Donnerstag, 18. Mai 2023

Ästhetik des Schrumpfens

Seit wir leben, stehen wir im Bann des Wachsens. Nicht nur wir selber als Menschen sind gewachsen, die Menschheit insgesamt ist an Zahl gewachsen, und die Wirtschaft seit dem 2. Weltkrieg ebenso. War dieses Wachstum mal schwächer, gab es eine Menge besorgter Stellungnahmen und Forderungen an die Politik, Gegenmaßnahmen zu setzen, z.B. durch staatliche Investitionen die Wirtschaft wieder auf Wachstumskurs zu bringen. 

Das Klimaproblem stellt die Menschheit vor eine völlig neue Herausforderung, für die wir über keine Erfahrungen verfügen. Wir können die Folgen der Klimaentgleisung nur abfangen und sozial verträglich bewältigen, wenn wir das Wirtschaftswachstum beenden, denn jede Form des materiellen Wachstums, auch ein „grünes“ Wachstum, von dem manche träumen, geht nicht ohne Ressourcenverbrauch und Treibgasemissionen. 

Ein Beispiel ist der Autoverkehr. Die Verbrennungsmotoren, die trotz aller technischer Verbesserungen einen Wirkungsgrad von 20% vor allem Abwärmeproduzenten und sehr ineffektiv. Aber auch die E-Autos verursachen in ihrer Produktion eine Menge von Emissionen und brauchen für ihren Betrieb Strom, der noch immer nur zu einem geringen Teil klimaneutral hergestellt werden kann. Der mit vielen Hoffnungen erwartete Wasserstoff als Antrieb benötigt bei seiner Herstellung Unmengen von Energie. Außerdem wird bei jedem Auto die meiste Energie dafür verbraucht, das Auto mit seinem Gewicht um eine Tonne zu bewegen. Die 1,3 Personen, die im Schnitt befördert werden, fallen da fast nicht ins Gewicht. Die Autonutzung ist also eine höchst verschwenderische Aktivität, die wir uns zukünftig überhaupt nicht mehr oder nicht mehr im heutigen Ausmaß leisten können, wenn wir insgesamt mit weniger Energie auskommen müssen.

Das bedeutet, dass die Autonutzung insgesamt zurückgehen muss, wenn die Emissionswerte in den entwickelten Ländern auf ein global verträgliches Maß zurückgeschraubt werden sollen. Dieser Bereich muss also schrumpfen. Es geht sich nicht aus, wenn die Leute immer mehr Auto fahren und neue Autos kaufen. Sie tun das weiterhin, auch wenn der CO2-Verbrauch bepreist oder der Kauf von Autos stärker besteuert wird. Denn das Auto und das Autofahren haben einen hohen Prestigewert im modernen Bewusstsein.

Die Notwendigkeit des Schrumpfens

Es gibt der Bereiche noch viele, die zurückgefahren werden müssen, weil sie zu viel Energie verbrauchen. Worum es hier geht, ist die Notwendigkeit des Schrumpfens, also das Gegenprogramm zum Wachstumskurs. Im Sinn einer intellektuellen Redlichkeit nach Thomas Metzinger müssen wir uns eingestehen, dass die wirtschaftliche Wachstumsorientierung keine Zukunft hat. Denn die Ressourcen, die beim Wachsen verbraucht werden, sind endlich, und die Abfälle und Abgase, jedes Wachstum erzeugt, haben Ausmaße erreicht, die an allen Ecken und Enden das Bio-Ökosystem überfordern und zum Kippen bringen. Wir müssen uns darauf einstellen, dass nach einer langen Zeit des Wirtschaftswachstums eine Zeit des Schrumpfens eintreten wird, früher oder später. Wir können uns vor dieser Vorstellung durch die eine oder andere Wunschfantasie retten, doch kommt irgendwann für alle der Zeitpunkt, wo es nicht mehr anders geht als die Augen zu öffnen. Jean-Paul Sartre hat einmal geschrieben: „Wenn ihr eure Augen nicht gebraucht, um zu sehen, werdet ihr sie brauchen, um zu weinen.“

