnisse gibt, sondern dass der immer über Manipulationen führen muss.

NLP und Manipulation

Eine interessante Wendung findet das Thema im NLP. Dort wird die Sache umgedreht: Manipulation gibt es nur, wenn sie von einem Empfänger zugelassen wird. Der augenscheinlich Manipulierte sorgt erst mit seiner Zustimmung dafür, dass der Manipulierende sich manipulierend verhält. Er manipuliert in diesem Sinne den von außen als aktiv gesehenen Manipulator. Wer Manipulation zulässt, macht sie erst zur Manipulation. Manipulation wird damit zu einer alltäglichen Vorgehensweise, die demnach nicht negativ bewertet werden muss. Es handelt sich um Abmachungen mit wechselseitiger Verantwortung.

Formal nachvollziehbar ist, dass es zum Zustandekommen einer Kommunikation immer zwei braucht, so auch bei einer manipulativen Kommunikation. Wenn B auf die manipulative Absicht von A nicht eingeht, entsteht keine Manipulation. Allerdings gehört zur Manipulation die bewusste Absicht zur Manipulation, die darin besteht, B nicht nur zu einer Handlung zu bewegen, z.B. zum Kauf des Rasenmähers, sondern bei ihm eine innere Haltung zu erzeugen, die diesen Kauf als dem eigenen Interesse dienend einschätzt.

Übersehen wird bei dieser Überlegung das Machtgefälle. Der Manipulierende will (bewusst oder unbewusst) der anderen Person seinen Willen aufzwingen. Er sucht einen Weg, auf dem die andere Person nicht merken soll, dass sie überrumpelt wird. Es gibt also immer eine Täuschungsabsicht, und sie markiert den Unterschied zwischen der Manipulation und anderen Formen der Überzeugungsrede. Mit Hilfe der Täuschung soll in die Innenwelt der Adressatin ein fremder Inhalt eingeschmuggelt werden, ohne dass der Schwindel bemerkt wird. Dieser Vorgang kann von beiden Seiten unbewusst ablaufen, wie beim Beispiel vom kleinen Hans, oder bewusst, wie in der Werbung oder bei einem Kundengespräch, bei dem z.B. Nachteile der angebotenen Ware oder Dienstleistung verschwiegen werden, bei dem also Mogelpackungen angepriesen werden. Das bekannte Beispiel sind die Kühlschränke, die an Eskimos verkauft werden.

Dem NLP wird nachgesagt, als Methode manipulativ zu sein und Manipulationstechniken zu lehren. Es gibt NLP-Kurse mit dem Titel: „Manipulieren, aber richtig.“ Ein Buch namens: „Mit NLP manipulieren“ wird folgendermaßen angepriesen: „In diesem Buch erfahren Sie erstmals, wie Sie Menschen mit Hilfe von NLP so manipulieren können, wie Sie es möchten. Mit Hilfe der richtigen NLP Technik lässt sich jeder Mensch marionettenartig so steuern, wie man es möchte. Hierzu bedarf es lediglich der richtigen NLP Technik.“ (Jacobsen, Frank, 2010)

Natürlich sehen das die Vertreter dieser Richtung nicht so und verweisen darauf, dass man mit dem NLP lernen kann, sich nicht manipulieren zu lassen. Das bedeutet aber, man könne nur mit NLP lernen, NLP-basierende Manipulationen zu durchschauen. NLP versucht, Einfluss auf das Unterbewusste des Interaktionspartners zu nehmen, auch ohne dass dieser es bemerkt. Damit liegt es an der ethischen Integrität dessen, der NLP anwendet, ob er mit seinen Techniken andere Menschen zum eigenen Vorteil täuscht oder ob er sie zum Vorteil der angesprochenen Person nutzt. Das NLP stammt ja zu einem gewissen Teil aus der Hypnotherapie (vor allem nach Milton Eriksson), bei der auch direkt auf das Unterbewusste der behandelten Person Einfluss genommen wird. In diesem Rahmen gibt es klare ethische Richtlinien, die die Klienten schützen. Das NLP hat die Anwendungsgebiete der hypnotischen Beeinflussungen auf andere Geschäftsfelder erweitert und wird z.B. in der Wirtschafts- und Politikberatung angewendet. Dort geht es aber um Konkurrenz und schnellen Gewinn unter Umständen auch auf Kosten anderer und nicht um Mitgefühl für Leidenszustände. Wer die Machtaspekte bei der Manipulation ignoriert oder verharmlost, öffnet dem egoistischen Gebrauch der Manipulation Tür und Tor.

