Konsens und Dissens
Wie geht das zusammen, dass wir mit der Wirklichkeit im
Einklang sein sollen und uns zugleich mit ihr auseinander-setzen, sprich in
Gegensatz zu ihr gehen?
Wir brauchen die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit und
wir brauchen den Dissens mit ihr. Die Akzeptanz bringt uns in einen Zustand des
Seelenfriedens, die Kritik lässt uns aktiv werden. Wenn wir einerseits Meditierer
und andererseits Aktivisten sind, sorgen wir bestmöglich dafür, dass unsere
Motive und Absichten klar und unbeeinflusst von selbstsüchtigen Interessen
bleiben. Als Meditierer pflegen wir das Verbundensein mit dem Ganzen, als
Aktivisten arbeiten wir an den Details, die verbessert werden sollten. In der
Verbundenheit erlangen wir mehr Integrität, die der Zielgerichtetheit und Ganzheitsbezogenheit
unserer Handlungen zugute kommt. Unsere Handlungen sind immer und grundsätzlich
relativ. Aber die Offenheit für die Akzeptanz des So-Seins hält den Kontakt mit
dem Absoluten aufrecht, sodass wir eine Prüfinstanz dafür haben, dass unsere
Handlungen nicht nur eigene, sondern auch allgemeine Interessen bedienen.
Das Ganze entwickelt sich weiter, und es braucht unser
Zutun, damit es sich in eine menschengerechte Richtung weiterentwickelt. Denn es
gibt viele menschliche Motive, die auf den eigenen Vorteil auf Kosten der
Allgemeinheit ausgerichtet sind. Diese Motive müssen eingedämmt werden, damit die
Menschheit zu einem Niveau der Gleichheit der Chancen und Lebensmöglichkeiten
gelangt.
Generationen vor uns haben sich dafür engagiert und oft ihr
Leben eingesetzt, dass wir frei unsere Meinung äußern und Kritik üben können. Sie
haben für gerechte Entlohnung demonstriert und die Gleichstellung von Frauen
und Männern erstritten. Letztendlich haben sie dafür gesorgt, dass wir in
vielen Bereichen der Welt ein abgesichertes Leben mit Wohlstand und
Freiheitsrechten führen können. Es liegt an uns, auf diesen Errungenschaften
aufzubauen und hier und heute diese Entwicklung weiterzuführen und unsere
Kräfte und Fähigkeiten dem Fortschritt der Menschheit hin zu mehr Menschlichkeit
zu widmen.
Das stimmige Ganze und die unstimmigen Teile
Aber warum gibt es überhaupt Dissens in einem stimmigen
Ganzen, in dem alles so ist, wie es ist?
Zum einen folgt aus dem, was schon beschrieben wurde, dass
der Widerspruch zwischen dem Ganzen und seinen Teilen aus dem menschlichen
Verstand kommt, der nicht nur die Wirklichkeit bemäkelt, wo sie dem Ego nicht
passt, sondern auch Alternativen erschaffen kann für Bereiche, die im
Ungleichgewicht sind. Z.B. dienen die sozialutopischen Entwürfe von Thomas
Morus angefangen über die Proklamierung der Menschenrechte, über verschiedene
technologische Utopien und die Ideen für eine kommunistischen Gesellschaft bis hin
zu den Visionen des Metamodernismus dazu, die Welt im Sinn der Umsetzung und
Durchsetzung der Menschlichkeit auf möglichst vielen Ebenen weiterzuentwickeln.
Hier können wir einen weiteren Gesichtspunkt hinzufügen. Die
Welt ist ein dynamische Gebilde, das aus Spannungszuständen hin zu
harmonischen, kohärenten Zuständen tendiert. Spannungszustände sind also
Übergangszustände, die in sich die Kräfte bergen, die in einen
Gleichgewichtszustand zurückführen, der dann ein höheres Komplexitätsniveau
aufweisen kann. Die verschiedenen Systemen der Wirklichkeit haben einen Zug und
eine Attraktion zu fließenden Gleichgewichtszuständen, die sich dynamisch
selbst regulieren. Ein Beispiel bildet unser autonomes Nervensystem, das aus
Spannungszuständen, z.B. Stress, herauskommen will und möglichst bald wieder in
Entspannungszustände übergeht, in denen es sich regenerieren kann. Es ist so
beschaffen, dass es Stresszustände nur in Ausnahmefällen und nur über begrenzte
Zeit aufrechterhalten kann und Entspannungszustände zur Erholung und zur
kreativen Neuorientierung braucht. Ein anderes Beispiel sind soziale Systeme,
die immer wieder Konflikte hervorbringen, aber am besten – für die Mitglieder
der Systeme und für den kreativen Output – funktionieren, wenn Konflikte in
neue ausgeglichene Dynamiken übergeführt werden können, z.B. durch Mediation.
