Dienstag, 30. November 2021

Fixierungen in der Impfdebatte

Viele, die sich nicht impfen lassen wollen, sind stark in der personalistischen Haltung verankert. Von dort nehmen sie die Sicherheit und den Gegenhalt gegen das ethische Solidaritätsargument, das im vorigen Blogartikel besprochen wurde und das von der systemischen Ebene stammt. Es geht ihnen um die Rechte der Person, die über die Jahrhunderte gegen die Zugriffe der Mächtigen erkämpft wurden, um die Integrität und den Schutz vor jeder Verletzung und Intrusion. Von außen darf nichts ohne ausdrückliche Zustimmung in die Sphäre der eigenen Person eindringen. Das Impfen gilt dann als abschreckendes Beispiel für eine derartige Grenzüberschreitung. Der Impfstoff dringt in den Körper ein und setzt sich dort für immer fest, das Innere ist dauerhaft kontaminiert, so die angstbesetzte Auffassung von Menschen, bei denen durch die Vorstellung der Impfung frühere derartige Traumatisierungen aktiviert werden. 

Deshalb ist es für manche Menschen einfacher und leichter, sich absichtlich anstecken zu lassen, als sich einer Impfung auszuliefern. Obwohl das Risiko bei dieser Methode der Immunisierung sehr hoch ist, schwer zu erkranken, wird dieser Weg gewählt, weil die Kontrolle bei einem selber liegt: Ich entscheide, was in mich hineinkommt und wie es in mich hineinkommen. Aus irgendeinem Grund gelten Viren in diesen Fällen als harmloser als der Impfstoff, vielleicht deshalb, weil Viren als etwas Natürliches und Impfstoffe als etwas Künstliches aufgefasst werden. 

Die innere Prüfinstanz 

Im personalistischen Denken muss alles, was als äußere Maßnahmen vorgegeben wird, mit der eigenen Innerlichkeit abgestimmt und in Übereinstimmung gebracht werden. Nur wenn es diese Prüfung besteht, wird es umgesetzt. Wenn nicht, muss dagegen Widerstand geleistet werden. Die letztgültige Instanz für alles, was mit einem geschieht, liegt im Inneren der Person. Darauf darf niemand anderer einen Zugriff haben. Wenn einem das Tragen von Masken nicht gefällt und innerlich widerstrebt und wenn dessen Nutzen nicht einsichtig ist, handelt es sich um einen Zwang, gegen den man sich zur Wehr setzen muss. Wenn einem das Impfen nicht behagt und gefährlich erscheint und der Nutzen in Zweifel gezogen wird, darf es nicht erzwungen werden, sonst wäre das Grundrecht auf die eigene innere Sphäre und den eigenen Körper verletzt.  

Die Anpassung an vorgegebene Normen erscheint wie ein Verrat an sich selbst. Das haben wir wohl alle in unserer Kindheit erlebt, meist als unbewusst ablaufender Prozess: Erwartungen und Regeln, die unsere Eltern von uns verlangt und eingefordert haben, haben uns zur Anpassung gezwungen, weil wir keine Alternative hatten. Wir mussten auf unser eigenes Spüren und Fürwahrhalten verzichten und uns verbiegen. Dieses Drama wird wiederinszeniert, wenn die Regierungen Maßnahmen verkünden, die uns zur Anpassung zwingen wollen. Nur kann es sein, dass wir die Sinnhaftigkeit solcher Regeln gar nicht genauer überlegen, sondern dass wir aus den emotionalen Verletzungen unserer Kindheit heraus reagieren, indem wir gegen den Zwang rebellieren. 

Gesellschaften brauchen immer Regeln und Normen, und wir passen uns an viele dieser Regeln an. Oft brauchen wir Zeit zum Lernen und opponieren anfangs dagegen, wie z.B. bei der Einführung der Gurtenpflicht, und irgendwann ist das neue Verhalten angenommen, läuft automatisiert ab und bereitet keine Probleme mehr. Viele haben diesen Prozess beim Maskentragen durchlaufen. Vielleicht muss es beim Impfen auch einen derartigen Prozess geben, sollte uns das Mutieren und Variieren dieses Virus noch längere Zeit in Bann halten. 