Manipulationsuniversen in den sozialen Medien

Wer Unterlegenheitsgefühle, mangelndes Selbstvertrauen oder Angst hat, lässt sich leichter täuschen, ist leicht manipulierbar. Wer als Kind von den Eltern (zumeist unbewusst) manipuliert wurde, ist besonders anfällig für Manipulationen.

Manipulationen haben aber auch deshalb so viel Erfolg, weil es immer schwieriger wird, alle Angebote und Glücksversprechen, die auf uns einprasseln, zu überprüfen. Mit den sozialen Medien haben sich neue Universen der Manipulation geöffnet, in denen jedermann/frau die Manipulationskünste erproben kann, ohne Rücksicht auf irgendwelche ethischen Standards. Medienkompetenz gehört schon längst zu den Grundfähigkeiten im Umgang mit dem Informationsdschungel, dem wir ausgesetzt sind. Wenn wir aber von ungewollten Beeinflussungen frei bleiben wollen, müssen wir die Mühe auf uns nehmen, Faktencheck über Faktencheck durchzuführen.

Gebräuchliche Manipulationstechniken

Es gibt unterschiedliche Manipulationstechniken, die dort wirksam werden, wo es Grenzverletzungen in der Kindheit gegeben hat:

1.   Manipulation durch Wiederholung:
Hier geht es darum, die Botschaft so oft zu wiederholen, bis das Gegenüber „weichgeklopft ist“ und den Widerstand aufgibt. In der Erziehung ist es wichtig, Vorgänge immer wieder zu wiederholen, damit die Kinder lernen können. Wenn aber die Prozeduren, die immer wieder die gleichen sind, dem Kind nicht beim Wachsen helfen, sondern ihm Prügel vor die Füße werfen, wird es keinen kritischen Geist entwickeln.

2.   Manipulation durch Erzeugen von Angst:
Es wird der Eindruck erweckt, dass eine Entscheidung so schnell wie möglich getroffen werden muss, weil sonst ein großer Nachteil entsteht. Die Angst soll das logische und vernünftige Denken abstellen und zu spontanen Handlungen (z.B. Spontankäufen) anleiten.
Das Aufwachsen unter angstgeprägten Umständen macht empfänglich für die Motivation aus Angst.

3.   Manipulation des Denkens:
Ein weites Feld von Möglichkeiten gibt es bei der Beeinflussung der unbewusst ablaufenden Denkvorgänge, z.B. Übertreibungen, Fangfragen oder Faktenverdrehungen. Es werden Aussagen präsentiert, die nicht überprüft werden können, z.B. das Waschmittel wäscht weißer als alle anderen. Kinder, die mit Eltern aufgewachsen sind, die immer rechthatten und rechthaben mussten, merken schwerer, wenn ihre Denkvorgänge beeinflusst werden.

4.   Manipulation des Verhaltens durch Sprache:
Mit der Formulierung: „Man tut etwas (nicht)“ wird suggeriert, dass es sich um eine unumstößliche Norm handelt. Ebenso wirken Aussagen, die als Faktum behaupten, was nur eine Bewertung darstellt: „Es ist unmöglich, sich so zu verhalten.“ Wer mit solchen Mitteln erzogen wurde, neigt dazu, solche Behauptungen für bare Münze zu nehmen und sich danach zu richten.

5.   Manipulation von Informationen:
Informationen brauchen einen Kontext, um Sinn zu machen. Deshalb ist es relativ einfach, den Kontext zu verändern, ohne dass es bemerkt wird, und schon gewinnt die Information eine neue Bedeutung. Z.B. werden Informationen, die dem angepriesenen Produkt zum Nachteil gereichen, als unwichtig bezeichnet, und solche, die das Produkt auszeichnen, als einzig wichtig benannt. Allgemein heißt das, dass Informationen, die der eigenen Sichtweise entgegenstehen, ausgeblendet oder abgewertet, und Informationen, die diese Perspektive unterstützen, herausgestrichen und überbetont werden.
Wer schon als Kind entmutigt wurde, nach dem zu forschen, was die eigenen Normen und Werte sind, wird sich schwertun, sich gegen solche Manipulationen abzuschirmen.

