Freitag, 16. August 2024

Kulturelle Aneignungen im Kapitalismus und in der Kulturentwicklung

Im Reigen der neueren Begriffe in der kulturpolitischen Debatte fehlt jetzt noch jener der „kulturellen Aneignung“. Dieser Begriff ist eng mit der Kolonisationsgeschichte verbunden, geht aber auch darüber hinaus. Er kommt vom englischen Cultural Appropriation, und das heißt so viel wie widerrechtliche Aneignung oder Inbesitznahme, was soviel bedeutet wie kultureller Diebstahl. Die gebräuchliche Übersetzung ins Deutsche klingt harmloser und wird deshalb häufig missverstanden.

Die Sensibilisierung in den westlichen Gesellschaften für dieses Thema hat in den westlichen Gesellschaften vor ungefähr 40 Jahren im Kreis der Kultur- und Sozialwissenschaften begonnen und  ist nun in der breiten Öffentlichkeit angekommen. Auch die Erkenntnisse in der Aufarbeitung der Kunsträubereien durch die Nationalsozialisten haben zur Bewusstheit für diese Thematik beigetragen und dazu geführt, dass entwendete Kulturgüter an die ursprünglichen Eigner zurückgegeben wurden. Probleme treten vor allem dort auf, wo Kulturgüter unter Ausnutzung von asymmetrischen Machtverhältnissen angeeignet werden und die Ursprungskultur verschwiegen oder verachtet wird. 

Das Thema kulturelle Aneignung kann viele Emotionen entfesseln, weil es bei Schwarzen, indigenen Menschen oder People of Color Erinnerungen an traumatisierende Erfahrungen mit rassistischen Abwertungen weckt. Diese Empfindlichkeit spiegelt die Lasten des Kolonialismus wider, der bis heute wirksam ist und dessen Ideologie besagte, dass die Weißen allen anderen Rassen überlegen sind. Die vor allem von Europa ausgehende koloniale Expansion zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert hat nicht nur mit der Sklaverei und der Ausplünderung von Bodenschätzen unendliches Leid hervorgebracht und viele Kriege angezettelt, sie hat auch eine große Zahl von indigenen Kulturen und Traditionen ausgerottet oder schwer beschädigt. Das, was den Weißen von den einheimischen Kulturgütern als interessant oder hübsch erschienen ist, haben sie einfach mitgenommen und stolz in unsere Museen gestellt.

Viele weiße Personen, die von den Gräueln des Kolonialismus nichts wissen oder wissen wollen, können die verletzten Gefühle der Vertreter indigener Völker oft nicht nachvollziehen und verstehen die Empfindlichkeiten nicht. Es fehlt an historischer Aufklärung über die Schneisen an Gewalt und Ausbeutung, die durch die Kolonialmächte quer durch die südlichen und östlichen Kontinente geschlagen wurden. Die Verachtung und Arroganz, mit welcher die Kolonialherrn alle nicht-weißen Menschen behandelt und misshandelt haben, wirken bis heute als kollektive Traumen nach und nähren die Scham- und Wutgefühle bei den betroffenen Menschen, die sich dann an jeder neuen Form der hochmütigen weißen Ignoranz aufs Neue entzünden. Der Respekt für jede Form von Kultur ist erst in letzter Zeit in den westlichen Ländern langsam gewachsen und schwächt den strukturellen Rassismus, den es nach wie vor in unseren Breiten und in Übersee gibt und der auf viele Normen und Sichtweisen hierzulande einen subtilen Einfluss ausübt.

Strittige Fälle der kulturellen Aneignung

Die UNESCO hat schon 1970 ein Abkommen verabschiedet, mit dem der Handel mit Kulturgütern unterbunden und das nationale Erbe des jeweiligen Landes geschützt werden soll. Dennoch gibt es immer wieder Fälle der kulturellen Aneignung, bei denen die Rechte der ursprünglichen Besitzer nicht geachtet werden. 

Ein Beispiel bilden die Dreadlocks. Sie stammen aus der Rastafari-Bewegung schwarzer Jamaikaner und wurden als Symbol der Unterdrückung und des Protestes dagegen getragen. Als sie zum Modegag für Leute wurden, die alle westlichen Freiheiten genießen und zu den Profiteuren des Kolonialismus zählen, reagierten viele mit antikolonialem Hass. 

Der Hip-Hop als Musikrichtung diente zunächst und ursprünglich der Wiedergabe der Lebenswelt schwarzer Menschen, die Texte waren vor allem gegen Diskriminierung und Benachteiligung gerichtet. Als auch Weiße mit diesem Musikstil Geld machten, fühlten sich die schwarzen Hip-Hopper bestohlen und ihres Protestmittels beraubt.

In Mexiko soll erstmals die kulturelle Aneignung unter Strafe gestellt werden. Der Anlass besteht darin, dass westliche Modelabels Webmuster der indigenen Bevölkerung  ungefragt und ohne Kompensation für ihren Profit verwendet haben. Diese Muster haben für die Bevölkerung eine hohe kulturelle und religiöse Bedeutung.