Die Angst vor dem Autonomieverlust 

Die persönliche Autonomie ist ein Hauptgewinn der personalistischen Bewusstseinsstufe, erreicht über Aufstände, Revolutionen und öffentliche Willensbildung. Sie ist ein wichtiges Gut, das vor jedem Rückfall in Fremdbestimmung und obrigkeitliches Diktat bewahrt werden muss. Deshalb ist es heikel, wenn daran gerüttelt wird, und in der Impffrage meldet sich diese Thematik bei vielen sehr vehement. Die Gesundheitsvorsorge wird als integraler Bestandteil der eigenen Autonomie verstanden, was ein wichtiger Schritt ist: Im Unterschied zur bürokratischen Bewusstseinsebene wird sie nicht der Obrigkeit oder Experten alleine anvertraut.  

Die ganze Debatte könnten wir uns ersparen, wenn es nicht um die Impfung vor einer ansteckenden Krankheit geht; Corona hat leider diese Komponente in hohem Maß und hält deshalb seit bald zwei Jahren die Welt in Atem. Damit ist die eigene Gesundheitsvorsorge untrennbar Teil der allgemeinen Gesundheitsvorsorge. Die Autonomiebestrebungen kreuzen sich mit den Solidaritätserfordernissen. Impfen oder Nichtimpfen hat unweigerlich soziale Auswirkungen und ist damit nicht mehr allein meine eigene Entscheidung, in die mir niemand dreinzureden hat. 

Die innere Intimität 

Die Intimität mit mir selber ist eine besondere Qualität, die eine große Errungenschaft der Moderne im Gefolge der Aufklärung darstellt. Das Recht auf Privatheit ist historisch gesehen ein junger Erfolg für die Freiheit des Einzelnen. Seit der 60er-Bewegung wurde dieses Recht explizit auf den eigenen Körper bezogen: „Der Körper gehört mir,“ ist ein Slogan beim Kampf um die Freigabe der Abtreibungen. Die Angst, dieses Recht zu verlieren, sitzt vielen in den Knochen und äußert sich im Kontext der Impfdebatte. 

Das ist das Credo auf der personalistischen Stufe: „Was ich spüre, stimmt und ist die unmittelbarste mir zugängliche Erfahrung. Sie nehme ich als Richtschnur für mein Handeln.“ Es gilt allerdings auch nur in diesem internen Zusammenhang. Wenn die Dinge komplexer werden, ist sie nur mehr ein Faktor unter vielen anderen, die berücksichtigt werden müssten. Für komplexere Zusammenhänge brauchen wir solide äußere Informationsquellen, die wir mit den inneren Stimmen ins Gespräch bringen. Diese Quellen sind vor allem die Einsichten und Erfahrungen der Mitmenschen und die Erkenntnisse der Wissenschaft. 

Die Chemie und die Körperidentität 

Für viele besteht eine Hemmschwelle vor dem Impfen darin, dass es eine abschreckende Vorstellung ist, technisch hergestellte Chemie in den Körper hereinzulassen. Die Impfstoffe sind nicht nur fremd, sie könnten auch giftig sein und das natürliche Gleichgewicht im Körper durcheinanderbringen und damit irreversible Schäden anrichten. Die Fantasien haben hier eine weite Betätigung, wie es bei Ängsten immer ist, und werden von selbsternannten Experten in den unterschiedlichsten Formen genährt, die von eingepflanzten Überwachungschips über geheimnisvolle chemische Formeln bis zu Minirobotern reichen, so also hätten die Impfstofferzeuger nichts anderes zu tun als irgendeinem aus der Einbildung stammenden big brother endlich den Durchbruch zur Weltherrschaft zu erlauben. 

