Dürfen wir Kritik üben, weil ja dadurch eine Spaltung zwischen Ich und Welt geschaffen wird?
Kritik ist wichtig, weil sie die Aufgabe hat, aufzuzeigen,
welche Bereiche oder Dynamiken der Wirklichkeit Schaden anrichten und Leid
bewirken. Kritik zeigt auf, was verändert werden muss, damit die Welt gerechter
und nachhaltiger wird. Es gibt zwar auch Kritik, in der sich das Ego austobt,
bei der es also um das Durchsetzen selbstsüchtiger Interessen geht, es gibt
aber auch andere Richtungen der Kritik, die Missstände anprangert,
Ungerechtigkeiten und Unmenschlichkeiten aufdeckt und auf negative Konsequenzen
aktueller Entscheidungen hinweist. Kritik, die eine Verbesserung der
menschlichen Umstände zum Ziel hat, ist unverzichtbar für den Fortschritt der
Menschheit zu mehr Menschlichkeit. Wenn z.B. korrupte Machenschaften nicht
öffentlich gemacht und kritisiert werden, bleiben solche Missstände weiter
bestehen.
Es ist also auch die kritische Unterscheidungskraft von
Nöten, die ego-zentrierte Kritikformen und gemeinwohlorientierte Kritikformen
auseinander dividiert. Wiederum ist es die Bewusstheit und innere Achtsamkeit,
die uns dieses Unterscheiden ermöglicht: Ist der Nutznießer unserer Kritik unser
eigenes Fortkommen oder geht es um ein größeres Ganzes?
Wenn wir vorbehaltslos und ehrlich in uns forschen, wird uns
zwar deutlich werden, dass es bei jeder Form der Kritik an Phänomenen der Wirklichkeit
ego-gesteuerte Anteile gibt: Gelingt uns ein guter und anerkannter kritischer
Beitrag, so macht uns das stolz. Aber wir sollten darauf achten, dass unsere Kritik
das Gemeinwohl im Fokus hat, wenn wir Mängel an der Wirklichkeit einmahnen. Es
sollte also nicht primär um die eigene Haut oder das eigene Bankkonto gehen,
wenn wir etwas kritisieren, sondern um das Wohl möglichst vieler Mitmenschen,
die zukünftigen mit eingeschlossen. Denn wir legen jetzt die Grundlagen für das
Leben unserer Kinder, Enkelkinder und Urenkelkinder. Oder wir konsumieren
unseren Luxus frivol und unbewusst auf ihre Kosten.
Dennoch: Auch wenn ich keine egoistische, sondern eine auf
die Allgemeinheit bezogene Kritik übe, trenne ich mich ja von der Wirklichkeit,
weil ich den Gegenstand der Kritik in seinem So-Sein ablehne und anders haben
möchte?
Der Akt der Kritik beinhaltet ein Heraustreten aus dem
Einssein, wie es im bedingungslosen Akzeptieren besteht. Wir kommen zwar aus
dem Einssein – und es ist dieser Zustand, der uns darauf aufmerksam macht, dass
etwas in der Wirklichkeit leidet. Aber wir treten heraus aus der innigen Akzeptanz-Verbindung,
um unseren Beitrag einzubringen, der die Wirklichkeit verändern will.
Das Kritisieren ist eine Handlung (meist eine
Sprachhandlung), und Handlungen sind immer Interaktionen zwischen dem Ich und
der Welt. Das Ich setzt sich ab von der Welt und nimmt ihr gegenüber einen
Standpunkt ein. Nur so sind wir handlungsfähig, nur so können wir Einfluss
nehmen und Veränderungen herbeiführen.
Wie schon erwähnt, liegt in jedem Ablehnen der Wirklichkeit
ein Stück Wut. Auch Kritik ist von Zorn geprägt, von heiligem Zorn, wenn es um
ein Anliegen des Ganzen geht: Um himmelschreiende Ungerechtigkeiten, Unterdrückung
und Ausbeutung, um die Zerstörung von Lebensgrundlagen und
Überlebensbedingungen der Menschheit, also um massiv gemeinwohlstörenden Aktionen.
Ohne den artikulierten Zorn gegen solche Handlungen wirken diese weiter und
bringen neue hervor. Diese heile Wut darf allerdings nicht übers Ziel schießen
und selber zu Gewalttätigkeit neigen, sondern muss sich mit Besonnenheit
paaren, um erfolgreich sein zu können.
Zustand und Handlung
Ist das Akzeptieren ein Zustand oder eine Handlung?
