Sonntag, 11. August 2024

Cancel-Culture und künstlerische Freiheit

Ich gehe weiter in der Begriffserkundung neuerer Worte, die in der kultur-politischen Debatte benutzt werden und Kontroversen auslösen. Worum geht es bei Cancel-Culture? 

Wie Julian Nida-Rümelin, Philosoph und Autor schreibt, wurde das „canceln“ zunächst (2014) als spaßiger Ausdruck dafür gebräuchlich, dass man jemanden aus der Bekannten- oder Freundesliste streichen will, der abwegige Meinungen vertritt. Aus dem Film „New Jack City“ (1991) wurde ein Zitat übernommen: Selina: „You’re a murderer, Nino. I’ve seen you kill too many people, Nino.” Nino Brown: “Cancel that bitch. I’ll buy another one.” 

Das Wort wurde aber dann bald von Randgruppen aufgegriffen und benutzt, um gegen Diskriminierungen aufzutreten. Personen, die für Verletzungen von Menschenrechten und für menschenverachtende Ideologien verantwortlich gemacht werden, sollen geächtet und, soweit es sich um KünstlerInnen handelt, die öffentlichen Auftritte boykottiert oder verboten werden. Damit soll der Fortschritt in der Toleranz und gesellschaftlichen Offenheit gefördert werden. Die Debatte dreht sich vor allem um Fragen von Sexismus und Rassismus, ähnlich wie die Themen, die mit dem Woke-Begriff verbunden sind. Es sollen Menschen, die den Idealen der Emanzipation und sozialen Gerechtigkeit nicht folgen, durch öffentlichen Druck zum Umdenken gebracht werden. Dabei wird über den Anlassfall hinaus immer auch für eigene Anliegen Aufmerksamkeit erzeugt. Es geht also grundsätzlich um die Erweiterung und Sensibilisierung der Moral und des gegenseitigen Respekts, Grundlagen für jede freie Demokratie, Anliegen, die anhand von einzelnen Vorkommnissen thematisiert werden.

Inzwischen hat sich um diesen Begriff eine komplexe Debatte entwickelt. Auf der einen, der konservativen Seite, wird eine Überempfindlichkeit beklagt, mit der kleinste Kleinigkeiten oder missverstandene Äußerungen zum Aufschreien von Massen führen können. Die Folge bestünde dann darin, dass sich niemand mehr etwas zu sagen traue, aus Angst, sich einem shitstorm in den sozialen Medien auszusetzen. Es ginge in der Debatte nicht mehr um bessere Argumente, sondern um die richtige moralische Einstellung, und der rationale Diskurs bleibt auf der Strecke. Damit werde schließlich der Zensur Vorschub geleistet. Oft wird dann wehleidig gejammert: „Da darf man ja wohl gar nichts mehr sagen.“ Natürlich darf in einer freien Gesellschaft jeder alles sagen, nur muss man mit ablehnenden Reaktionen rechnen, wenn sich andere Menschen oder Menschengruppen durch eine Äußerung verletzt fühlen, oder wenn das, was gesagt wird, der Vernunft oder der Ethik widerspricht. Das ist das Wesen einer offenen Debatte. Die Nutzung des Rederechtes ist unter den Bedingungen der Meinungs- und Redefreiheit nur eine Frage der Zivilcourage.

Deshalb wird auf der anderen, der liberalen Seite darauf aufmerksam gemacht, dass es um einen Kampf in der Meinungsführerschaft geht, der mit der konservativen Kritik an einer Cancel-Culture angefeuert wird. Notwendige kritische Stimmen gegen Ungerechtigkeiten könnten mit dem Cancel-Vorwurf abgewehrt werden. Ähnlich wie beim Woke-Begriff ist auch die Cancel-Culture inzwischen zum fixen offensiven Bestandteil rechtsorientierter Propaganda geworden. Z.B. wird der Begriff im rechten US-Sender Fox News wesentlich öfter verwenden als auf den liberalen Sendern CNN oder MSNBC. 

Vertreter auf beiden Seiten des Debattenspektrums befürchten aus unterschiedlichen Gründen die Einschränkung des öffentlichen Diskurses und damit eine Gefährdung der bürgerlichen Freiheiten und der Demokratie. 