Kapitalismus und kulturelle Aneignung

Der Kapitalismus breitet sich ungehemmt aus, wenn er nicht durch staatliche Gesetze oder zwischenstaatliche Abkommen eingeschränkt wird. Er inhaliert auch alle kulturellen Güter, aus denen Profit geschlagen werden kann, wie z.B. eine verkitschte Mozartmelodie, die im Einkaufszentrum zu konsumieren anregen soll. Das mexikanische Beispiel schlägt in die gleiche Kerbe. Kulturgüter werden zu Waren und dienen der Ankurbelung der kapitalistischen Prozesse, bei denen an irgendeiner Stelle der Reichtum angehäuft wird und anderswo schrumpft.  Die Traditionen werden eingeebnet und gleichgeschaltet, sodass sich die mondänen Einkaufsstraßen in den Metropolen durch nichts mehr voneinander unterscheiden: Die Modeketten, die mit ihren Schaufenstern locken, sind überall auf der Welt die gleichen, ebenso wie die Melodien, die drinnen dudeln. 

Zwar gibt es immer wieder Kunstwerke, die der Vermarktung voraus sind, aber irgendwann werden sie eingeholt, außer sie sind so widerspenstig wie die Zwölf-Ton-Musik oder der Free-Jazz. Den Kulturtraditionen und indigenen Kulturen ergeht es nicht anders. Irgendwann werden ihre passablen Elemente entdeckt und in eine neue Modeströmung eingebaut, in der sie ihre ursprüngliche Aussagekraft verlieren. Sobald die nächste Welle kommt, werden sie wieder vergessen, und ein Stück Ursprünglichkeit ist für immer dahin. Die Profitkarawane zieht weiter und schert sich nicht darum, wer sich verletzt und wütend fühlt. Staatliche Gesetze können dieses Treiben da und dort eindämmen, aber alle Kulturgüter, die durch solche Maßnahmen aus dem Sog der Vermarktungsdynamik herausgehalten und eigens geschützt werden, verhalten sich zur Ursprungskultur wie Zootiere zu ihren wild lebenden Artgenossen. 

Keine Kultur ohne Aneignung

Es gibt keine Kulturentwicklung ohne die Übernahme von Kulturelementen aus anderen Traditionen. Kultur lebt vom Austausch und von gegenseitiger Befruchtung an den Grenzen der Kulturräume. Jeder Kulturschaffende gewinnt seine neuen kreativen Impulse aus dem, was andere bereits geschaffen haben. Allerdings ist es auch Teil der Kultur, denjenigen Respekt und Anerkennung zu zollen, denen man die eigenen Schöpfungen zu verdanken hat.  Dort, wo dieser Akt der Bescheidenheit und Dankbarkeit versäumt wird, kann man von ungerechtfertigter und unmoralischer Aneignung sprechen. 

Der antikoloniale Affekt ist verständlich, der in Bezug auf viele Kulturschöpfungen aus benachteiligten Kulturräumen und –traditionen ausbricht, wenn sie ungefragt kopiert und in entfremdende neue Kontexte eingebettet oder zu Profitzwecken vermarktet werden. Solche Wutgefühle genügen aber nicht dafür, die Kulturentwicklung insgesamt einzuschränken. Die Freiheit, die diese Entwicklung braucht, ist wesentlich für ihr Gedeihen, und ihr Gedeihen ist wesentlich für den Fortbestand der Gesellschaft und letztlich für das Wohlbefinden der Menschen. In dieser Entwicklung finden immer mehr Traditionen und Kulturräume ihren mitgestaltenden Platz, indem sie in ihrer Eigenart und ihrem Eigenwert anerkannt und zugleich zu einem kommunikativen Austauschprozess eingeladen werden. Auch indigene Kulturtraditionen haben nicht nur einen historischen Wert, der bewahrt werden sollte, sondern auch ein inneres Veränderungspotenzial als Reaktion auf die verändernden Rahmenbedingungen und auf die historischen Prozesse, in denen sich alle Traditionen befinden. 

Andererseits ist es ein wesentlicher Teil der Kulturentwicklung, die bewertungsfreie Anerkennung aller Kulturschöpfungen und kulturellen Traditionen zu fördern, die die Menschheit je hervorgebracht hat. Wir sind Teil einer Weltkultur, die aus allen Quellen der Kreativität der Menschen auf dieser Erde schöpft und in ihrer Gesamtheit Wirkungen auf alle Menschen entfaltet. Jede Abwertung irgendeiner kulturellen Tradition bedeutet einen Rückschritt in der Kulturentwicklung. Die Debatten um die kulturelle Aneignung machen auf diese Dimension aufmerksam und dienen deshalb selber als Teil dem kulturellen Fortschritt.


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