Die Akzeptanz besteht darin, dass Ich und Welt in einem
bestimmten Moment der Erfahrung eins sind. Sie ist also eigentlich ein Zustand
und kein bewusst vollzogener Akt, indem z.B. jemand sagt: Statt mich aufzuregen
und zu beklagen, akzeptiere ich jetzt, dass das, was ist, ist. Zwar kommen
solche innere Handlungen vor und helfen uns dabei, von der Trennung zum
Einssein zu kommen. Diesen Akt brauchen wir, wenn wir uns von der Wirklichkeit
abgetrennt haben. Es ist die Erinnerung, das Wachrufen, der Zen-Stock, der aus
der Trennung zurückruft. Wir können daraufhin den Fokus unserer Aufmerksamkeit verschieben,
von dem Teil der Wirklichkeit, der uns gerade gefesselt hat, zum Ganzen, das
alles, auch uns selber umfasst.
Die Akzeptanz ist einfach da, solange sich unsere Gefühle
und unser Verstand nicht einmischen. Es ist eine Art Normalzustand, in dem wir
mit der Wirklichkeit mitschwingen. Das Tun kommt aus der Erfahrung und verändert
sie, während sie wiederum ein neues Tun hervorbringt, ein Pulsieren zwischen
Passivität und Aktivität, Sein und Handeln. Sobald Schutzgefühle und
Schutzgedanken das Kommando übernehmen, geht diese ausgeglichene Pulsation
verloren und es braucht einen Akt der Bewusstmachung und einen der Herstellung
der Wieder-Übereinstimmung.
Die Notwendigkeit der Kritik
Aber wie kann man akzeptieren, was ist, und zugleich Kritik
daran üben?
Der Zustand der Akzeptanz ist bewertungsfrei, weil der
Verstand keine Rolle spielt. Er ist wichtig für die Gesamtaufnahme, also für
ein vorurteilsloses Wahrnehmen möglichst vieler Aspekte der Wirklichkeit oder
eines bestimmten Wirklichkeitsbereiches. Wenn wir an einem dieser Bereiche
Kritik üben, ohne das ganze Bild erkannt zu haben, kommt die Kritik aus
Projektionen, hinter denen wiederum Ängste des Egos stecken. Das kritische
Denken will also Umstände schaffen, die für das eigene Überleben günstiger
sind, und strebt danach, die Wirklichkeit in diese Richtung zu verändern.
Eine Kritik, die das Ganze im Blick hat, ist notwendig, wenn
die Wirklichkeit in eine Richtung verändert werden soll, die allen oder
möglichst vielen mehr Gerechtigkeit und Lebens- und Glückschancen bietet. Es
gilt also, das Ganze im Blick zu halten, wobei niemand alle Details oder
Aspekte erkennen kann. Die Intention macht den Unterschied: Will die Person,
die Kritik übt, die eigene Haut retten oder die Umstände für das globale
Überleben verbessern und sichern?
Das Beispiel Greta Thunberg
An bestimmten Debatten um Greta Thunberg, der schwedischen
Klimaaktivistin, wird diese Trennlinie sichtbar: Sobald sie übernational
bekannt wurde und zu einer Ikone der Klimaschutzbewegung aufgestiegen ist,
meldeten sich Stimmen, die behaupteten, dass es sich um ein abgekartetes Spiel
handle, mit der Absicht, bei irgendwelchen Menschen im Hintergrund die Kassen
hurtiger klingeln zu lassen. Es steckten also gewinnsüchtige, Ego-gesteuerte
Menschen hinter der Kampagne und es ginge nicht um das Überleben der
Menschenfamilie auf diesem Planeten. Die kritische Frage ist berechtigt, weil
wir immer prüfen müssen – bei uns selbst und bei anderen –, welche Intentionen
hinter den Handlungen stecken, die aus der Kritik an herrschenden Zuständen
motiviert sind.
Im Fall von Thunberg, die inzwischen eine Reihe von
engagierten Mitstreitern und Mitstreiterinnen aus ihrer Generation in vielen Ländern
gewonnen hat, dürfte die Sachlage mittlerweile klar sein. Sie schreibt ihre
Texte und Reden selber und erscheint als eine Person, die kaum manipulierbar
ist und einen hohen Grad an Selbstsicherheit und Unbeirrtheit in Hinblick auf
ihr Engagement aufweist. Sie ist außerdem sehr darauf bedacht, sich ein
Gesamtbild zu machen, indem sie eine große Zahl von wissenschaftlichen Studien
für die Begründung ihrer Standpunkte verwendet. Zumindest medial sind
inzwischen die Stimmen der Kritiker, die ihr unlautere Motive unterstellen,
weitgehend verstummt.
