In der Konfliktkommunikation bei Paaren tritt häufig das folgende Muster auf: „Ich bin das größere Opfer als du, weil du mir mehr angetan hast als ich dir!“ Ich bin also mehr Opfer durch dich als du durch mich. Meine Opferposition wiegt schwerer, also verdiene mehr Mitgefühl und Achtung als du, sofern du überhaupt Leid erfahren hast. Moralisch stehe ich jetzt über dir, und das solltest du gefälligst anerkennen. Außerdem kann ich mir für diese Überlegenheit die Bestätigung bei möglichst vielen anderen Menschen holen.
In der Selbsterhöhung, die das Opfer durch das Hochstilisieren seines Leids anstrebt, will es den verletzten Selbstwert dadurch reparieren, dass dem Täter die gesamte Verantwortung für das eigene Leid überwälzt wird. Er kann folglich moralisch abgewertet werden. Das Opfer spricht sich selbst die Ehre zu, die es dem Täter aberkennt. Aus dieser Differenz erwächst der Opferstolz.
Dieses Übertragen der Verantwortung folgt der aus der Kindheit bekannten Dynamik. In die Erwachsenenkommunikation mischen sich die Erfahrungen mit dem Opfersein aus dieser Zeit, in der das Kind immer in der schwachen, empfindsamen und abhängigen Position war. Es konnte viel tiefer verletzt werden als die Erwachsenen um es herum, es konnte viel massiver beschämt und verunsichert werden.
Wenn also der Opferstolz in einem Erwachsenenkonflikt auftaucht, handelt es sich um einen Versuch des Unterbewussten, eine in der Kindheit erlittene Opferscham in einen Opferstolz zu verwandeln und damit das verletzte Selbstgefühl zu reparieren. Was dem Kind nicht möglich war, soll jetzt nachgeholt werden. Die Person, mit der der Konflikt abläuft, wird für dieses Anliegen als Projektionsfläche verwendet.
Wer ist das größere Opfer?
Wenn Erwachsene in die Konkurrenz um den Opferstolz eintreten, lautet die Logik: Wer den höheren emotionalen Verletzungsgrad vorweisen kann, dem steht eine höhere soziale Anteilnahme und folglich eine höhere Wiedergutmachung zu. Also steigere ich das Ausmaß meiner Betroffenheit und Verletztheit und stehe damit weit über der anderen, der viel gemeineren und niederträchtigeren Person. So habe ich Ansprüche auf Wiedergutmachung und kann mich des Mitgefühls und der Zuwendung der wohlwollenden Menschen versichern, als Lohn und Ausgleich für mein Leid.
Übersetzt heißt die Aussage: Ich hatte eine schwerere Kindheit als die andere Person, also gebührt mir als Erwachsener mehr Rücksichtnahme, Feinfühligkeit und Respekt als ihr. Klar ist, dass diese Aussage subjektiv immer stimmt. Niemand hatte die Kindheit, die wir selber erlebten und kann das Ausmaß an Leiden bemessen, das wir ertragen mussten. Aber auch niemand anderer ist frei von Leid, niemand hatte eine völlig unbeschwerte Kindheit, niemand ist unbelastet von Traumatisierungen.
Das eigene Leid mit dem anderer zu vergleichen, ist müßig und führt nur dazu, die eigene Opferrolle zu vertiefen, mitsamt dem Opferstolz und der Opferscham. Das Vergleichen verspinnt noch mehr in das klebrige Netz der Scham-Stolz-Schaukel, das langfristig die Luft zum Atmen nimmt.
Je mehr wir uns in die eigene Opferrolle hineinsteigern und sie in versteckt stolzem Leiden vor uns hertragen, desto mehr hoffen wir, der Ohnmacht, die wir als Kind erlitten haben, zu entrinnen. Wir wollen uns am eigenen Zopf aus dem Sumpf ziehen, mit dem Resultat, noch tiefer hinein gezogen zu werden. Wir richten zwar unseren Kopf wieder hoch und machen uns größer als die Person, die uns geschadet oder verletzt hat. Aber der Kopf ragt nur wenig aus dem inneren Gewirr heraus, in dem wir uns befinden, denn wir definieren diese Größe über unseren Opferstatus.
