Montag, 29. Juli 2024

Das Erlernen der Demokratie in der Kindheit

Die Kindheit ist politisch, lautet der Titel eines Buches, in dem die Kindheit von Gewalttätern und Diktatoren beschrieben ist*. Das Resultat verwundert nicht: All die Personen, die im späteren Leben zu Gewalttätern, Menschenverächtern und brutalen Herrschern wurden, hatten eine Kindheit voll von massiven Missachtungen der Grundbedürfnisse und von traumatisierenden Grenzüberschreitungen. Jedes Beispiel in diesem Buch liest sich wie eine Bestätigung der These, dass alle Täter vorher Opfer waren.

Hier gehe ich der Frage nach, ob es an der Kindheit liegt, dass Erwachsene zu Demokraten werden oder dass sie eher zu Diktatoren und autoritativen Machtverhältnissen neigen. Könnte die Kinderstube ein Lernfeld für spätere politische Ausrichtungen sein? Da politische Einstellungen viel mit Gefühlen zu tun haben und Gefühle eine ganz zentrale Rolle in der Kindheit spielen, scheint dieser Zusammenhang nicht abwegig.

Ein Grundgedanke der Demokratie besteht darin, dass alle Mitglieder einer Gemeinschaft gleichrangig an der Willensbildung und Entscheidungsfindung teilhaben. Es sollen die Einzelinteressen gehört und im Ganzen berücksichtigt werden. Zugleich steht das Gemeinwohl im Zentrum aller Beschlüsse. Ein weiteres Element stellt die vorrangige Beachtung der Schwächeren dar. Der Ausgleich zwischen Stärkeren und Schwächeren ist in jedem demokratischen System wichtig. Werden die Unterschiede zu groß, leidet der Zusammenhalt der Gesellschaft. Schammechanismen sorgen dafür, dass die Reichen nicht zu reich und die Armen nicht zu arm werden. Wer Reichtum anhäuft, hat häufig die Tendenz, auch politische Macht anzuhäufen. Um dem entgegenzuwirken, muss in der Demokratie dafür gesorgt werden, dass es eine transparente Grenze zwischen wirtschaftlicher und politischer Macht geben muss.

Die Demokratie ist ein inklusives System, das versucht, allem seinen gebührenden Rang zu geben, was dazugehört. Sie bietet den weitesten Rahmen für die individuellen Freiheiten, für die Diversität von Lebensstilen und die Vielfalt von Meinungen und Ideen. Ihr Medium ist der Diskurs, der möglichst frei von Herrschaft gehalten werden soll.

Die Haltung der Rücksichtnahme und Berücksichtigung, also des Einschließens all der anderen Mitglieder in den Horizont der Gemeinschaft gelingt nur, wenn es dafür tragfähige Erfahrungen aus der Kindheit gibt. Herrscht in einer Familie ein demokratischer Grundkonsens, dann nehmen Kinder von Anfang an das menschliche Zusammenleben als gleichwertigen Austausch von unterschiedlichen Positionen wahr und können diese Erfahrungen später auf die Gesellschaft und die Menschheit im Ganzen übertragen.

Die Kinderstube der Demokratie

Die Voraussetzung für den erwähnten Grundkonsens liegt darin, dass Kinder von Anfang an als Partner ernstgenommen werden: Partner in der Interaktion und in den Lernprozessen, die mit dem In-die-Welt-Treten des Kindes beginnen, beim Kind und bei den Erwachsenen. Wenn den Eltern klar ist, dass sie so viel vom Kind lernen müssen wie das Kind von ihnen, dann wissen sie, dass sie keine Autorität brauchen, um das Kind in irgendeine Richtung zu erziehen, sondern dass es darum geht, zu erkennen, in welcher Weise sich das Kind entwickeln will, um es bestmöglich dabei zu unterstützen.

Früher verbreitete Auffassungen von Erziehung als Weitergabe von Kenntnissen und Wissen in einem Kompetenz- und Machtgefälle sind nicht mehr zeitgemäß, weil mittlerweile klar ist, dass Wachstum und Lernen eine Atmosphäre von Entspannung brauchen, frei von Macht und Angst. Es gibt zwar einen enormen Unterschied zwischen den Erwachsenen und den Kindern in diesen Bereichen, aber diese Unterschiede sind nicht ausschlaggebend für das Interaktionsgeschehen und das damit verbundene emotionale Lernen. Wenn es sich nur um unterschiedliche Kompetenzen handelt, hat das Kind kein Problem, diese schrittweise zu übernehmen, ohne sich dabei missachtet oder gedemütigt zu fühlen.