Den eigenen Körper als Tempel anzusehen, der reingehalten werden muss, ist eine schöne Idee, aber die Realität ist komplexer. Jeder Körper, der in unserer Kultur lebt, enthält längst ein Sammelsurium von verschiedenen Chemikalien, die wir über Düngemittel, Atemluft, Zahnpasten, Waschmittel usw. in uns aufgenommen haben und laufend in uns aufnehmen. Selbst die naturnahste Lebensweise, die sich eine winzige Minderheit leisten kann, kommt ohne den Kontakt zur Chemie und zur Aufnahme von chemischen Stoffen nicht durch.  

Die Illusion der Identität 

Die Unabhängigkeit der Person, die unbeeindruckt von äußeren Einflüssen ihre Motive wählt, ihre Entscheidungen trifft und ihre Werte entwickelt, erweist sich aus der Sicht der systemischen Bewusstseinsebene als Illusion. Jeder Mensch ist zu vielen Teilen ein Produkt von permanent ablaufenden und aufs Unbewusste wirkenden Einflüssen. Es handelt sich um eine Illusion der Kontrolle. Was wir spüren an Stimmigkeit und Integrität, ist in vielen, wenn nicht in allen Fällen Resultat einer Mixtur aus Außen- und Innensteuerung aus unterschiedlichsten Quellen, ohne dass wir ihre Herkunft identifizieren können. Vieles, wenn nicht sogar alles, von dem wir meinen, es wäre auf dem eigenen Mist gewachsen, verdanken wir in Wahrheit Informationen, die uns von anderswo zugeflossen sind. In diesem Licht ist unsere Identität nichts anderes als die Summe und der Sammelpunkt vielfältiger Außen- und Innenreize, etwas, das sich mit jedem neuen Informationszufluss ändert und seine Konsistenz und Kontinuität in der Zeit in jedem Moment neu erzeugen muss.  

Die behauptete Identität beinhaltet eine Mischung aus früh geprägten Mustern und äußeren Reizen, die in Permanenz ins Innere eindringen und im Rahmen der erworbenen Muster interpretiert und verarbeitet werden. So etwas wie eine feststehende Identität gibt es nicht, sondern sie ist ein Gebilde, das im Fließen ist und sich fortwährend verändert. Das Beständige daran muss immer wieder hergestellt, bestätigt und abgesichert werden, damit ein Gefühl von Kontinuität als Person aufrechterhalten werden kann.  

Die Identität als Impfgegner, Impfskeptiker, Impfbefürworter, Impfmissionar, Impfgegnerbekämpfer, Impfanhängerbekämpfer etc. ist jeweils eine Festlegung, die aus vielen Quellen gespeist wird, von denen ein Großteil im Unbewussten schlummert und durch äußere Einflüsse gebildet wurde, die ungefiltert eingedrungen sind. Die Abwehr solcher Einflüsse ist zwar verständlich, aber naiv, weil ein Leben unter einer hermetisch abschirmenden Glasglocke nicht möglich ist. Solche Identitäten stellen Versuche dar, der Komplexität der Wirklichkeit mit einem Standpunkt zu begegnen und sie auf diese Weise zu bewältigen und handhabbar zu machen.  

Wir brauchen uns also im Grund nicht viel einzubilden auf solche Identitäten. Wir brauchen uns auch nicht zu schämen, wenn wir sie verändern – das ist ein Zeichen von Lernen, sofern die Veränderung in einer Weitung und Aufweichung besteht. Wenn wir uns zu stark auf derartige Identitäten fixieren, laufen wir Gefahr, starr und verbissen zu werden. Auf diese Weise beschneiden wir unsere Handlungsfähigkeit zu stark und verringern unsere Freiheitsräume. Wir müssen dann fortwährend die Richtigkeit und moralische Rechtfertigung unserer Position mit allen Mitteln behaupten und gegen alle Anfechtungen von innen und außen verteidigen. Wir aktivieren den Kampfmodus in übertriebenem Maß, der dann die ganze Zeit entweder im Vollbetrieb oder im Standby ist. Die spezifische Identität, in diesem Fall die jeweilige Impfidentität, wird zum emotionalen Hauptinhalt des eigenen Lebens, alles kreist um ihre Bestätigung und Absicherung. Abweichende oder anderslautende Ansichten werden abgelehnt oder ignoriert, ihre Vertreter abgewertet und angegriffen. 

