Die Opfer-Täter-Dynamik ist ein weitläufiges und vielgestaltiges Feld im Gewirr unserer Seelenlandschaft. Wir wenden uns hier einer dritten Position zu, die das sogenannte Drama-Dreieck vervollständigt: Die Position der Retter oder Helfer. Das Drama-Dreieck stammt aus der Transaktionsanalyse und wurde erstmals 1968 von Stephen Karpman beschrieben.
Opfer-Täter-Konflikte können dramatisch verlaufen und rufen
deshalb in vielen Fällen Retter auf den Plan. Das sind Personen, die in den
Konflikt eingreifen, mit der Intention, ihn zu schlichten. Sie wollen das Opfer
aus der Gewalt des Täters befreien und diesen in die Schranken weisen. Von
außen betrachtet, scheint diese Rolle besonders lohnend, angesehen und
ehrenhaft. Doch hat sie auch ihre Tücken und Fallstricke.
Wie es in der Transaktionsanalyse beschrieben wird, gehen nämlich
solche Eingriffe nicht immer gut aus, auch wenn sie gut gemeint waren. Der
Streitschlichter kann zum Opfer der Streitparteien werden, wenn beide sich
ungerecht behandelt fühlen, wie z.B. eine Paartherapeutin, die in den Augen des
Paares inkompetent handelt und von beiden dafür kritisiert wird, was den paradoxen
Effekt haben kann, dass der Paarkonflikt zurücktritt und das Paar plötzlich auf
einer Linie ist, trotz der scheinbar unprofessionellen Hilfe. Ein anderes
Beispiel liefert ein Polizist, der in einen Raufhandel eingreifen will und dann
selbst von beiden Raufbolden verprügelt wird, was für diese dann zur Folge hat,
dass sie Opfer eines harten Gerichtsurteils werden, außer ein pfiffiger
Rechtsanwalt rettet sie, während dieser dann Opfer eines Shitstorms in einem sozialen
Medium werden kann usw.
Die Positionen in dem Drama-Dreieck sind also sehr volatil,
sie können fortwährend wechseln und von einem Pol zum nächsten springen. Das
Dreieck wird häufig von drei Personen oder Personengruppen ausgeführt, es kann
aber auch zwischen zwei Personen, z.B. bei einem Paarkonflikt aktiviert werden.
Ein Beispiel: Bei einem Paarkonflikt wird ein Partner zum
Opfer der Aggression des anderen. Er beklagt sich als Opfer wegen der gewaltvollen
Art. Daraufhin wird der Angreifer zum Helfer und versucht, den anderen zu trösten,
worauf dieser zornig wird, weil er nicht wie ein kleines Kind behandelt werden
will. Also wird jetzt er zum Täter und bringt den anderen in die Opferrolle.
Usw.
Schließlich gibt es auch die häufig genutzte Möglichkeit,
die drei Positionen im eigenen Inneren handeln zu lassen, indem drei
verschiedene Persönlichkeitsanteile interagieren. Jemand war unfair oder gemein
zu uns. Wir fühlen uns als Opfer, hegen aber zugleich Rachegedanken gegen den
Täter und machen uns selbst, zumindest im Denken, zum Täter. Zugleich haben wir
das Gefühl, dass wir uns durch dieses Manöver aus der demütigenden Opferrolle
befreit haben und aus der schamvollen Erfahrung errettet sind.
Die Retterrolle und die Scham-Stolz-Dynamik
Die Retterin ist vom Antrieb beseelt, Gutes zu tun, wo sich
Böses entsponnen hat. Sie findet das, was sie sieht, beschämend für die
involvierten Personen und will sie aus dieser Lage befreien. Stellvertretend
für die Streitparteien empfindet sie eine Scham über das, was abläuft, sie
schämt sich also fremd. Damit ist eine Form der Überidentifikation verbunden, wahrscheinlich
mit dem wirklichen oder mit dem scheinbaren Opfer. Genährt aus eigenen früheren
Erfahrungen mit der Opferrolle, tritt die Retterin mit dem Anspruch an, dem
Opfer zu ersparen, was sie selbst zu erleiden hatte und hofft insgeheim, sich
selber nachträglich noch zu unterstützen. Wenn das Opfer aus seiner Bedrängnis befreit
wird, befreit sich scheinbar ein Stück der eigenen Leidensgeschichte.