Das Erlernen der Unterschiede in der Gerechtigkeit

Demokratie hat viel mit Gerechtigkeit zu tun, ebenso wie das Aufwachsen von Kindern. Die gerechte Behandlung aller Gesellschaftsmitglieder, die Regelung der gesellschaftlichen Abläufe nach den Grundsätzen der Fairness und der Gleichheit aller Mitglieder sind demokratische Grundelemente. Kinder, die unter der Obhut solcher Grundsätze aufwachsen, kommen zu einem intuitiven Verständnis für Gerechtigkeit und Fairness und erwarten sie auch in allen Belangen über  die Familie hinaus. Kinder hingegen, die sich in ihrer Familie ungerecht behandelt oder zurückgesetzt gefühlt haben, entwickeln ein gestörtes Verhältnis zur Gerechtigkeit. Sie glauben überall, dass sie zu kurz kommen und benachteiligt werden. Sie verstehen unter Gerechtigkeit, zu kriegen, was ihnen fehlt, also einen Ausgleich für das Zu-kurz-gekommen-Sein. Da die Benachteiligung auf emotionaler Ebene erfolgt ist, geht sich ein Ausgleich auf einer materiellen Ebene nie aus. Damit verstärkt sich eine Tendenz, Politikern zu folgen, die ein schiefes Bild von Gerechtigkeit propagieren und  realitätsferne Versprechungen machen, die nie eingelöst werden.

Es gibt nach Thomas von Aquin eine kommutative und eine distributive Gerechtigkeit. Die erste Form zielt auf die Gleichbehandlung, etwa nach dem Grundsatz, dass vor dem Gesetz alle gleich sind, und die andere danach, was jedem gebührt oder zukommt, also eine verteilende Gerechtigkeit, die für den Ausgleich zwischen den Stärkeren und den Schwächeren sorgt. Eltern sollen und wollen zumeist ihre Kinder gleich behandeln, was in der Praxis nie aufgeht, weil die Kinder unterschiedlich sind und deshalb auch unterschiedliche Bedürfnisse haben, auf die die Eltern unterschiedlich reagieren müssen. Andererseits wollen die Kinder gleich behandelt werden und fühlen sich unwohl, wenn sie bevorzugt oder benachteiligt werden. Erbschaftsstreitigkeiten entstehen häufig aufgrund einer frühen Ungleichbehandlung zwischen den Kindern, die dann bei der Verlassenschaftsabwicklung lange wirkende Unstimmigkeiten bis Feindschaften zwischen den Nachkommen nach sich ziehen.

Da im Idealfall beide Formen der Gerechtigkeit je nach Bedürfnislage berücksichtigt werden, schwanken die Abläufe in der Familie zwischen diesen beiden Polen. Die Kinder lernen auf diese Weise, das Gleichheitsprinzip und das Ausgleichsprinzip zu unterscheiden und zu verstehen und entwickeln einen ausgewogenen Gerechtigkeitsbegriff. Es kann z.B. sein, dass ein Geschwister häufiger krank ist und deshalb mehr Fürsorge braucht oder dass es schlechter in der Schule ist und mehr Unterstützung in Anspruch nehmen muss. Das andere Kind, das den Eltern weniger Probleme bereitet, braucht dennoch die gleiche Liebe von den Eltern. Sonst fühlt es sich zurückgestellt, ungerecht behandelt und zugleich hilflos, weil es die Notlage des Geschwisters versteht.

Das Erlernen der demokratischen Grundsätze in der Familie ist komplex und hängt stark von den Fähigkeiten der Eltern ab, die beiden Formen der Gerechtigkeit mit den jeweiligen Bedürfnissen und Kompetenzen der Kinder abzustimmen. Kinder, die mit Einfühlung und Respekt aufwachsen, werden im gesellschaftlichen und politischen Kontext zu Demokraten, sie können gar nicht anders. Denn sie erwarten das, was sie in ihrer Familie als Garanten von Sicherheit und Achtung erlebt haben, auch in der Gesellschaft, und sie sind von sich aus bereit, dazu beizutragen.

Kinder hingegen, die in einer Familie aufgewachsen sind, in der emotionale Versorgung und Rücksichtnahme mangelhaft war, neigen dazu, die Frustrationen und Traumatisierungen auf die Gesellschaft und auf die Politik zu projizieren und von diesen Instanzen zu erwarten, dass sie dem persönlichen Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein, abhelfen. Sie bringen kein Grundverständnis für die Demokratie mit und misstrauen deshalb leicht den demokratischen Abläufen und Entscheidungsprozessen. Sie neigen dazu, Politikern zu vertrauen, die dieses Misstrauen teilen und sich als lautstarkes Sprachrohr für alle mögliche Frustrationen und gegen alle Missstände verstehen und sich zugleich als die einzig wirksamen Erlöser präsentieren.

Literatur:
* Sven Fuchs: Die Kindheit ist politisch (Heidelberg: Mattes-Verlag 2019)

Zum Weiterlesen:
Demokratie in der Krise?
Demokratie und Gefühle
Die Verharmlosung von Diktatoren und die Demokratie

 

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