6.   Manipulation von Bedürfnissen:
Unerfüllte Bedürfnisse motivieren uns zum Handeln. Deshalb ist der Zugriff auf die Bedürfnisse bei jeder Manipulation wichtig. Jeder Mensch leidet irgendwo unter einem Mangel, nachdem nie alle Bedürfnisse optimal erfüllt sind. Diesen Mangel aufzuspüren, ist die Kunst der Manipulatorin. Der zweite Schritt besteht darin, das eigene Angebot als perfekte Erfüllung genau dieses Bedürfnisses darzustellen. Viele der Mangelzustände sind emotionaler Natur: zu wenig Aufmerksamkeit, Zuwendung, Mitgefühl und Liebe zu bekommen. Also werden Produkte emotional aufgeladen, sodass sie scheinbar in der Lage sind, emotionalen Mangel auszugleichen. Z.B. suggeriert eine Schokosüßigkeit einen Genuss, der jeden inneren Mangel stillt. Viele, die als Kinder gelernt haben, statt emotionaler Zuwendung mit Nahrungsmitteln oder Medienkonsum abgespeist zu werden, sind anfällig für diese Form der Manipulation.

Zum Weiterlesen:
Manipulation erkennen und entzaubern
Astroturfing - Manipulation vom Feinsten
Die Begrenzung narzisstischer Manipulation
Wird die Demokratie von Manipulatoren gekidnappt?

Samstag, 22. Juni 2024

Kriege entstehen in den Köpfen

Kriege wirken auf die betroffenen Menschen wie Naturkatastrophen, denen sie machtlos ausgeliefert sind. Aber es ist nicht die Natur, die Kriege hervorbringt. Manche meinen, es wäre die animalische Seite des Menschen, die zur Gewalt neigt und zum Berserker wird, wenn die Ressourcen knapp werden und von Artgenossen bedroht sind. Das wäre der Ursprung für das Kriegführen. Doch wegen der hohen Zerstörungskraft, die von menschlichen Kriegen ausgeht und die mit jeder Weiterentwicklung der Technik wächst, sind Kriege hochriskante Abenteuer, und das, was für ihre Entfesselung notwendig ist, geht weit darüber hinaus, was animalische Triebe hergeben. Die Motive, die hinter dem Auslösen von Kriegen stecken, sind viel komplexer.

Der Historiker Yuval Harari sagt in einem Videogespräch: „Menschen kämpfen nicht um Land oder Nahrung. Sie kämpfen wegen imaginärer Geschichten in ihrem Verstand.“ Diese Sichtweise verstehe ich folgendermaßen: Die Motive, einen Krieg zu führen, stammen nicht aus unerfüllten Bedürfnissen und davon ausgelösten Frustrationen von Einzelpersonen oder Kollektiven, sondern daraus, dass diese Bedürfnisse mit der Vorstellung verknüpft werden, dass sie nur durch einen Krieg erfüllt werden könnten. Es besteht Hunger, und das Bedürfnis ist, Nahrung zu bekommen; es gibt dazu verschiedene Wege, und einer davon ist es, Krieg zu führen, wenn z.B. ein Land dem anderen die Lebensmittelzufuhr abschneidet. Welcher Weg gewählt wird, entscheidet nicht das Bedürfnis, sondern das Denken. Es wählt unter den Optionen diejenige aus, die am wahrscheinlichsten, am schnellsten oder am nachhaltigsten einen Erfolg verspricht. Diese Wahl wird aus Erzählungen gespeist, die sich vor allem aus Opfergeschichten unter Verwendung von Täterkonstrukten zusammensetzen. Der Opferstatus dient zur Rechtfertigung der Gewaltanwendung gegen den Täter. Um diesem demütigenden Zustand zu entkommen, ist jedes Mittel recht. 

Vorstellungen, die ein gewaltsames Vorgehen als einzige Lösung einschätzen, stammen aus Gefühlen der Verzweiflung und Ausweglosigkeit. Die Vernunft ist außer Kraft gesetzt. Unbewusste Ängste liefern die alleinige Triebkraft für die Aggressionen. Diese Ängste werden von Denkkonstrukten erzeugt, die einen Opfer-Täter-Zusammenhang suggerieren, der nur durch die Vernichtung des Täters aufgelöst werden kann. Der Opferstatus kann nur durch die Übernahme des Täterstatus überwunden werden, so die Gefühlslogik, die hinter jeder kriegerischen Aggression steckt. Nur wenn ich so böse werde wie der Täter, der mich zum Opfer gemacht hat, kann ich die Schande des Opferseins ausgleichen. 