Der ergänzende Aspekt im Seelenraum der Retterin liegt in
der Gegenidentifikation mit dem Täter. Er soll stellvertretend für Täter aus
der eigenen Vergangenheit in die Schranken gewiesen, angeprangert und, wenn
möglich, bestraft werden. Die Retterin möchte endlich selber in die Täterrolle
kommen, um offene Rechnungen aus früheren Erfahrungen heimzahlen zu können.
Doch diese rachelüsternden Motive sollten lieber nicht ins Bewusstsein kommen,
weil sie stark schambesetzt sind.
Die Versuchung zur Anmaßung
Die Retterin will eingreifen, um Gutes zu tun und nachher
stolz auf sich sein zu können. Gelingt die Konfliktbefriedung, d.h. kommen
Opfer und Täter aus ihren Rollen heraus und können sich versöhnlich die Hand
reichen, dann darf die Retterin stolz auf sich und ihren Einsatz sein.
Überspannt sie aber ihre Rolle und hilft sie über das Maß der Notwendigkeit
hinaus, so hält sie die Opfer in ihrer Position fest und lässt sie nicht selber
herauswachsen. Oder sie geht in selbst wiederum ungerechter und überzogener
Weise gegen den Täter vor und baut damit eine neue Frontlinie für einen
Opfer-Täter-Konflikt auf.
An solchen Punkten überschreitet der Stolz die Schwelle zur
Überheblichkeit. In die Anmaßung zu kippen stellt eine Versuchung dar, die im
Helferstolz inhärent ist. Retter sehen sich gerne als Helden, aber häufig als
solche, die keine Kritik ertragen und Bewunderung brauchen, und die andere dann
für den Mangel an Anerkennung anklagen oder sie zum Loben zu manipulieren.
Wenn die Retterin merkt, dass sie das Opfer geschwächt statt
gestärkt hat oder dass der Täter in eine beschämende Opferposition gerät,
meldet sich die Scham. Der nächste Schritt kann darin liegen, die Scham durch
Stolz zu kompensieren und dem Opfer gegenüber abwertend mitzuteilen, dass es
selber schuld ist, wenn es die Hilfe nicht annimmt oder richtig umsetzt. Auf
der gleichen Schiene liegt, wenn dem Täter die Tat in einer Weise angekreidet
wird, als hätte man sie selbst erlitten. Hier treffen wir auf eine Spielart des
Opferstolzes.
Die Scham, die sich dort meldet, wo das Retten mehr Schaden
als Nutzen anrichtet, bringt – falls sie sie bemerkt – die Retterin dazu, ihr
Verhalten auf ein gebotenes Maß zurück zu regulieren.
Sie sollte ihre Hilfe soweit eingrenzen, dass sie das Opfer in der Selbstkompetenz
stärkt, also Hilfe zur Selbsthilfe beiträgt. Bleibt sie allerdings bei einer
Form der Hilfe, die entmündigt und die Verantwortung abnimmt, dann erhöht sie
auch die Schambelastung beim Opfer, dem eigentlich geholfen werden sollte.
Vollends schwierig wird die Retterrolle, wenn gar nicht klar
ist, wer bei einem Konflikt Opfer und wer Täter ist. Das ist üblicherweise die
Situation bei Paarkonflikten, oft aber auch bei Konflikten in Organisationen
und Gruppen. Die Retterin gerät in ein Geflecht von Projektionen, die sie erst
einmal auseinander sortieren müsste, um sich überhaupt orientieren zu können
und Lösungsperspektiven zu erarbeiten.
Es liegt eine maßlose Überschätzung der eigenen Kräfte in
dem Glauben, in solchen Situationen irgendetwas oder irgendjemanden retten zu
können. Die Retterposition ist also häufig mit der Gefahr verbunden, in eine
anmaßende Einstellung zu geraten, mit der Meinung, besser für die anderen zu
wissen, was für sie gut ist. Anmaßung führt zu ungesundem Stolz oder ist durch
ein Bedürfnis nach diesem Stolz motiviert. Aus diesem Zusammenhang stammen die missionarische
Ansprüchen, die häufig von Retterinnen vertreten werden: Wenn du machst, was
ich dir sage oder empfehle, wirst du gerettet, sonst nicht.