An die Stelle erwachsener und sachlicher Diskussion tritt die Selbstbehauptung und der Angriff, der als Verteidigung der eigenen Identität verstanden wird. Die Fixierung auf das Credo der personalistischen Bewusstseinsebene verknüpft sich mit Überlebensprogrammen und wird undurchdringlich und unveränderbar. Wenn die verschiedenen Seiten im Diskurs auf diese Ebene gehen, entstehen die Spaltungen, von denen viel die Rede ist. Starrheit splittert und zerbricht, Identität, die nicht flüssig ist, wird zur Last und Behinderung. Starres splittert und zerbricht. Wo Starres auf Starres trifft, bildet sich ein harter Spalt. Identitäten, die nicht flüssig sind, werden zur Last und Behinderung für das eigene Wachsen und für das Öffnen der Gesellschaft. 

Leben in einer Kultur ist ein Kompromiss mit dem Natürlichen 

Im Grünen zu leben ist sicher heilsamer und gesünder als in den Städten, aber das ist weitgehend ein Privileg derer, die es sich leisten können, und es wird sich hinten und vorne nicht ausgehen, wenn alle 8 Milliarden ins Grüne übersiedeln. Vielleicht gelingt es der Wissenschaft, naturnahe Stoffe zu entwickeln, die all das Plastik überflüssig machen, dass eines Tages kein Gegensatz mehr zwischen Chemie und körperlicher Integrität wahrgenommen wird. Bis dahin sollten wir schauen, wie wir unseren Körper möglichst sauber halten können, und müssen auch schauen, ob wir mit dem Impfen einen Kompromiss schließen können, wie wir täglich auch andere Kompromisse mit chemischen Produkten schließen. Es wäre für alle wunderbarer, wenn es genügen würde, den Kräutertee vom Garten zu trinken oder Yoga-Übungen zu machen, um die Infektion mit dem Virus abzuwenden – leider reicht es nicht.  

Niemand freut sich darüber, geimpft zu werden, viele entscheiden sich aber dafür, weil sie der Überzeugung sind, dass sie sich selbst am besten damit schützen und andere am besten vor einer Ansteckung bewahren. All die Alternativen, die angeboten werden, von der Homöopathie über TCM bis zu Atemübungen bieten tolle Möglichkeiten zur Stärkung des Immunsystems, bieten aber keinen verlässlicheren Schutz als die Impfung, weil sie in ihren Wirkungen nicht in der Breite und Tiefe erforscht sind wie die Impfung. Auch wenn der eine oder die andere von dieser oder jener Methode der Gesundheitsvorsorge schwärmt, gibt es keine, die von der großen Mehrheit angenommen wird. 

Erwartungen an die Obrigkeiten 

Es macht auch wenig Sinn, der Regierung vorzuhalten, sie würde keine alternativen Heilungswege propagieren. Stellen wir uns einen Gesundheitsminister vor, der Schüssler-Salze für die Covid-Bekämpfung anpreist. Auch wenn manchen diese Salze geholfen haben, ihre Krankheitssymptome zu lindern, wäre es verantwortungslos, diese Methode für alle vorzuschlagen. Sie wird bei den einen eine gute Wirkung entfalten und bei anderen nicht. Wissenschaftliche Belege zur Wirksamkeit fehlen und die deutsche Stiftung Warentest urteilt, dass die Methode zur Behandlung von Krankheiten ungeeignet ist. Der Gesundheitsminister müsste sich vielfältige Kritik anhören, dass er Menschen falsche Hoffnung auf unbegründeter Basis mache usw. Die Vertreter anderer alternativer Methoden würden sich aufregen, warum ihr Ansatz nicht empfohlen wird. Es würde Leute geben, die wegen einer Überdosierung krank werden, und der Staat hätte ein Schlamassel produziert, statt etwas zur Gesundheitsförderung beizutragen. Oder stelle man sich vor, der gegenwärtige Parteiobmann der FPÖ wäre Gesundheitsminister und würde kraft seines Amtes der Bevölkerung das Entwurmungsmittel Ivermectin zur Coronavorbeugung und –heilung empfehlen, durch dessen Einnahme viele Menschen krank wurden und einige verstorben sind. 