Opfererzählungen nähren sich auf der individuellen Ebene aus einem mangelhaften Selbstwert; auf der kollektiven Ebene ist es genauso. Es wird nur das Mangelhafte am eigenen Kollektiv wahrgenommen, eben die Unterlegenheit gegenüber einem anderen Kollektiv, und dieser Mangel kann nur dadurch behoben werden, indem das andere Kollektiv besiegt und unterworfen wird.

Nehmen wir das Beispiel des Russland-Ukraine-Krieges. Der russische Diktator hat diesen Krieg unter Verwendung mehrerer Narrative entfesselt. Prominent dabei ist die Auffassung, dass Russland seine nationale Größe nach dem Zerfall der Sowjetunion verloren hat und dass die Größe weiterhergestellt werden muss. Russland ist in eine Mangellage geraten, die Verkleinerung des Staatsgebietes hat den nationalen Wert gemindert und das Land in einen Opferstatus gerückt. Als Täter eignet sich der Westen, insbesondere die NATO, die sich auf Kosten von Russland ausbreiten will und das Land immer mehr an den Rand drängt. Da die Ukraine, die Teil der Sowjetunion war, sich dem Westen zuwenden will, stellt sie eine weitere Bedrohung dar, die den Opferstatus Russlands noch mehr verschärfen würde. Also, wo kein Wille ist, bleibt nur die Gewalt. Es geht folglich Russland bei diesem Krieg nicht darum, mehr Land und damit mehr Macht zu gewinnen (Land hat, wie Harari bemerkt, Russland mehr als genug), sondern darum, den Opferstatus, der aus dem Narrativ der eigenen Minderwertigkeit hervorgeht, zu eliminieren und damit die eigene Geschichte vom Opferstatus in die Täterrolle zu drehen. 

In einem Spiegel-Interview sagt Harari: „Nationale Interessen sind oft nicht durch objektive Vernunft geformt, sondern entstehen aus mythologischen Narrativen, die sich in den Köpfen der Menschen festgesetzt haben.“ Ebenso, wie Nationen als solche schon Schöpfungen von Erzählungen sind, sind nationale Interessen aus den Gefühlsenergien dieser Erzählungen gespeist. Der Begriff eines nationalen Interesses wird von Politikern gerne verwendet, wenn sie Machtansprüche ausdrücken wollen und gehört zur Rhetorik der Vorbereitung von Kriegen. Gesellschaften verfügen über die unterschiedlichsten Interessen, z.B. ganz zentral das Interesse am Frieden. Denn nur im Frieden kann das Zusammenleben der Menschen gedeihen. 

Werden Gesellschaften mit Nationen gleichgesetzt, so dringen die nationalen Erzählstränge in die Mentalität der Gesellschaft und in die Psyche ihrer Mitglieder ein. Diese Narrative dienen der Herstellung der Identifikation der Mitglieder mit dem Kollektiv. Auf diese Weise wurden und werden Gesellschaften in Nationen umfunktioniert und auch die Interessen der Mitglieder denen der Nation untergeordnet. Diese Verschiebungen bilden die Grundlage für die Kriegsbereitschaft in der Moderne. 

Die furchtbaren Erfahrungen zweier Weltkriege, die aus diesen Dynamiken entstanden sind, haben dazu geführt, Ansätze einer übernationalen Weltordnung zu erstellen. Die Langsamkeit der Entwicklung der weltweiten Zusammenarbeit zeigt, wie tief die „mythologischen“ Nationalnarrative verankert sind. Aus diesen Gründen entstehen immer wieder neue kriegerisch ausgetragene Konflikte, zum Schaden der betroffenen Menschen und der Menschheit insgesamt. Jeder neue Krieg ist ein massiver Anschlag auf die Menschenwürde und stellt eine Schande dar, für die Verantwortlichen und für die Menschheitsfamilie. Das Versagen der Friedenspolitik, das wir in den letzten Jahren beobachten und bedauern können, zeigt die Macht der unbewussten Kräfte aus dem Zusammenspiel von Opfer- und Täterrollen auf der Basis von gedanklichen Konstrukten.