Das Drama-Dreieck in Aktion
Wie wir gesehen haben, ist das Drama-Dreieck eine fließende
Angelegenheit. Meist gibt es (bei Erwachsenenbeziehungen) keine fixen Rollen,
sondern Sprünge zwischen den einzelnen Positionen, die sich in den Personen
selbst noch einmal überlappen können. Aus Opfern werden Täter, aus Rettern
Opfer usw. Manchmal gerät die Retterin in die Opfer- und zugleich in die
Täterrolle, und braucht schließlich selber Hilfe.
Oft stammen die Rollen, die wir spontan einnehmen, wenn wir
in einen Konflikt geraten, aus der Kindheit, also aus unserem Familiensystem.
Manche Kinder übernehmen in einer dysfunktionalen Familie die Retterrolle und
versuchen, allen aus der Mangelsituation herauszuhelfen, den Eltern und den
Geschwistern. Sie kriegen dafür vielleicht eine besondere Anerkennung und
nehmen diese Rolle deshalb mit ins weitere Leben. Da aber die Rolle, wie jede
andere auch, schon in der Kindheit eine starke Überforderung bedeutet hat, wird
auch die Tendenz, sich selbst für andere auszubeuten, mit übernommen – die Spur
zum Helfersyndrom und zu Burn-Out-Störungen ist gelegt.
Die eingeprägte Retterrolle führt nämlich dazu, überall
Opfer zu sehen, die der eigenen Hilfe bedürfen. Wie wir oben schon gesehen
haben, steckt die eigene Opferrolle hinter diesen Projektionen: Das Opfer, das
in der Übernahme der Retterposition auf sich genommen wurde. Letztlich geht es
also der Retterin darum, aus der eigenen Opferrolle befreit zu werden und als
die Person, die sie ist, Anerkennung und Wertschätzung zu bekommen. Retter
wollen sich selbst retten.
Von der Retterposition zur Allparteilichkeit
Um die stolzbedingten Fallen zu vermeiden, die im
Rettenwollen verborgen sind, ist es ganz wichtig, die eigenen Intentionen zu
reflektieren und zurückzunehmen und damit auch die Stolzerwartung, die zum
Rettenwollen oder Rettenmüssen drängt, zurecht zu rücken. Erfolgreich wird eine
Friedensstiftung nur sein können, wenn es gelingt, eine Haltung der
Allparteilichkeit einzunehmen und den Selbstregulationskräften, die es in jedem
System gibt, zu vertrauen. Statt also alle Opfer mit den eigenen Händen aus dem
Sumpf zu ziehen, gilt es, die Opfer an ihre eigenen Kräfte zu erinnern, damit
sie sich selber aus ihrer misslichen Lage befreien können. Und statt als Rächer
gegen die Täter vorzugehen oder ihn moralisierend zu demütigen, ist es
sinnvoller und hilfreicher, ihm einen Weg zu zeigen, wie er den Schaden, den er
angerichtet hat, wieder gutmachen will. Umso leichter gelingt das, wenn dem
Täter vermittelt werden kann, dass er trotz seiner Tat ein wertvoller Mensch
ist.
Die Falle für die Retterin, die Verantwortung von Opfer und
Täter an sich zu ziehen, wird vermieden, indem die Verantwortung dort belassen
wird, wo sie hingehört. Die Hilfe zur Selbsthilfe oder Selbstrettung braucht
keine Anmaßung und hilft zugleich, aus der Retterrolle heraustreten zu können.
Von der Rolle des zwanghaften Rettenmüssens, die uns selber
belastet und überfordert, können wir uns nur dann lösen, wenn wir die
Hintergründe unserer Helferimpulse sorgfältig reflektieren und die in sie
hineinverwobenen Scham- und Stolzthemen erkennen und überwinden. Anderen
Menschen zu helfen oder sie aus Notsituationen zu retten, ist eine ehrenhafte
Sache, solange diese Handlungen frei von solchen Themen sind.
Zum Weiterlesen:
Der Opferstolz in Beziehungen
Der Stolz der Opfer
Die Ursprünge der Opferrolle
Opferstolz und Opfermentalität
Die innere Geschichte der Täter-Opfer-Dynamik
Die Täter-Opfer-Umkehr als Wurzel für Schuldkomplexe
Kinder in der Täterrolle
Das System der Gier
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