Montag, 1. Mai 2023

Ausstieg aus dem Funktionsmodus

Unsere Gesellschaft ist geprägt vom Leistungsdenken und von dem daraus resultierenden Leistungsdruck, der sich mit der fortschreitenden Kapitalisierung der Wirtschaft konstant steigert. Im Zug dieser Entwicklung wird der Wert des menschlichen Lebens immer mehr an dem festgemacht, wie sehr sich jemand anstrengt und wie erfolgreich diese Anstrengung ist. Wer sich weder anstrengt noch mit seiner Anstrengung viel erreicht, verdient keinen Wert und seine Existenzberechtigung ist in Frage gestellt. 

Dieses Denken und die damit verbundenen Erwartungen erfassen die Kinder spätestens mit dem Schuleintritt, falls nicht schon im Kindergarten im Sinn einer Vorschule die Leistungsorientierung eingeführt wird. Dieser Druckmechanismus ist im weiteren Leben vor allem im beruflichen Feld bestimmend und schwappt von dort aus auch auf den Freizeitbereich über. Er wirkt daran mit, dass viele Menschen mit ihrer Pensionierung, beim Eintritt in den „Ruhestand“, in eine Krise geraten, weil sie das beschämende Gefühl bekommen, nichts mehr wert zu sein. 

Als Folge der Ausbreitung des kapitalistischen Wirtschaftssystems ist der Wert eines Menschen also mit seiner Leistung und seiner Leistungsfähigkeit gekoppelt. Manche verweigern sich dieser Zuordnung und beschließen, nichts oder nur das Allernotwendigste zu leisten. Sie scheren aus dem allgemeinen Gerenne nach dem Sich-Beweisen und Erfolg-Haben aus und versuchen, sich auf alternativen Bahnen die eigene Existenz zu sichern. Sie befinden sich in einer Konterposition zur herrschenden Leistungsideologie, können sich aber dennoch nicht von deren Druck befreien. Denn diese Ideologie ist so mächtig, dass sie jeden schon ergriffen und durchdrungen hat, ehe man sich eines Besseren besinnt. 

Systematische Druckausübung

Ein zentraler Teil dieser Ideologie ist, dass ohne Druck nichts weitergehen würde: Freiwillig würde niemand mehr arbeiten, alle würden sogleich auf der faulen Haut liegen. Es würde niemand früh aufstehen oder Termine einhalten, und die Wirtschaft würde schließlich zusammenbrechen. Der beständige Druck von oben nach unten ist demnach als ein scheinbar unerlässlicher Bestandteil im Leistungssystem und seiner Ideologie eingebaut. Im neoliberalen Denkgebäude herrscht das Menschenbild vor, dass wir eine im Grund arbeitsscheue und faule Gattung sind, die nur durch Anreize, Manipulation oder nackte Gewalt zum Arbeiten gebracht werden kann. Dass das Aktiv- und Tätigsein aus einem inneren Antrieb stammen könnte, hat keinen Platz in dem System, ebensowenig wie die Erkenntnis ernst genommen wird, dass Menschen unter Druck weniger und schlechtere Leistung erbringen als wenn sie aus eigenem Wollen schaffen. 

Folglich sind selbstbestätigende Regelkreise entstanden, in denen immer mehr Druck immer mehr Druckvermeidung produziert, auf die wieder mit mehr Druck reagiert wird. Druck erzeugt Widerstand, der sich in den seltensten Fällen nach außen wendet (wie z.B. bei einer Maschinenstürmerei oder bei Demonstration gegen unerträgliche Arbeitsbedingung); über Generationen hat sich verinnerlicht, dass der Druck eben „dazugehört“ und dass jeder lernen muss, sich den Erwartungen anzupassen und unterzuordnen. Jeder Mitspieler in dem System hat die Verantwortung verinnerlicht, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute den Widerstand zu überwinden und sich zur Leistung zu motivieren, gleich ob es einem passt oder nicht. Und verinnerlicht ist auch die Maxime, dass das Handeln im Sinn des wirtschaftlichen Schaffens die eigene Existenz rechtfertigt und das Nichtstun die eigene Existenz in Frage stellt.

Es geht eine Unmenge Energie ins Druckmachen, in den Widerstand gegen den Druck und in seine Überwindung. Diese Kräfte fehlen auf der produktiven Seite, denn sie fließen nur in die Aufrechterhaltung des Systems. Die Folge ist, dass weniger geschaffen wird, einerseits, weil die, die oben sind, ihre Energie ins Druckerzeugen stecken, und die, die unten sind, unter Druck und wegen ihrer Widerstandsüberwindung weniger leistungsfähig sind. Automatisch steigt dadurch der Druck und ebenso wächst der Widerstand dagegen. Der riesige Koloss des Wirtschaftssystem hält sich am Leben wie ein Fahrzeug, das dauernd mit angezogenen Bremsen fährt und den doppelten Energieverbrauch benötigt, ohne mehr Leistung zu erbringen.

Die Angst regiert beide, die oben und die unten, und sie reduziert genau das, was produziert werden soll, nämlich Leistung. Menschen leisten mehr und besser, wenn sie frei von Druck, aus sich selbst heraus schaffen. Aber solange wir glauben, dass wir nur durch Angst getrieben aktiv werden, können wir uns keine angstbefreite Schaffenskraft vorstellen und füttern damit das System, das uns tendenziell ruiniert, als Einzelne, als Gesellschaft und als Menschengattung.

