Samstag, 20. Mai 2023

Pubertärer Wachstumswahn und die Klimakrise

Der Archetyp der Pubertät

Es ist der Wachstumswahn, der uns in die prekäre Situation gebracht hat. Er ist gespeist von einer pubertären Energie. Die Zeit der Adoleszenz stellte eine wichtige Phase im Aufwachsen dar, weil sie mit dem Abschied von der Familie und der Begründung des eigenen Lebensweges sowie mit der Öffnung für Sexualität und Intimität verbunden ist. Sie hat eine spezielle Zielrichtung und Ausdrucksform, die von den Jugendlichen auf verschiedenste Weise erlebt und umgesetzt wird. Der Archetyp der Pubertät beinhaltet das Ausbrechen und das Aufbrechen, das Bewusstsein von unbegrenzten Möglichkeiten, die Verachtung des Alten und die Angst vor dem Neuen. Er enthält eine besondere Form der Aggression, die mit dem Impuls der Befreiung verbunden ist. Es geht darum, der eigenen Individualität zum Durchbruch zu verhelfen und sie in die Welt zu bringen. Sie soll aus ihren Fesseln befreit werden, und das geht nicht ohne den Einsatz von Aggression. In der Dramaturgie dieser Phase gibt es die Kräfte des Beharrens und Festhaltens, die in jedem Familiensystem wirksam sind und gegen die sich die Aggression des Ausbrechens richtet. Die Rücksichtslosigkeit, die oft in solchen Vorgängen beobachtet werden kann, hängt mit der empfundenen Notwendigkeit und Unumgänglichkeit dieser riskanten Schritte zusammen, bei denen es nicht ohne Provokation geht.

Alle Elemente der Geburt wiederholen sich: Der Drang und Zwang zum Ausbrechen aus dem Vertrauten, das zum engen Gefängnis geworden ist, der Einsatz aller Kräfte, um den Todesängsten zu trotzen, die beim Durchgang durch den Gebärkanal entstehen können, Erfahrungen von Ohnmacht und Verzweiflung. 

Die Möglichkeitshorizonte, die sich in der Pubertät öffnen, haben den Sinn, neue Ideen in die Gesellschaft zu bringen, alte Gewohnheiten zu hinterfragen und die Welt zu verändern. Es sind die Kräfte der Erneuerung und des Umwälzens, mit denen jede Generation aufs Neue antritt, um die Welt besser auf die Aktualität einzustellen. Sie will sich einen bestimmenden Platz in der Gesellschaft erkämpfen und tritt deshalb mit Radikalität auf. Meist stoßen diese Vorstöße auf den Widerstand der schon „Etablierten“, die sich damit in ihrer Macht und in ihren Gewohnheiten in Frage gestellt fühlen. Aber jede Gesellschaft ist auf diese Impulse angewiesen, um lebendig zu bleiben und flexibel auf veränderte Lebensumstände reagieren zu können. Ohne die Revolten der Jungen geht der Saft schnell aus und die Gesellschaft versteinert oder vergreist. 

Das globale Bewusstsein vor dem Erwachsenwerden

In der Gesellschaftsentwicklung zeigen sich immer wieder Parallelen zum individuellen psychophysischen Wachstum. Die Entstehung des Kapitalismus ist verbunden mit dem Ausbrechen aus Wirtschaftsformen, die dem Großteil der Bevölkerung kaum ein Auskommen geboten haben sowie von Privilegien und extremen sozialen Ungleichheiten begleitet waren. Gegenüber der Subsistenzwirtschaft des Mittelalters brachte der Kapitalismus eine völlig neue Dynamik, die Zug um Zug die ganze Welt in Bann schlug. Es entstand der Anschein, der sich beim Zusammenbruch des kommunistischen Sowjetsystems 1989 zu bestätigen schien, dass mit dieser Wirtschaftsform für die größtmögliche Zahl an Menschen die größtmögliche Form des Glücks und Wohlstands entstehen würde. Voraussetzung ist einzig und allein, dass das Wachstum möglichst unbehindert voranschreiten kann. Die neoliberale Ideologie schien den endgültigen Triumph über alle anderen Wirtschaftsmodelle davonzutragen.