Zum Weiterlesen:
Braucht es einen Krieg? Wer braucht einen Krieg?
Kriegsverbrechen und Schamverdrängung
Krieg und Scham
Pazifismus in der Krise?
Das Kämpfen nährt den Kampf


Samstag, 15. Juni 2024

Über das Verrückte und das Verrücken

 Verrückt ist ein Begriff, der normalerweise für Geistesgestörte gilt. Wir verwenden ihn in der Alltagssprache auch, um Situationen oder Menschen zu beschreiben, die uns nicht passen oder die uns sehr stören: “Das Wetter schlägt verrückte Kapriolen,” “Der Verrückte hat, ohne zu blinken, die Fahrspur gewechselt.”  

Hier werde ich den Begriff in einem übertragenen Sinn erörtern: als Bezeichnung für etwas, das von einem Ort an einen anderen verschoben, also verrückt wurde. Wenn eine Verrückung stattfindet, verschwindet eine alte Ordnung und eine neue entsteht. Das Alte macht Platz für das Neue, sobald ein verrückender Eingriff erfolgt ist. Manche Leute stellen immer wieder ihre Möbel um, damit im Außen ein neuer Eindruck entsteht. Wenn wir in unserem Inneren unsere Möbel, also die sperrigen Dinge, die sich im Lauf der Zeit angehäuft und festgesetzt haben, aber nur im Weg stehen, umstellen, gewinnen wir neue Einsichten. Jede Nacht wird unser Gehirn gereinigt, indem entfernt wird, was sich während des Tages als Abfall angesammelt hat. Die Schadstoffe werden entfernt, damit am nächsten Morgen neue Gedanken und Ideen kommen können. Das Gehirn ist gewissermaßen jeden Morgen neu aufgestellt, um für die Herausforderungen des Tages gerüstet zu sein. 

Entrümpeln wir auf ähnliche Weise unser Inneres, so machen wir uns zunächst klar, was von unserem Inventar wir noch brauchen und was wir loswerden wollen. Bei Letzteren sollte es vor allem den Gewohnheiten an den Kragen gehen, die wir als schädlich für uns selber einstufen. Sie melden sich vollautomatisch und selbstverständlich, als hätten sie alles Recht auf ihre uneingeschränkte Macht. Tatsächlich bilden sie eine Phalanx, die stur, unerbittlich und unbeweglich ihren Platz behauptet. Mit der Autorität eines Elternteils setzen sie sich gegen alle anderen Stimmen durch. Wenn alles zurechtgerückt ist und an seinem angestammten Ort befindet, bewegt sich nichts mehr. Starre Gewohnheiten regeln das Leben in eingefahrenen Bahnen. Jede kleine Änderung bewirkt eine Irritation und Verunsicherung. 

Wenn wir bestimmte Gewohnheiten eindämmen wollen, die unserem Handeln die Regeln vorgeben, uns aber nicht guttun, so hilft uns die archetypische Gestalt des Narren. Mit seiner spielerischen und spontanen Haltung unterläuft er die Starrheit der Gewohnheiten. Der Narr heißt manchmal auch der Trickser. Er verfügt über das Überraschende und Unerwartete, wie ein tricksender Fußballspieler, der mit Körpertäuschung und Wendigkeit den Gegner überspielt. Er kann alle auf die Schaufel nehmen, allem ein Schnippchen schlagen, und in Windeseile verrückt er die Dinge. Schon hat er sich selbst wieder neu erfunden. 

Die eigene Welt muss immer wieder aus den Fugen geraten, damit sich die Dinge, die am falschen Ort sind, neu konfigurieren. Manchmal warten wir so lange damit, bis eine von außen kommende Erschütterung das bestehende Ordnungsgefüge zum Einsturz bringt. Besser ist es, wenn es ein bewusst gesetzter Schritt ist, mit dem ein Wagnis eingegangen wird, aus gewohnten Bahnen auszubrechen und die Spielräume der inneren Freiheit zu erweitern.  

Streben wir nach mehr Freiheit, so ist das moderate Ausleben der Verrücktheit ein probater Weg. Die einengende Ordnung wird in ein Chaos verwandelt, um zu einer neuen Ordnung zu finden. Die Kunst besteht darin, das Chaos nicht zu groß werden zu lassen, sodass wir den Bezug zum Verrücken aufrechterhalten können. Das Verrücken ist ein bewusster Akt zur Veränderung einer Gewohnheit. 