Individuelles Ausklinken

Hier geht es nicht darum, dass das widersinnige System der Ausbeutung und Selbstausbeutung überwunden und transformiert werden muss. Dieser Prozess ist langwierig, weil er verschiedene Trägheitsschwellen überwinden muss, z.B. die Macht, die bei den Nutznießern des Systems konzentriert ist oder die neoliberalen Ideologien, die für viele so selbstverständlich geworden sind, dass sie wie unumstößliche Wahrheiten wirken. Es wird – falls es nicht zu einem dramatischen Kollaps als Folge einer globalen Klimakatastrophe kommt – Jahrzehnte oder Jahrhunderte dauern, bis der Kapitalismus auf ein menschenverträgliches Maß zurückreguliert ist. 

Hier geht es darum, wie wir uns als Einzelne als dem Räderwerk von ökonomischen, soziologischen und psychologischen Prägungen ausklinken können. Es macht keinen Sinn, solange mitzuspielen und mitzuleiden, bis sich irgendwann einmal das System zugunsten der Menschlichkeit ändert. Wir sind für uns selber verantwortlich, für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden, das predigt uns der Neoliberalismus Tag für Tag. Wir müssen also selber dafür sorgen, dass wir angesichts eines systemisch wirksamen Wahnsinns heil bleiben. Dazu brauchen wir die Kraft unserer Bewusstheit, die wir immer wieder aktivieren müssen, wenn wir dem Zugriff der Selbstentfremdung entkommen wollen. Der Funktionsmodus ist tief in uns verankert und mit der eigenen Weltsicht und dem eigenen Selbstwert verflochten. Es sind massiv wirksame gesellschaftliche Prägungen, die sich mit Hilfe einer kollektiven Amnesie entwickelt haben, also mit einer kollektiven Verdrängung. Diese Entwicklung ist seit der neolithischen Revolution vor 12 000 Jahren in Gang, die durch den modernen Kapitalismus ab dem 18. Jahrhundert verschärft und globalisiert wurde. Sie weist die Merkmale einer kollektiven Traumatisierung auf. 

Wir sollten die Macht dieser Traumlast nicht unterschätzen und haben viel zu tun, wenn wir uns ihren Sog entziehen wollen. Doch je eher und je öfter wir uns ausklinken, desto weniger Schaden nehmen wir an Leib und Seele. Diese Distanzierung von der Druckausübung geht nur mit klaren und präsenter Bewusstheit, denn der Funktionsmodus ist tief verankert und mit dem eigenen Selbstwert verflochten. 

Die Macht der Bewusstheit

Theodor W. Adorno hat zwar einmal geschrieben, dass es kein richtiges Leben im falschen geben kann, dass also ein unmenschliches System alle seine Mitglieder von sich selbst entfremdet und ein Entkommen davon nicht möglich ist. Aber dieser Fatalismus übersieht die Möglichkeiten unserer Bewusstheit, die nicht zur Gänze durch gesellschaftliche Prägungen und kollektive Traumatisierungen gelähmt werden kann. Sie erhält unsere Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit. Sie ermöglicht uns, uns auf uns selber zu besinnen und klar zu werden, was wir wollen und was nicht. 

Es erfordert eine bewusste Entscheidung, vom Funktionsmodus auszusteigen und damit in den Flussmodus zu wechseln. Sie passiert nicht von selber, denn die Prägungen und die daraus abgeleiteten Gewohnheiten sind das, was von selber geschieht. Mit der bewussten Entscheidung für den Flussmodus setzen wir diese Prägungen außer Kraft und lassen zu, was von sich selber geschehen will. Wir tun das, was zu tun ist, in entspannter Weise. Oder: Es geschieht, was geschehen soll. 

Diese Entscheidung ist kein einmaliger Akt, der dann für immer gilt. Denn wir kippen allzu leicht wieder in den Funktionsmodus, den uns alle anderen vorleben. Wir sind einer permanent wirksamen Ansteckungsgefahr ausgesetzt. Wir entkommen ihr nur, wenn wir bewusst innehalten und uns klar machen, was wir wirklich wollen und wie wir gestalten wollen. Schon die Einsicht, dass Dinge geschehen, viele mit unserem Zutun und die meisten ohne unsere Mitwirkung, kann erleichtern. Das Müssen tritt hinter das Geschehenlassen zurück und führt aus dem Funktionieren, Müssen und Druckaushalten heraus. 

Chronischer Stress kann die Gehirnzellen süchtig nach Stresshormonen machen.  Darum machen sich viele Menschen Stress in Situationen, die andere gelassener nehmen würden. Sie merken nicht, dass es die Bewertung ist, die sie zu der Situation aufstellen, die den Stress auslöst, und nicht die Situation selbst. Zugleich haben sie den Eindruck, dass ihnen der Stress von außen aufgeladen wird. 

Die Erkenntnis, dass der Stress durch die innere Bewertung und nicht durch einen äußeren Einfluss entstanden ist, hilft beim bewussten Ausklinken aus den verbreiteten Stressmustern und trägt zur Stress-Entwöhnung bei. Eine wichtige und effektive Unterstützung bietet die Konzentration auf den Atem und vor allem die bewusste Entspannung beim Ausatmen. 

Die Weisen haben es leicht und sagen: Es geht nicht ums Erreichen, es geht ums Loswerden. Oder: Wichtig ist nicht, was wir im Leben schaffen, sondern was wir an Lasten ablegen können, um in die Freiheit zu gelangen. Der Dichter sagt: „Man muss den Dingen die eigene, stille, ungestörte Entwicklung lassen, die tief von innen kommt, und durch nichts gedrängt und beschleunigt werden kann; alles ist austragen – und dann gebären...“ (Aus: Rainer Maria Rilke: Brief an den jungen Dichter)

Zum Weiterlesen:
Funktions- und Flussmodus
Funktional und fließend wahrnehmen
Geschehenlassen und Funktionieren
Tun und Geschehenlassen
Das Geschehen und der Verstand

 

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