Die Beispiele stammen aus der Menschenwelt, weil diese den
komplexesten Teil der Wirklichkeit ausmacht. Die nicht-menschliche Natur kennt
keine Probleme – Pflanzen- und Tierarten entstehen und vergehen wieder,
Landschaftsformationen verändern sich, Sterne explodieren und neue ballen sich
zusammen usw., ohne dass sich die „Akteure“ und die „Betroffenen“ dazu äußern
oder darunter leiden. Der Kosmos befindet sich in permanenter Bewegung und
Umgestaltung, und diese Veränderungen werden ohne jeden Wertmaßstab gelenkt. Es
ist dem Kosmos egal, wie viele Sonnensysteme und Galaxien er enthält. Es gibt,
nach allem, was wir wissen, kein Bewusstsein in all den Vorgängen, das dazu Gefühle
oder Erklärungen entwickelt. Selbst wenn wir einen Gott annehmen, macht es
wenig Sinn, ihn mit Gefühls- und Bewertungsattributen zu versehen: Ein Gott,
der sich ärgert, weil ein Sonnensystem kollabiert, oder der sich ängstigt, weil
sich das Universum ausdehnt, erscheint uns nicht sehr glaubwürdig.
Vielmehr macht es den Anschein, dass das kosmische Geschehen
ein Vorbild für die Haltung des Akzeptierens für unseren menschlichen Verstand
darstellt: Alles im Universum ist, wie es ist, und geschieht, wie es geschieht.
Erst die höher entwickelte Gehirnrinde der Menschen hat all die Fragen und
Problematisierungen hervorgebracht, die das Akzeptieren so schwierig macht. Unser
Denken ist in der Lage, sich immer Alternativen auszumalen zu dem, was ist: Was
wäre, wenn die Sonne schon viel früher als bei ihrem prognostizierten Ende in fünf
Milliarden Jahren zuerst zum roten Riesen und dann zum weißen Zwerg mutierte
und nebenbei das Leben auf der Erde zerstörte? Was wäre, wenn ein Riesenkomet
mit der Erde kollidierte? Was wäre, wenn die vorausberechnete Klimaerwärmung ausbliebe
oder wenn eine neue Eiszeit käme? Das „Was-wäre-wenn“-Denken ist nicht nur die
Quelle für utopische oder dystopische Romane und Filme, sondern auch ein alltäglich
aktiver Produzent von Ängsten und Sorgen.
Wir leben mit einer grundsätzliche Unsicherheit und
Ungewissheit, was unsere Zukunft anbetrifft. Das „Was-wäre-wenn“-Denken potenziert
diese Unsicherheit bis hin zu pathologischen Angstzuständen und Wahnideen. Das
Akzeptieren des So-Seins im Moment ist ein wirksames Gegenmittel, indem es die
Ungewissheit in eine Haltung der Hingabe transformiert. Das Ego tritt zurück
und macht einer höheren Weisheit Platz, von der wir immer nur ein Zipfelchen
erhaschen.
Das menschengemachte System: Der Egoismus und seine Eindämmung
Die Menschen haben auf unserem Planeten ein System
errichtet, das die gleichen Grundprinzipien wie alle anderen Systeme aufweist,
das aber so viele teils einander widersprechende Selbstregulationsformen
eingebaut hat, dass es dauernd zu Spannungszuständen kommt. Dadurch wird es immer
schwieriger, dauerhafte Entspannungszustände herzustellen. Deshalb gibt es beispielsweise
bis heute Kriege, die große Schäden und Zerstörungen anrichten, immenses Leid
verursachen, und deren Befriedigung äußerst komplex und herausfordernd ist.
Fast alle Menschen würden wohl, wenn man sie fragt, den Frieden dem Krieg
vorziehen, aber es gibt so viele unausgeglichene Entwicklungen in den
menschlichen Systemen, dass bestimmte Gruppen in bestimmten Situationen
annehmen, es gäbe keinen anderen Weg zum Ausgleich als durch Gewalt.
Andererseits ist es gelungen, Systeme aufzubauen, die die individuelle Gewalt
eindämmen (die modernen Staaten mit ihrem Gewaltmonopol) und die kollektive
Gewalt zurückdrängen (übergeordnete Strukturen, die die Staaten regulieren, wie
z.B. die UNO oder die EU).