Die Rhythmik der Natur

Je früher wir uns mit dem Schrumpfen vertraut machen, desto leichter wird uns dieser Übergang fallen. Die Betrachtung der Natur hilft uns dabei. Es gibt in unserer natürlichen Umwelt nichts, das endlos weiterwächst (außer Krebsgeschwüre). Viele Pflanzen kennen den Rhythmus von Wachsen und Schrumpfen, der häufig mit den Jahreszeiten verbunden ist. Das Ausbreiten im Frühjahr und das Zurücknehmen im Herbst bilden einen natürlichen Rhythmus. Wir erleben ihn in unserem Lebenszyklus, der unweigerlich nach Phasen der Expansion in Phasen der Reduktion übergeht. Und wir erleben ihn tagtäglich, indem unsere Aktivitäten durch den Tag anwachsen und gegen Abend immer weniger werden, bis sie in der Nacht ganz zum Stillstand kommen. Schließlich macht uns jeder Atemzug auf diese Dynamik aufmerksam: Einatmend weiten wir uns, ausatmend schrumpfen wir.

Pubertärer Wachstumswahn

Wir können uns mit der Vorstellung vertraut machen, dass zu jedem Wachsen ein Schrumpfen gehört, zu jedem Größerwerden ein Kleinerwerden. Wir hängen viel zu sehr in der pubertären Erwartung fest, dass es so etwas wie ein unendliches Weiterwachsen gibt. In der Adoleszenz hängen wir dem Glauben an, dass die Möglichkeiten unbegrenzt sind und wir in unserer Expansion an keine Grenzen stoßen. Das ist auch gut so, weil durch diese Illusion Kräfte freiwerden, die sich dann an der Wirklichkeit abarbeiten können und Neues in die Realität bringen. 

Der Prozess des Erwachsenwerdens besteht gerade darin, den jugendlichen Überschwang mit einer nüchternen Realitätssicht zu verbinden. Wir brauchen den optimistischen Zug zum Öffnen neuer Räume und wir brauchen den vernunftgeleiteten Blick auf die Bedingungen der Umwelt. Das, was sich an Möglichkeiten weitet, wenn wir inspiriert werden, schrumpft auf ein realisierbares Maß zusammen, wenn wir an die Umsetzung gehen. Das erwachsene Bewusstsein enthält die Perspektive des Maßhaltens und Zurücknehmens. Es weiß um die Notwendigkeit des Platz- und Raumgebens für andere Menschen und für die Natur. Es grenzt die ungezügelten Expansionsbestrebungen des Egos ein. Es versteht die Grenzen jedes Wachstums und kennt die Vorzüge des Schrumpfens.

Die Schönheit in der Reduktion

Denn das Schrumpfen hat seine Schönheit. Sie entspringt aus dem Horizont eines größeren Rahmens. Wenn wir uns z.B. mit den Weiten des Universums in Relation setzen, indem wir den Sternenhimmel betrachten, kommen wir in Frieden mit unserer Winzigkeit und Beschränktheit. Jedes Zurücknehmen der eigenen Expansionsimpulse, um anderen den Vortritt zu lassen oder ihnen die Bühne zu gönnen, ist ein Akt der Würde. 

Wir schrumpfen nicht, indem wir vom Überfluss in einen Mangel kippen, sondern indem wir unsere Maßstäbe ändern: Von der Quantität zur Qualität, von den Mengen und Unmengen zur Einzigartigkeit. Wir entdecken Wege, die uns aus der Komplexität und dem Überfluss an Gütern zurück zur Schönheit der Einfachheit führen. Es ist wie das Erlernen eines neuen Schauens, das sich auf das Wesentliche statt auf das Illusionstheater von ständige wechselnden Reizen richtet.

Das innere Wachsen

Alle, die verstanden haben, dass es ein inneres Wachstum gibt, wissen, dass es dafür keine Grenze gibt und keine Grenze braucht. Denn es werden keine Ressourcen verbraucht und keine Schadstoffe produziert. Die Innenräume erstrecken sich auf eine immaterielle Weise ins Unendliche. Es ist eine Gnade, erkennen zu können, dass das innere Erwerben und Gewinnen lohnender und wichtiger ist als das äußere. 

Mangelgefühle, Gier und Konkurrenz, die emotionalen Treibsätze hinter dem Wachstumsfetischismus, werden nie durch äußere Ereignisse gestillt. Im Gegenteil, nach jeder Befriedigung öffnet sich sofort der nächste Zyklus einer Unzufriedenheit. Nichts nützt sich schneller ab als ein materieller Gewinn. Dieses Suchtverhalten ist der Motor des Kapitalismus und seiner Wachstumsideologie. 