Um effektiv zu wirken, muss sich die Staatsverwaltung an der zuverlässigsten Wissensform, die zur Verfügung steht, orientieren, nämlich an der wissenschaftlichen, weil sie sonst nicht funktionieren kann. Ein solideres und abgesicherteres Wissen als das wissenschaftliche haben wir nicht, leider oder gottseidank, je nach Sichtweise. Ein Technologieunternehmen, das die Komponenten für einen Chip oder für einen Fensterrahmen auspendelt, wäre bald vom Markt verschwunden. Ein Staat, der sich in seiner Gesundheitspolitik an den Heilsversprechen von einzelnen Proponenten und deren anekdotisch dokumentierten Erfolgen orientiert, verliert nicht nur die Achtung seiner aufgeklärten Bevölkerung, sondern wird auch nicht in der Lage sein, die gesetzten Ziele in einer komplexen Gesellschaft zu erreichen.  

Alternative Heilmethoden haben ihren Markt und ihre Anhänger. Alles, was hilft oder zu helfen glaubt, präsentiert sich auf diesem Markt im Rahmen unserer freien Marktwirtschaft und kann von den Konsumenten genutzt werden. Was wirkt, hat guten Zulauf, was nicht wirkt, wird irgendeinmal vom Markt verschwinden. Gäbe es eine dieser alternativen Methoden, die sich für alle als nachhaltig heilend herausstellt, wären schon längst alle Menschen dort, und das Impfen wäre überflüssig. Vielmehr ist es typisch für die alternativen Methoden, dass sie bei einigen Menschen gute Erfolge haben und bei anderen nicht. Spezielle Empfehlungen von Politikern für ihre Gesundheitsvorsorge brauchen nur Menschen, die sich nicht selber ein Bild machen wollen und sich stattdessen der Obrigkeit anvertrauen wollen. 

Zum Weiterlesen:
Impfen, Wissen und Wissenschaft
Die Ethik beim Impfen

Freitag, 26. November 2021

Die Ethik beim Impfen

Vorbemerkung

Es geht mir bei diesen Zeilen nicht darum, einen vorwurfsvollen Zeigefinger vor irgendjemandem zu erheben, geschweige denn über jemanden einen Stab zu zerbrechen. Es geht mir vielmehr darum, einen ethischen Sachverhalt aufzuzeigen uns bewusst zu machen. Was soll ein ethischer Sachverhalt sein? Ich gebe ein Beispiel zur Verdeutlichung, das nichts mit der aktuellen Impfthematik zu tun hat. Wenn Kinder emotional oder sexuell missbraucht werden, entstehen massive subjektive Verletzungen und Leiden. Zusätzlich entsteht ein Riss im sozialen Gefüge durch die Missachtung der Menschenwürde. Dieser Riss wirkt so lange, bis gesehen und anerkannt ist, was passiert ist, und bis ein Ausgleich und eine Sühne geschieht. 

Ein ethischer Sachverhalt existiert und hat eine Wirklichkeit, ähnlich wie ein Riss in einer Hauswand. Er hat aber keine dingliche Realität, sondern eine soziale. Als solche hat er die Eigentümlichkeit, verdrängt, vergessen und ignoriert werden zu können. Dennoch existiert er weiter und hält Spannungen im Untergrund des sozialen Gefüges aufrecht. Diese Spannungen betreffen alle, nicht nur die Opfer, die an ihren Verletzungen leiden, und die Täter, die an ihren Schuld- und Schamgefühlen bzw. deren Abwehrformen leiden. Deshalb ist es eine wichtige Aufgabe, die Ursachen der Spannungen aufzudecken und bewusst zu machen. Denn unaufgelöste und unbewusste ethische Sachverhalte erzeugen Dynamiken mit oft unglaublicher und zerstörerischer emotionaler Wucht.