Doch der Schein trog, denn in ihrem Überschwang hatten die Wachstumsbegeisterten übersehen, dass sie wichtige Faktoren nicht bedacht hatten, die Endlichkeit der Ressourcen und die Begrenztheit der Fähigkeiten der natürlichen Systeme, die Folgen des kontinuierlichen Raubbaus auszugleichen. Diese systematische Achtlosigkeit gleicht der Rücksichtslosigkeit, mit der Teenager oft ihren Freiheitsdrang ausleben. Sie denken nicht an ein Morgen, weil sie den Eindruck haben, dass es ein solches für sie nicht gibt oder zu geben braucht. Das Leben im Moment mit aller Leidenschaft auszukosten und auszureizen,  kennzeichnet die Aufbruchsenergie der Jugend. Irgendwann neigt sie sich ihrem Ende zu und das Erwachsenwerden setzt ein. Damit wächst der Realismus, während der Übermut schwächer wird.

Ein Zeitalter der Verantwortung und der Vernunft steht an

Im Bereich der Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung dauert die pubertäre Phase schon weit über die Maßen an und der Übergang zu einer Erwachsenenperspektive wird viel zu lange hinausgezögert. Der rücksichtslose Egoismus der Menschengattung verursacht eine Katastrophe nach der nächsten, engstirnig und selbstbesessen taumeln wir dahin. Wir tun so, als hätten wir noch die Kontrolle, obwohl wir sie schon lange verloren haben.

Wir verfügen schon längst über genügend erwachsenen Realismus, um zu durchschauen, dass wir uns in einer Sackgasse befinden, der wir nur mit allen konzentrierten Anstrengungen entkommen können. Dazu muss die Rücksichtslosigkeit und Unbekümmertheit in Bezug auf andere Menschen und auf die Natur durch Nachhaltigkeit und Respekt ersetzt werden. Statt ohne Hemmung weiter zu expandieren, wie es typisch für die Adoleszenz ist, geht es um Schrumpfung und Verringerung. Um diese Wende zu schaffen, muss die pubertäre Einstellung überwunden werden. Alle die, die in ihr verharren wie z.B. die sogenannten Klimaleugner, die sich allem Wissen zum Trotz mit der Sturheit eines Teenagers im Recht fühlen, oder jene, die das Illusionstheater bedienen, mit dem sie ihr Nichthandeln und Hinauszögern begründen, haben nichts mehr an den Schalthebeln der Macht verloren. Sobald genügend Mitglieder der Zivilgesellschaft aus ihren pubertären Träumen aufwachen und die Kraft der Verantwortung spüren, die den treibenden Schwung der erwachsenen Weltsicht ausmacht, werden die politischen Entscheidungen aus der Vernunft und nicht aus dem Emotionalcocktail der Pubertät getroffen, den die Populisten bedienen. 

Wir sind alle Träger einer globalen Verantwortung, und je reicher die Gesellschaft ist, in der wir leben, desto höher ist diese Verantwortung und desto mehr müssen wir uns dafür einsetzen, dass die Vernunft an die Macht kommt. Unsere Handlungen oder Unterlassungen haben einen größeren Einfluss auf das Schicksal der Menschheit als das, was die Ärmeren und Benachteiligten tun oder nicht tun. Unsere Handlungsspielräume sind größer, nur müssen wir sie auf vernünftige und global ausgewogene Weise nutzen. Und davon sind wir noch weit entfernt. Haben wir den Mut, die Pubertät hinter uns zu lassen und erwachsen zu werden!

Zum Weiterlesen:
Ästhetik des Schrumpfens
Vom Ende der Wachstumsgesellschaft und von der Verfeinerung der Einfachheit
Realoptimismus angesichts der Klimakrise


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