Wir können ihm nur Einhalt gebieten, wenn wir aus unserem Inneren die Einsicht gewonnen haben, dass wir nicht mehr und mehr an Dingen brauchen, sondern mehr und mehr an innerem Reichtum und Frieden. Mit dieser Erkenntnis schrumpfen wir im Äußeren ohne Bedauern und wachsen im Inneren. Jeder innere Wachstumsschritt macht uns unabhängiger von den Verlockungen der Konsumangebote und der Scheinsicherheit, die uns das wirtschaftliche Wachstum vorspiegelt. Wir spüren deutlich, was unsere ganz eigenen Bedürfnisse sind und durchschauen die Bedürfnisse, die uns anerzogen und aufgeschwatzt wurden.  

Das soziale Wachsen

Zu unseren ganz eigenen Bedürfnissen gehören auch die nach Geselligkeit und zwischenmenschlichem Austausch. Auch hier braucht es kein Schrumpfen, vielmehr könnten wir uns vorstellen, dass die Entlastung vom kapitalistischen Leistungs- und Konkurrenzdruck zu mehr entspannten Zeiten führen wird, in denen die Kontakte um ihrer selbst willen gepflegt werden können. Viele nutzen die Treffen mit Freunden oder Verwandten, um sich mit ihnen zu vergleichen oder die eigenen Besitztümer und Errungenschaften zu präsentieren. Den Stress, die anderen zu beeindrucken, können wir loslassen, indem sich die Macht äußerer Güter verringert, je weniger wir davon haben.

Wir brauchen einander beim Übergang und beim Einüben in eine zurückgenommene nachhaltige Lebensform. Wir brauchen die soziale Rückversicherung, auch unter geänderten Außenbedingungen und verringerten Möglichkeiten gut leben zu können. Wir brauchen tragfähige soziale Netzwerke, die die Solidarität aufrechterhalten und von der Idee des sozialen Ausgleichs getragen sind. Wir können die Herausforderungen, die auf uns zukommen, nur gemeinsam, mit dem Zusammenschluss unserer Kräfte bewältigen. In diesem Zusammenhalt versichern wir uns, dass niemand unter die Räder kommen wird, auch wir selber nicht. Es besteht die Hoffnung, dass die Menschengemeinschaft im Erkennen, was sie versäumt und vermasselt hat, mehr zueinander findet und besser zusammenarbeitet. Das Ende oder Schrumpfen des Kapitalismus könnte auch ein Ende der Entsolidarisierung sein und die Gesamtverantwortung auf die gleiche Stufe wie die Einzelverantwortung heben.

Dankbarkeit in der Einfachheit

Schließlich geht es auch in zwischenmenschlichen Austausch um die gegenseitige Bestätigung in der Dankbarkeit für das, was ist. Auch wenn die Lebensumstände abgespeckt sein werden, gibt es immer genügend Gründe für Dankbarkeit. Wir finden zurück zur Einfachheit, die eine besondere Art darstellt, das Leben zu genießen. 

Mit vielleicht etwas Wehmut und Verwunderungen werden wir einmal auf das kurze Zeitfenster zurückschauen, in der wir zu den wenigen Glücklichen gehörten, die überall auf der Welt hinfliegen konnten, wohin sie nur wollten. Wir können uns nach wie vor auf Kosten unserer Nachfahren in unserer Reiselust austoben, doch nicht mehr sehr lange. Aber wie wir auf frühere Lebensphasen mit ihren besonderen Quellen der Lebensfreude zurückblicken und zugleich wissen, dass sie nie mehr wiederkommen werden, lernen wir zu verstehen, dass es immer, in jeder Situation, Zugänge zur Lebensfreude gibt. Nur suchen wir sie nicht mehr in Formen von ressourcenintensiven Gütern und Dienstleistungen im Außen, sondern in uns selbst und im sozialen Austausch.

Zum Weiterlesen:
Vom Ende der Wachstumsgesellschaft und von der Verfeinerung der Einfachheit
Bescheidenheit als Überlebensnotwendigkeit
Realoptimismus angesichts der Klimakrise
Atemresilienz angesichts der Krise
Einfachheit und Komplexität


 

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