Der ethische Sachverhalt in der Impfthematik

Das ethische Argument, das für die Impfung spricht, hat mit Solidarität zu tun. Geimpfte tragen nach den Erkenntnissen der Wissenschaft wesentlich mehr zur Eindämmung der Pandemie bei als Ungeimpfte. Viele ältere und aktuelle Studien beweisen die Wirkungen der Impfung (besonders trifft es auf die Dreifachgeimpften zu) auf die Reduktion von Ansteckungen und auf die Vermeidung von schweren Verläufen: Nach Schätzungen der WHO hat das Impfen bisher einer halben Million Menschen den Tod erspart. Die Ungeimpften hingegen geben bei Ansteckung die volle Virenbelastung weiter. Sich nicht impfen zu lassen, verringert die Ansteckungsrisiken und die Weiterverbreitung der Viren nicht im Geringsten, sondern fördert die weitere Verbreitung des Virus und verlängert die Krisensituation. Außerdem steigt durch das weiter bestehende Feld der Ausbreitung die Möglichkeit für die Entwicklung neuer Varianten, die die weitere Bekämpfung der Pandemie noch schwieriger gestalten. 

Da die Pandemie weiterhin viel Leid und viele Todesfälle bewirkt, besteht die ethische Pflicht darin, das zu tun, was einem möglich ist und zu Gebote steht, um die Not zu wenden. Dazu gibt es nach allen vorliegenden Daten vor allem die Möglichkeit der Impfung, die noch dazu in unseren Ländern kostenlos verabreicht wird. Ungeimpfte, die diesen Schritt nicht vollziehen, tragen mit dieser Haltung eine höhere ethische Mitverantwortung für die Opfer der Pandemie als die, die sich trotz des Risikos von Nebenwirkungen impfen lassen. Mit jedem Tag, an dem sich jemand nicht impfen lässt, steigt die Mitverantwortung für das Weiterwachsen der Ansteckungen und der damit verbundenen Auswirkungen. (Ausgenommen sind natürlich jene wenigen, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen dürfen.) 

Es gibt auch andere Maßnahmen, die der Vorbeugung gegen Ansteckung dienen, indem sie z.B. das eigene Immunsystem stärken oder die zwischenmenschlichen Kontakte reduzieren. So anerkennenswert jeder dieser Maßnahmen ist, muss doch gesehen werden, dass die Impfung die zielgerichtetste und wirkungsvollste Handlung darstellt, die Pandemie abzuschwächen und irgendwann zu beenden.

Andererseits ist die Impfung wiederum nicht die einzige und ausreichende Maßnahme, um die Infektionen zurückzudrängen; wer meint, mit der Impfung wieder wie vor der Pandemie leben zu können, hat übersehen, dass auch Geimpfte das Virus weitergeben können. 

Motive der Impfablehner

Natürlich haben alle, die sich nicht impfen lassen, ihre Gründe und Motive. In diesem Artikel geht es nicht darum, umfassend auf all diese Möglichkeiten der Motivation einzugehen, sondern darum, ein paar Beispiele herauszugreifen. Ich möchte allerdings darauf hinweisen, dass das ethische Solidaritätsargument  nicht einfach weggewischt, weggekürzt oder wegerklärt werden kann, sondern dass es dazu einer gewissenhaften Abwägung bedarf. Da dieses Argument im Vorfeld der Argumentation für eine Impfpflicht steht, ist es besonders wichtig, sorgfältig damit umzugehen. Ausdrücklich betonen möchte ich, dass mit einer Anerkennung des Solidaritätsarguments noch keine Zustimmung zu einer Impfpflicht impliziert ist. Dazu wäre eine gesonderte Diskussion notwendig. 

Das Solidaritätsargument zusammengefasst lautet: Wer das in seiner Macht Stehende zur Verringerung der Ansteckungsrisiken und damit zur Weiterverbreitung der Pandemie und dem damit verbundenen Leid tut, handelt gut, wer es unterlässt, handelt unterhalb seiner ethischen Möglichkeiten. Für manche ist nicht einsichtig, dass die Impfung diesem praktischen Ziel und damit dem ethischen Zweck dient. Sie halten die wissenschaftliche Evidenz, die den Nutzen der Impfung belegt, für falsch oder für manipuliert und halten sich an andere, „alternative“ Quellen ohne wissenschaftliche Relevanz. Auf diese Problematik bin ich im vorigen Blogartikel eingegangen. 