Manche Menschen brauchen drastische Erfahrungen, die ihr
eigenes Leben verändern, um ihre Weltsicht zu korrigieren. Die im Hochwasser
schwimmenden Autos mit den Aufklebern „Fuck Greta“ geben ein beredtes Zeichen
dieser Einstellung, ebenso wie der Cartoon, wo zwei Leute auf ihren Lehnsesseln
bis zum Bauch im Hochwasser sitzen und einer sagt: „Das Schlimmste daran ist,
dass diese Öko-Gammler recht hatten.“
Mitfühlendes Akzeptieren
Vielleicht wiederhole ich mich – aber eine Wirklichkeit, die
voll von Ungerechtigkeiten und Unmenschlichkeiten ist, kann doch keinen
Seelenfrieden auslösen? Das wäre doch eine Form des Selbstbelügens und der
Wirklichkeitsverleugnung!
Die Erfahrung des Ganzen umfasst auch alle Schmerzen und alle Leidensformen, die in ihr enthalten sind. Sie werden nur beurteilungsfrei wahrgenommen, ohne Erklärungen und Theorien. Sie wirken wie ein Stachel, der die Kritik und das aus ihr entwachsende Handeln aktiviert.
Wir
sind Teil des Ganzen, und andere Teile des Ganzen, die leiden, betreffen uns
mit. Dessen werden wir uns bewusst, wenn wir uns im Akzeptieren des So-Seins
befinden. Dennoch gibt es einen Frieden mit allen Schmerzen und Leiden, denn
der Friede umschließt alles, was ist, auch den Unfrieden.
Die Wirklichkeit, die wir so lassen, wie sie ist, und die
wir so nehmen, wie sie ist, lässt uns sein, wie wir sind und nimmt uns so, wie
wir sind. Die Spannungen, Polaritäten, Konflikte, Ungleichheiten und
Machtstrukturen gehören zu dieser Wirklichkeit lassen wir auf uns wirken, indem
wir sie ohne Beurteilung und anderes Zutun wahrnehmen. Wir nehmen sie also in
uns auf, ohne sie in Denkstrukturen einzuordnen. Damit sind alle ihre Probleme
in uns und beeinflussen unsere Aktivitäten.
Wir haben also die Haltung eines mitfühlenden und präsenten
Zuhörers, wenn wir uns im Zustand der Akzeptanz befinden. Jemand schildert sein
Leid und seine Schmerzen, und wir sind mit ihm, ohne Absicht, Bewertung,
Erklärung oder Ratschlag. Wir fühlen mit und lassen sein, was ist. Irgendwann
verändert sich etwas, irgendwann werden vielleicht die Schmerzen leichter,
vielleicht auch nicht. Es ist, wie es ist, und es darf sein, wie es ist. Wir
nehmen am Leid teil im Sinn einer Anteilnahme. Wir lassen das Leid dort, wo es
ist, und lassen uns zugleich von ihm berühren. Wir leiden nicht jdas Leid
anderer Menschen, sondern werden mit dem eigenen Leid in Kontakt gebracht.
Ähnlich verhalten wir uns zum Ganzen im Zustand der
Akzeptanz: Kein Zutun, kein Einmischen, aber das Geltenlassen von allem, was
ist, gleich ob es angenehm oder unangenehm, erwartet oder unerwartet, gewollt
oder ungewollt, gut oder böse ist. Wir vertrauen darauf, dass aus dieser
Haltung des Gelten- und Seinlassens die Orientierung für unser Handeln, also
auch für unsere Kritik entspringt, die uns zeigt, wie wir dem Ganzen am besten
dienlich sein können.
Wir pendeln also von der Haltung der einfühlenden Präsenz
zum dienenden Handeln, wie ein Tanz zwischen dem Sein und dem Tun, umfasst vom
Ganzen, in dem sich alles abspielt.
Zum Weiterlesen:
Akzeptieren, was ist (Teil 1)
Akzeptieren, was ist (Teil 2)
Akzeptieren, was ist (Teil 3)
Akzeptieren, was ist (Teil 4)
Akzeptieren, was ist (Teil 6)
Akzeptieren, was ist (Teil 7)
Akzeptieren, was ist (Teil 8)
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