Jede Nichtakzeptanz der Wirklichkeit enthält ein Element der Scham. Wenn wir uns einem Aspekt dessen, was uns umgibt und was in uns ist, verweigern, trennen wir uns davon ab und stellen uns über diesen Aspekt – wir wollen etwas Besseres sein oder etwas besser wissen. Wir wollen der Wirklichkeit vorschreiben, wie sie sein soll. Das, was wir ablehnen, ist minder oder schlechter als, das was wir uns ausgedacht oder ausgemalt hätten. Das Gefühl des Stolzes, das dabei aktiviert wird, stellt die Kompensation einer Scham dar. Denn im Verhältnis zur Wirklichkeit stehen wir niemals über ihr. Vielmehr sind wir dem großen Ganzen, das die Wirklichkeit ausmacht, immer untergeordnet und als Teilchen eingeordnet. Die Ordnung besteht unabhängig von uns und erfordert beständig unsere Einstimmung und Anpassung. Wir sind in die mannigfaltigen Zusammenhänge eingebettet, die über das bestimmen, was und wie wir sind. Sie legen fest, wie unsere Handlungsspielräume beschaffen sind, wo sie beginnen und wo sie aufhören.
Es ist also immer eine Anmaßung mit dabei, wenn wir aus der
Akzeptanz mit dem Hier und Jetzt herausfallen. Anmaßung heißt, dass wir uns
etwas zumessen, was uns eigentlich, nach den Regeln des großen Ganzen, nicht
zusteht. Wir stellen uns fiktiv auf eine Stelle im Universum, die uns nicht
gebührt. Wir tun so, als wären wir der archimedische Punkt, um den sich alles
dreht, was sonst noch da ist. Tatsächlich werden wir von den verschiedensten
Kräften, die auf uns einwirken, gedreht und gewendet, und alles, was wir dabei
zustande bringen, ist, den Kurs da und dort ein wenig in unserem Sinn zu
korrigieren. Das gelingt manchmal besser, manchmal schlechter, aber gibt uns
immer wieder die Illusion, wir wären die großen Macher in unserem Leben und
darüber hinaus.
Es ist wie mit dem Wetter: Wir wüssten immer besser, wie es
sein sollte, aber das Wetter kümmert sich nicht im geringsten darum. Das
einzige, was wir tun können, ist zu akzeptieren, wie es ist, und unsere
Handlungen danach ausrichten. Jedes Jammern über das, was ist, ist verschüttete
Milch.
All diese Anmaßungen pflegen wir, weil wir uns dem
Schamgefühl nicht stellen, das hinter der Ablehnung unserer geschöpflichen
Kleinheit steckt. Der Narzissmus in jeder Selbstüberhöhung und
Selbstverminderung ist natürlich die Verführung, die uns aus dem „Paradies“
vertreibt, das in diesem Sinn für die stimmige Einordnung unseres Selbst in das
große Panorama des Ganzen steht. Denn am richtigen Platz zu sein, führt zum
erfüllendsten Selbstgefühl, das uns zufallen kann.
Wir brauchen die herausgehobene Sonderstellung, weil wir uns
sonst schämen würden. Lieber baden wir uns in unserer Eitelkeit als dass wir
die Scham spüren. Wir wollen nicht, dass es uns geht wie Adam und Eva, als sie
sich nach der Übertretung einer Regel des großen Ganzen plötzlich ihrer Kleinheit,
ihrer Nacktheit, ihrem Bloßgestelltsein, ihrer Scham bewusst wurden. Die Scham
ist unangenehm und quälend, also verstecken wir uns vor ihr und ihrem
richtenden Blick. Wir wollen nicht dabei ertappt werden, dass wir uns größer
(oder kleiner) gemacht haben als wir sind. Lieber schmücken wir uns mit unseren
Errungenschaften und Großtaten (oder mit unseren Misserfolgen und
Versagenserfahrungen) als dass wir demütig anerkennen, dass wir in unserer
Unvollkommenheit zum großen Konzert des Universums nicht mehr als unsere
winzige Rolle beitragen können.
Selbstüberhöhung und Demut
Die Scham hinter der Illusion der Überbedeutung, die wir uns
zumessen, gibt es nur wegen unserer Neigung zur Selbstüberhöhung, die immer
wieder dazu verführt – die Schlange in der Paradies-Geschichte. Sobald wir
aufhören, den Anspruch zu stellen und die Erwartung an uns zu nähren, der
Drehpunkt hinter allen Abläufen unseres Lebens zu sein, hat die Scham keinen
Nährboden mehr. Wir nehmen in Bescheidenheit und Demut an, was unser Platz und
der Handlungsspielraum ist, der uns zugeteilt wird.