Nimmt es allerdings unkontrolliert überhand, so wird rasch die Grenze erreicht, jenseits derer das Chaos zu mächtig wird und aus dem Akt des Verrückens eine krankheitswertige Verrücktheit entsteht. Wenn zu viele Elemente unserer Innenwelt auf einmal durcheinanderkommen, verlieren wir den Überblick und das Gefühl für das Zentrum. Wir können nicht mehr klar zwischen Wichtigem und Unwichtigem und zwischen Innerem und Äußerem unterscheiden. Dann brauchen wir professionelle Hilfe, um wieder zu unserer Mitte zurückzufinden.  

Es ist also eine Frage der Dosis: Ohne einen Schuss von Verrücktheit ab und zu ist das Leben trocken und langweilig, kontrolliert und starren Regeln folgend. Mit zu viel der ausgelebten Spontaneität verlieren wir den Bezug zum eigenen Zentrum und zu dem, was wir sind und was wir eigentlich wollen.  

Zum Weiterlesen:
Der Narr

 


Samstag, 1. Juni 2024

Selbsthass und Körperscham

Der eigene Körper zählt zu den Vorgegebenheiten unseres Lebens, auf die wir nur einen geringen Einfluss haben. Unsere Augen- und Haarfarbe, unsere Körpergröße und die Form der Schönheit unseres Äußeren sind durch die genetischen Anlagen vorbestimmt. Sicher gibt es noch weitere Einflüsse auf unsere Außenerscheinung, wie z.B. die Ernährung oder die emotionale Stabilität, mit der wir aufgewachsen sind. Es gibt auch Korrekturmöglichkeiten für körperliche Mängel durch die moderne Medizin. Aber all diesen Eingriffen sind Grenzen gesetzt, die in unserem Genom festgelegt sind.

Die Kultur ist Trägerin von Wertmaßstäben und Idealen, was den menschlichen Körper anbetrifft. Körperliche Fitness z.B. ist ein moderner Standard. In früheren Zeiten war ein beleibter Körper Anzeichen von Wohlhabenheit, heutzutage gilt er als Hinweis auf schlechte Essgewohnheiten und mangelnde Bewegungsfreude. Die Schlankheit als Markenzeichen weiblicher Schönheit hat sich erst dann als Idealmaß etabliert, als sich durch den Einfluss der Empfängnisverhütung die kulturellen Bilder von Weiblichkeit und Fortpflanzungsfähigkeit entkoppelt haben. 

Psychologen haben festgestellt, dass es Menschen, deren Äußeres nach den gängigen Maßstäben als schön wahrgenommen wird (und das sind nach anderen Forschungen ca. 10 Prozent), leichter haben im Leben. Ihnen wird grundsätzlich mehr Vertrauen entgegengebracht als hässlichen Personen. Sie finden leichter eine Arbeit und einen Partner. Für Menschen, die dem Ideal weniger entsprechen, gibt es dann nur die Möglichkeit, den Leistungsidealen, die ebenso von der Kultur vorgegeben sind, zu entsprechen, und auf diese Weise Anerkennung zu erlangen. Nach wie vor sind in vielen Bereichen die Männer vor den Frauen bevorzugt. Männer, die es zu Ruhm oder Geld gebracht haben, wirken relativ unabhängig von ihrem Äußeren auf Frauen attraktiv, während reiche Frauen ohne äußere Zier viel schlechter bei den Männern  ankommen.

Als Mängel und Schwächen wahrgenommene Aspekte der eigenen Körperlichkeit sowie nicht erreichte Schönheits- oder Leistungsideale geben Anlass für Scham und Selbsthass. Ein Körper, für dessen Aussehen man keine Verantwortung hat, der einem aber nicht gefällt, wie er ist, kann für den Verstand zum Objekt für eine permanent wirksame Selbstablehnung werden, die kontinuierlich den Selbstwert untergräbt. Auf diesen einzigen Körper, den wir haben, wird das ganze Unglück projiziert, das erfahren wird und mit jedem Blick in den Spiegel Bestätigung findet. Der Hass drückt die Spannung zwischen der Ohnmacht und dem Selbstvernichtungswunsch aus.