Empfindliche oder sensitive Menschen, also Menschen mit sehr frühen Traumatisierungen sind in dieser Dynamik naturgemäß „bevorteilt“, haben also einen leichteren Zugang zum Opferstolz gegenüber robusteren Naturen, obwohl sie sich subjektiv benachteiligter fühlen. Eine höhere Empfindsamkeit hat auch eine höhere Verletzbarkeit zur Folge und führt damit schnell in einen Opferzustand, mit der Tendenz, die Last des Leids dem Kommunikationspartner umzuhängen.
Freilich liegt es an diesem, ob er die Schuld und Last nimmt oder nicht. Steigt er auf das „Angebot“ ein, macht er sich zum Opfer und Täter zugleich: Opfer der Lastenübernahme, die dann einen eigenen Opferstolz nach sich zieht („Was ich alles auf mich nehme…“) und Täter im Auge des Opfers. Denn dieses will mit dem Bestreben, die Last abzuwälzen, eine Täterscham bei der anderen Person erzeugen, um sie zur Reue zu bringen.
Eine häufige Reaktion liegt darin, dass die andere Person den eigenen Opferstolz mobilisiert, im Bestreben, die Dynamik umzukehren und ihrerseits die Täterscham zu provozieren. Die Muster verhaken sich in der Folge aufs Trefflichste und Unentwirrbarste.
Die Wiedergutmachung
Kraft des eigenen Opferseins bemüht sich das Opfer um Wiedergutmachung. Was schlecht war, soll durch etwas Gutes, das von der anderen Person kommt, ausgeglichen werden. Dieser Anspruch wird allerdings nur wirksam, wenn er von der Täterperson anerkannt wird. Solange allerdings die Konkurrenz darüber besteht, wer mehr Leid erlitten hat, gibt es auch keine Einwilligung auf Ausgleichshandlungen. Dazu muss sich erst die Spannung lösen, und sie erfordert in den meisten Fällen das Anerkennen der eigenen Täterseite, also das Eingeständnis der Täterscham mitsamt der Verantwortungsübernahme. Wird diese Einsicht nur vom anderen verlangt statt sie selber einzubringen, besteht der Konflikt weiter, dessen Lösung wechselseitig jeweils von der anderen Person erwartet wird. In vielen Fällen führt nur eine geteilte Wiedergutmachung, die wechselseitig vorgenommen wird, zur Konfliktlösung und zum Verlassen des Opfer-Täter-Komplexes.
Eine einseitige Weise der Wiedergutmachung braucht es dort, wo ein Kommunikationspartner etwas Gravierenderes auf Kosten und zum Leidwesen des anderen verschuldet hat – eine grobe Vertrauensverletzung, ein Gewaltakt, grob abwertendes, betrügerisches oder verlogenes Verhalten usw. Der Impuls zum Tatausgleich entspringt aus der Tateinsicht bei der Täterperson, das Schamgefühl über die Tat weist dann den Weg zu dem nötigen Ausgleich. Diese Tateinsicht kann wiederum nur aus der Wahrnehmung der eigenen Verantwortung kommen und nicht aus den Forderungen und Vorwürfen, die aus dem Opferstolz der verletzten Person stammen.
Der Ausweg aus der Konkurrenz im Opferstolz
Damit sich ein Opfer-Täter- Konflikt entspannen kann, muss es zur Zurücknahme der Verantwortung auf beiden Seiten kommen. Sobald jede Person aufhört, auf die andere zu projizieren und von ihr die Lösung zu erwarten, und die Verantwortung für das eigene Tun übernommen hat, tritt der emotional aus der Kindheit aufgeladene Opfer-Täter-Komplex mit seinen Scham- und Stolzanteilen zurück. Zwei Erwachsene begegnen sich auf Augenhöhe und finden neue Wege zueinander und miteinander.
Zum Weiterlesen:
Der Stolz der Opfer
Die Ursprünge der Opferrolle
Opferstolz und Opfermentalität
Die innere Geschichte der Täter-Opfer-Dynamik
Die Täter-Opfer-Umkehr als Wurzel für Schuldkomplexe
Kinder in der Täterrolle
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