Freitag, 2. August 2024

Woke - ein Beispiel für politische Aneignung

Ein Etikett geistert in den Debatten im kulturell-politischen Bereich herum, schillernd und wandelbar, in Verwendung für moralische Imperative und für pauschale Abwertungen. Es taucht als Selbstzuschreibung für eine tolerante und auf Ungerechtigkeiten sensibilisierte Werthaltung auf und wird zunehmend eher als verallgemeinerte Fremdzuschreibung für gegnerische politische Orientierungen gebraucht.

Es geht hier um das „Woke“-Sein. Der Duden definiert"woke" als: „in hohem Maß politisch wach und engagiert gegen (insbesondere rassistische, sexistische, soziale) Diskriminierung."

Der Begriff war ursprünglich gegen rassistische Diskriminierung gerichtet, als Aufruf an die Angehörigen von Minderheiten oder benachteiligten Gruppen, bezüglich der Verletzungen von Menschenrechten wachsam zu sein und sich für die Verbesserung der eigenen Situation zu engagieren. Der Begriff ist in den 19-dreißiger Jahren in afro-amerikanischen Kreisen entstanden und ist in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren zunehmend in den öffentlichen Diskurs gekommen. Dabei wurde die Begriffsverwendung ausgeweitet und auf jede Form von Diskriminierung (rassistisch, sexistisch, sozial) angewendet. Seitdem hat sich die Bedeutung des Begriffes in verschiedene Richtungen verändert. Als Tendenz kann beobachtet werden, dass sich immer weniger Menschen selbst als „woke“ bezeichnen, während der Begriff umso mehr als Fremdbezeichnung verwendet wird. Konservative oder rechtsorientierte Gruppierung nutzen ihn in einem abwertenden und abwehrenden Sinn, um Tendenzen zu bekämpfen, die ihnen nicht gefallen oder vor denen sie Angst haben. Die „wokeness“ bezeichnet inzwischen eher eine Grenzlinie im aktuellen Kulturkampf als eine klare politische Einstellung und Werthaltung.

Ein Aspekt in dieser Begriffsentwicklung scheint mir interessant und typisch für verschiedene gesellschaftliche Entwicklungen zu sein. Ursprünglich als Aufforderung zum Erkämpfen und Wahren von Minderheitsrechten der Afroamerikaner geprägt, wurde das Wort verallgemeinert und immer detaillierter auf alle möglichen Aspekte von sozialer Benachteiligung angewendet. Der Katalog an Einstellungen, die notwendig waren, damit sich jemand als „woke“ bezeichnen konnte, wurde ständig erweitert. Damit verlor der Begriff an direkter Schlagkraft und wurde zu einer allgemeinen Bezeichnung für eine offene und inklusive Position im kulturellen und politischen Spektrum. Ab diesem Punkt hat er die Gegner solcher Entwicklungen auf den Plan gerufen, und sie hatten ein Schlagwort, unter das sie alles subsummieren können, was sie an den kulturellen Veränderungen verhindern wollen.

Der Begriff ist also als Abwehrwaffe gegen gesellschaftliche Veränderung in das Repertoire von rechtsgerichteten Politikern gelangt. Gewissermaßen ist dem Begriff eine koloniale Aneignung widerfahren, ein Prozess, der in solchen Zusammenhängen immer wieder aufscheint und kritisch registriert wird: Ein Wort mit emanzipativem Gehalt und Impuls wird seinem ursprünglichem Zusammenhang entnommen und auf andere Anliegen angewendet, um diesen mehr Gewicht zu verleihen. Durch die Erweiterung der Anwendung verliert der Begriff an Kraft. Zugleich wächst die Gegnerschaft, denn jedes neue Anliegen hat neue Gegner. Sie nehmen das Wort auf und nutzen es als Etikett für ihre Gegenaktionen. Es wird in der Folge zur Überschrift für alles, was nach der Meinung der Gegner in die falsche Richtung geht. Ein Wort, das ursprünglich als Ermutigung zur Befreiung aus Umständen mit Ungerechtigkeit und Unterdrückung gedient hat, hat sich in diesem Prozess in einen Begriff zur Abwehr dieser Befreiung und damit zur Aufrechterhaltung von Benachteiligung und Unterdrückung verwandelt.

Zum Beispiel wurde durch die Verallgemeinerung der „wokeness“ die Verwendung einer gendergerechten Sprache zu einem Zeichen für die Unterstützung emanzipativer Bestrebungen. Wer korrekt gendert, ist „woke“. Andererseits: Wer gegen die Verwendung der genderkonformen Sprache ist, und das sind konservative und rechte Kreise, lehnt nicht nur das Gendern ab, sondern, indem es als „woke“ abgewertet ist, zugleich die anderen in diesem Begriff zusammengefassten Befreiungsanliegen. Es lehnen also Leute, die gegen das Gendern sind, auch die anderen emanzipativen Anliegen ab, obwohl sie vielleicht explizit gar nicht gegen eine Aufhebung der Diskriminierung von schwarzen US-Bürgern sind. Aber weil der Begriff als negativ konnotiertes Codewort in den Diskurs eingebracht wird, werden implizit alle bestehenden Unterdrückungsbedingungen bekräftigt. Wer gegen das Gendern in Schrift und Rede auftritt, indem er es als „woke“ Spinnerei kritisiert, argumentiert nicht nur gegen bestimmte Sprechformen, sondern zugleich gegen alle anderen emanzipatorischen Bewegungen. Auf diese Weise ist die „wokeness“ eine begriffliche Waffe gegen die Weiterentwicklung von Freiheitsrechten geworden und wird fleißig in die diversen Propagandakanäle eingespeist.

Die vielfältigen emanzipativen Bewegungen haben ihren inneren Sinn und ihre Wichtigkeit, weil das Leiden von den betroffenen Gruppen verringert oder beseitigt werden muss. Für die Findung und Förderung von Wegen zur Befreiung hat der Begriff der „wokeness“ inzwischen jede Aussagekraft verloren. Die Konfliktlinie verläuft nach wie vor zwischen denen, die die bestehenden Privilegierungen verteidigen wollen, und jenen, die für die Erweiterung und Vertiefung von Freiheitsrechten eintreten. Die Konflikte müssen zu allen Anliegen, die von Gruppen aufgebracht werden, die sich benachteiligt fühlen, ausgestritten werden. Viele Unterdrückungsverhältnisse konnten im Lauf der Geschichte aufgehoben werden, viele warten noch darauf, und neue werden laufend benannt und angeklagt. Das ist der Prozess der gesellschaftlichen Emanzipation, der seit Beginn der Menschheit im Gang ist. Er wird aktuell da und dort zurückgefahren, auch unter Verwendung des angeeigneten Woke-Schlagwortes. Aber ist gibt überall immer wieder Menschen, die daran glauben und sich dafür einsetzen, dass allen Menschen die grundlegenden menschlichen Geburtsrechte zugestanden werden müssen.

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