Mediale Ideale

Die allgegenwärtige Medienwelt, in der wir uns tagtäglich aufhalten, verstärkt und verschärft die Idealansprüche, die den Menschen auferlegt werden und denen sie sich oft leichtfertig unterordnen. Viele Menschen machen ihren eigenen Körper zum Schauobjekt auf diversen Plattformen, und die Aufrufe und Likes, die dafür einlangen, bestimmen den Selbstwert und die Selbstachtung. Manche Leute schönen die veröffentlichten Bilder von sich selbst mittels Bildbearbeitung und künstlicher Intelligenz und schaffen sich damit ein Doppelleben – ein reales mit einem ungenügenden Körper und ein virtuelles mit dem idealen Aussehen. Die irreale Präsenz in der Welt der sozialen Medien soll das quälende Schamgefühl ausgleichen, das das Leben in der realen Welt kennzeichnet. Je mehr Zeit mit dem selbstgeschaffenen Bild von sich selbst verbracht wird, desto realer wird es im eigenen Kopf und desto schemenhafter wird die wirkliche Wirklichkeit, bis die Abwehr des Schamgefühls in Wahnvorstellungen mündet.

Auch hier handelt es sich um verinnerlichte fremde Stimmen, die das körperliche Selbstempfinden dominieren. Die kulturellen oder subkulturellen Gebote sind besonders dann wirksam, wenn zunächst der Selbstbezug und daraus dann der Selbstwert von früh an geschwächt wurden. Zuerst sind es die abschätzigen Blicke der Eltern, die das Schamgefühl auslösen, dann die Begutachtungen durch die Gruppe der Gleichaltrigen und schließlich die medialen Scheinwelten, die das Innenempfinden in Geiselhaft nehmen. Die Menschen orientieren sich in ihrem Aufwachsen zunehmend an äußeren Instanzen, weil die innere Sicherheit für Werthaltungen und Normen schon von den Anfängen her geschwächt ist. Es sind dann andere, an die die Zuständigkeit für die Bestätigung des Eigenwertes abgetreten wird, in dem Fall die anonyme Mächte der kulturellen Normen. So zu sein und dem zu entsprechen, wie es diese Werte verlangen, wird dann zur existenziellen Notwendigkeit. Denn es droht beim Nichterreichen dieser Ideale die Existenzscham mit ihrer Wucht, begleitet vom Selbsthass auf das Äußere. Die äußere Körperform ist nun mit dem gesamten unsicheren Selbst aufgeladen.

Von dieser Gefühlsdynamik wird eine riesige und stetig wachsende Industrie für Kosmetika, Schönheitsmittel und -operationen, Beauty-Wellness sowie der gesamte Wirtschaftssektor der Mode in Betrieb gehalten. Die Glitzer- und Glamourwelt, die immer wieder neue Leitfiguren hervorbringt, lebt von diesen Mechanismen und befeuert und belebt sie auch dadurch, dass sie in den jungen Leuten die Hoffnung weckt, nach oben kommen zu können, zu den Schönen und Reichen zu zählen und die allgemeine Bewunderung zu ernten – oder die Ängste schürt, es nicht zu schaffen und in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden.

Das Schöne an der Schönheit

Natürlich spielen viele andere Motive und Bedürfnisse im Umfeld der Schönheitsbegriffe mit. Die Menschen wollen sich aus vielen Gründen schön machen, sie wollen füreinander ihre Schönheit teilen, anerkennen und anerkannt werden. Viel Kreativität findet in diesen Bereichen Ausdruck. Es gibt auch wichtige Zusammenhänge zwischen Schönheit und Gesundheit. Das Äußere eines Menschen kann wegen einer Krankheit an Schönheit einbüßen, während ein gesund gehaltener Körper in sich eine Schönheit trägt, die nicht immer mit kulturell geprägten Schönheitsbegriffen gemessen werden kann.

Doch wie in allen menschlichen Angelegenheiten gibt es auch hier Licht- und Schattenseiten. Jede Fixierung auf das Äußere und seinen Glanz oder sein Elend trägt und nährt narzisstische Züge, die durch ökonomische Antriebe und kulturelle noch zusätzlich verstärkt werden. Das nach außen wirksame Bild ist maßgeblich und bestimmt über das Innere. Immer, wenn der Wert der eigenen Innerlichkeit ignoriert wird und der Bezug dazu verzerrt oder unterbrochen ist, entstehen Schamgefühle, und sobald diese Selbstmissachtung als unangenehmes Gefühl spürbar wird, kann die Scham in Selbsthass umschlagen. Die Quelle des Übels ist das unvollkommene Äußere, das der Hass in seiner vorgegebenen Form beseitigen will.

Zum Weiterlesen:
Selbsthass: Sich selbst der ärgste Feind sein
Schönheit wird die Welt retten
Schönheitsideale und Wahrnehmungsschwächen