Cancel-Culture und Rache

Es gehört zu den menschlichen Schwächen, anderen, die einen auf die Nerven gehen oder durch ihr Reden und Tun verletzen, Schaden zufügen oder sie bestrafen zu wollen. Der Impuls zur Rache ist uns allen bekannt. Zugleich ist es wichtig, diesen Impuls einzudämmen, um nicht Böses mit Bösem oder noch Böserem zu vergelten, um also Konflikte nicht zu eskalieren, sondern mit gegenseitigem Respekt lösen. Vor allem ist es wichtig, dass Inhalte und Personen unterschieden werden. Wenn im Namen von mehr Gerechtigkeit und Toleranz Personen angegriffen werden, die offenbar oder nur scheinbar diese Ideale verraten, geht die Rache zu weit und erzeugt neues Unrecht und vermehrt die Intoleranz. Eine Künstlerin beispielsweise, die Bemerkungen machte, die als antisemitisch verstanden werden könnten, wird anderswo nicht mehr eingeladen, erleidet also einen geschäftlichen Schaden, ohne dass über die Stichhaltigkeit der Vorwürfe ausreichend diskutiert wird. Immer wieder wird im Namen der Cancel-Culture über das Ziel hinaus geschossen, was nicht zur Bewusstseinsbildung führt, sondern nur zur Vertiefung von kulturellen und politischen Frontenstellungen. Denn sobald es zu solchen Vorfällen kommt, melden sich die Vertreter der unterschiedlichen Richtungen zu Wort, mit dem Ziel, den Anlass für ihre eigenen Ziele im Meinungswettstreit zu nutzen.

Die Racheimpulse und das Bewusstsein über ihre Gefahren gibt es schon lange. Sie kommen überall im politischen Spektrum vor. Neu ist es, dass solche Entgleisungen als Cancel-Culture benannt werden. Mit dem neuen Begriff wird das Konfliktpotenzial aufgeladen. Konflikte erhalten eine neue Dimension, eine Meta-Ebene, bei der es nicht mehr um das ursprüngliche kontroversielle Thema geht, sondern um die Behauptung im Kampf um Positionen in der politischen und kulturellen Landschaft. 

Künstlerische Freiheit und Cancel-Culture

Es steht jedem Veranstalter frei, ein- oder auszuladen, wen er oder sie will. Es steht jedem Besucher frei, Veranstaltungen zu besuchen oder nicht; wenn aber im Sinn der Cancel-Culture Vorverurteilungen vorgenommen werden oder wenn auf Grund von öffentlicher Aufregung und nicht nach sorgsam abgeklärten Vorwürfen Kulturschaffende ausgeladen und damit zu Objekten politischer Debatten und Konflikte gemacht werden, dann werden genau die Grenzen überschritten, die durch die Cancel-Culture gewahrt werden sollten.

Mit dem Gaza-Krieg hat die Cancel-Culture neue Höhepunkte erreicht. Proisraelische Kulturinstitutionen oder solche, die nicht antiisraelisch wahrgenommen werden wollten, konnten nun keine Leute einladen, die sich nicht klar proisraelisch outeten und mussten mit Boykottaufrufen von propalästinensischen Kreisen rechnen, und vice versa. Statt die öffentliche Debatte mit verschiedenen differenzierten Sichtweisen zu beleben und aufzulockern, kam es zu einer bedauerlichen Verarmung der kulturellen Streitkultur. In solchen Vorgängen erhebt die politische Sphäre einen Machtanspruch über die kulturelle Sphäre und beraubt sie damit der Freiheiten, die sie für ihre Kreativität braucht. Kultur, die in ihrem Schaffen der Politik untergeordnet ist, verliert ihre künstlerische Potenz und provokative Aussagekraft, das kann am Beispiel jeder Diktatur belegt werden.

Politische Konflikte heizen also die Cancel-Culture jedes Mal wieder neu auf, seit sie thematisiert wurde. Der künstlerische und kulturelle Bereich verliert dadurch mehr und mehr an Chancen, gerade solche Konflikte aus ungewohnten Perspektiven zu beleuchten und andere Aspekte bewusst zu machen, die übersehen werden. Es wird zunehmend von Kunstschaffenden verlangt, dass sie sich klar politisch positionieren, und das stellt eine Bevormundung und eine Einschränkung der künstlerischen Freiheit dar.

Zum Weiterlesen:
Woke - ein Beispiel für politische Aneignung


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