Der Ausweg aus Spannungen über die Gewalt ist immer nur ein
scheinbarer Ausweg. Vielmehr ist es der Weg in die Vermehrung der Spannungen
bis hin zur Ausbildung von Dauerspannungen. Ein Beispiel ist der
Nahostkonflikt, der seit seiner Entstehung vor 100 Jahren zu keiner Lösung
gefunden hat. Gewalt ist die extremste Form egoistischen Handelns. Darunter
kann man im systemischen Zusammenhang das Handeln aus Eigennutz ohne
Berücksichtigung des Gesamtnutzens verstehen. Wenn ein oder einzelne Teile
eines Systems ohne Rücksicht auf das Ganze des Systems ihr Programm
durchziehen, bringen sie das System ins Ungleichgewicht, bis hin zum
Zusammenbruch. Dafür dient die Krebserkrankung als Beispiel: Einzelne Zellen
halten sich nicht mehr an die Funktionen, die sie in ihrem System in Abstimmung
mit den Kolleginnen ausüben sollen, sondern ziehen ihr eigenes Programm durch,
sprich sie vermehren sich ungehemmt weiter und führen zu Wucherungen und
Auswüchsen, die Entzündungen hervorrufen und schließlich den ganzen Organismus
zerstören.
Was das Krebsbeispiel anschaulich macht, ist die Wirkung des
Egoismus, der einer der mächtigsten Gegenspieler zur Liebe darstellt. Der
Egoismus ist immer aus einem Überlebensprogramm gespeist, das die
Rücksichtnahme auf die anderen Mitspieler im System verwehrt. Damit das System
überleben kann, muss der Egoismus eingedämmt und der Geist der Verbundenheit
gestärkt werden. Das Ego muss überzeugt werden, dass es ihm selbst am meisten
dient, wenn es sich der Gemeinschaft unterordnet. Die Überlebensprogramme müssen
mit dem Realitätsbezug in Kontakt gebracht werden, um ihre Macht auf das
Innenleben zu schmälern und damit die Ängste zu reduzieren.
Am Wohl der Allgemeinheit bedachte Kritik dient dem
Aufzeigen der egoistischen Anteile in allen gesellschaftlichen Belangen. Nur
was bewusst gemacht wird, kann verändert werden. Die Scham spielt dabei eine
Rolle: Egoistisches Verhalten erzeugt Scham, sobald es offenbar wird. Die Scham
fordert eine Verhaltenskorrektur im sozialen Sinn.
Die Meta-Ebene des Akzeptierens
Auch wenn wir Kritik an der Wirklichkeit üben, sind wir Teil
der Wirklichkeit. Die Einstellung der Akzeptanz umfasst also auch jede Äußerung
und jeden Gedanken von Kritik, von uns selbst wie auch von anderen, sie umfasst
eben alles, was ist. Die kritische Auseinandersetzung mit der Realität gehört
zur Welt des Relativen, während die bedingungslose und bewertungsfreie
Akzeptanz aus dem Kontakt mit dem Absoluten kommt. Darin liegt auch der Grund,
warum diese absolute Form der Akzeptanz nur ein Bestreben sein kann, das in
Momenten des inneren Friedens erfüllt ist, aber nicht von Dauer ist und weicht,
sobald sich Angstgefühle einmischen. Wohl aber stellt sie einen
Orientierungspunkt dar, zu dem wir uns hinbewegen können, insbesondere dann,
wenn wir an den Umständen oder Personen in unserem Leben leiden, wenn wir also
mit der Wirklichkeit um uns herum auseinander fallen.
Es ist, wie es ist, und ich tue, was zu tun ist. Mit dieser
einfachen Formel können wir das Verhältnis von Aktivität und Passivität, von
Geschehenlassen und Eingreifen, von Akzeptanz und Gestaltung zusammenfassen,
das unser Leben in Balance hält. Das Üben von Kritik ist ein wichtiger
Teilaspekt des Tuns, der im besten Fall für die Wirklichkeit Wege findet, wie
sie immer mehr mit sich selber in Einklang kommen kann.
Zum Weiterlesen:
Akzeptieren, was ist (Teil 1)
Akzeptieren, was ist (Teil 2)
Akzeptieren, was ist (Teil 3)
Akzeptieren, was ist (Teil 4)
Akzeptieren, was ist (Teil 5)
Akzeptieren, was ist (Teil 7)
Akzeptieren, was ist (Teil 8)
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