Das richtige Maß zwischen Selbstüberschätzung und
Selbstverkleinerung zu finden, ist ein wichtiger Zugang zur Lebenszufriedenheit
und zum Lebensglück. Solange wir entweder unsere Schwächen nicht wahrhaben
wollen bzw. nicht zu ihnen stehen können oder mit unseren Fehlern und
Unzulänglichkeiten identifiziert sind, hat uns die Scham in ihren Fängen und
verleitet uns zu Ausgleichsaktionen, die in die eine oder andere Form des
ungesunden Stolzes führt.
Stolz und Dankbarkeit
Wir dürfen stolz sein auf bestimmte Handlungen, z.B. auf
Leistungen, die auf Selbstdisziplin und Selbstüberwindung beruhen, also überall
dort, wo wir innere Widerstände („Schweinehunde“) überwunden haben. Freilich ist
alles, was wir für diese Taten an Ressourcen, Kräften, Begabungen usw.
benötigen, auf andere Faktoren zurückzuführen, die nur minimal in unserem
Einflussbereich liegen.
Wir brauchen deshalb nicht stolz zu sein auf das, was wir
sind, weil es nur zum geringsten Teil unser Verdienst ist. Was können wir für
unsere Körpergröße und Augenfarbe, unseren Intelligenzquotienten oder unsere
künstlerischen Fähigkeiten? Hier können wir den Stolz zurückstellen, denn es
ist die Dankbarkeit über alles angebracht, mit dem uns das Leben beschenkt hat
und immer wieder beschenkt.
Die Formel der Selbstakzeptanz
Selbstakzeptanz bedeutet, dass wir alles, was wir sind und
was uns ausmacht, annehmen, indem wir uns den Charakter des Geschenks bewusst machen,
der in der Gnade unseres Lebens steckt und in allem, was dazu gehört. Deshalb
ist die Selbstakzeptanz ein wirksames Heilmittel gegen die Scham und den
überzogenen Stolz. In der Selbstannahme stehen wir zu dem, was uns übergeben
wurde und immer wieder übergeben wird. Auf dieser Basis bauen wir auf, wenn wir
neue Initiativen setzen und Projekte starten, wenn wir also unsere Beiträge zur
Wirklichkeit gestalten.
Die Selbstakzeptanz ist ein guter Stabilisator für einen
ausgewogenen Selbstwert, der die Balance zwischen Minderwertigkeitsgefühlen und
Selbstüberhöhung bildet. Beide diese Tendenzen haben ihre Wurzeln in unseren
frühen familialen Beziehungserfahrungen. Überall dort, wo unsere
Grundbedürfnisse nicht ausreichend gestillt wurden, wird unser Selbstgefühl
geschwächt und eingeschränkt. Wir haben dann nur die Möglichkeit, nach „unten“
in Richtung Selbstzweifel und Selbstabwertung oder nach „oben“ in Richtung
Selbstüberschätzung auszuweichen.
„Ich bin so, wie ich bin, und es ist gut so.“ Das ist die
Formel der Selbstakzeptanz. Wir brauchen uns weder für unser Sein und Wesen zu
schämen noch darauf stolz zu sein, sondern können uns an unserem So-Sein
erfreuen. Wir sind einfach, wie wir sind, und dafür verdienen wir die
Wertschätzung, die eigene und die unserer Mitmenschen. Das Leben als ganzes
schätzt uns sowieso für das, zu dem sie uns gemacht und gestaltet hat.
„Ich bin so, wie ich bin, und es ist so, wie es ist, und es
ist gut so.“ An diesem Punkt schließt sich der Kreis vom Ich zum Ganzen. Wir
schwingen mit mit dem, was geschieht. Wir reiten die Welle des Lebens, unseres
und des größeren. Wir lassen alles los, was der Selbstannahme im Weg steht.
Zum Weiterlesen:
Das Ja zum Selbst
Selbstakzeptanz und Schamheilung
Akzeptieren, was ist (Teil 1)
Akzeptieren, was ist (Teil 2)
Akzeptieren, was ist (Teil 3)
Akzeptieren, was ist (Teil 4)
Akzeptieren, was ist (Teil 5)
Akzeptieren, was ist (Teil 6)
Akzeptieren, was ist (Teil 7)
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