Unethisches Verbreiten von Nachrichten

Es erhebt sich an diesem Punkt die ethische Thematik, die mit dem Übernehmen und Verbreiten von dubiosen Informationen, die nicht den wissenschaftlichen Standards entsprechen, verbunden ist. Wenn jemand ohne Überprüfung und Faktencheck Informationen in den sensiblen und hoch emotionalisierten Themenbereichen aufgreift und medial weitergibt, handelt er oder sie unterhalb ihrer ethischen Möglichkeiten. Wer Informationen im Internet finden und lesen kann, kann auch überprüfen, was andere zu diesen Informationen sagen. Es ist auch leicht, herauszufinden, ob die Informationen eine wissenschaftliche Abdeckung haben oder ob es sich um subjektive Erfahrungen oder Meinungen handelt, die als Wissenschaft ausgegeben werden, ob es also ein Schwindel ist. Wer ungeprüft Informationen verbreitet, weil er nur „glaubt“, dass das stimmt, täuscht andere, denen er die Information mit dem Sigel der Vertrauenswürdigkeit weitergibt. Solche Verhaltensweisen tragen auch dazu bei, dass die allgemeine öffentliche Diskussion weiter verwirrt wird und die Mitmenschen in ihrer Sichtweise und ethischen Haltung mit unlauteren Mitteln beeinflusst werden. Sie wirkt dabei mit, dass die ablehnenden und hasserfüllten Emotionen anwachsen und das gesellschaftliche Klima vergiftet wird. Dann noch zu sagen, man wolle ja keine Spaltung, bildet nach solchen Aktionen der Desinformation manchmal noch das Sahnehäubchen der Heuchelei.

Der subjektive Widerwille

Wer das Solidaritätsargument versteht und teilt, beruft sich manchmal auf den subjektiven Widerwillen gegen das Impfen und die fehlende innere Zustimmung zu diesem Akt. Warum soll man etwas tun, was einem innerlich widerstrebt? Das kann ja nichts Gutes bewirken. Jeder hat seine Empfindlichkeiten und will mit diesen Empfindlichkeiten respektiert werden. 

Dennoch ist das eigene Spüren nicht das Ende der ethischen Diskussion, sondern ihr Anfang. Das eigene Fürwahrhalten ist untrennbar mit dem eigenen Ego und seinen Schutzmechanismen verbunden. Um eine ethische Perspektive einzunehmen, müssen immer die anderen mit ihren Egos und Schutzmechanismen mitbedacht werden. Schließlich stellt sich noch die Frage, was für die Gesellschaft als Ganze das Beste ist. Manchmal ist es wichtig, für ein höheres Gut die eigenen Befindlichkeiten zurückzustellen, aber das geht nur, wenn der Blick über den eigenen Tellerrand geht und das Leid im größeren Zusammenhang wahrgenommen wird.

Der innere Konflikt kommt nicht zur Ruhe, wenn nur die eigenen Bedenken und Ängste als Richtschnur des Handelns genommen werden. Vielmehr schwingt dabei immer ein Schamgefühl mit. Deshalb beginnt oft die Suche nach Informationen, die die innere Diskrepanz ausgleichen sollen: Informationen, die die Impfung als Mittel zur Bekämpfung der Pandemie diskreditieren, sind dann hoch willkommen, denn sie lindern die emotionale Dissonanz. Eine Prüfung auf ihre Faktizität wird tunlichst vermieden, weil die Informationen ja sonst ihre Aufgabe der inneren Beschwichtigung nicht mehr erfüllen würden. 

Das Tor zu Verschwörungsfantasien steht damit schon offen, durch das dann manche schreiten und sich damit noch weiter von der ethischen Solidarität entfernen. Außerdem entstehen dann oft schmerzhafte Brüche mit den bisherigen Freundes- und Kommunikationskreisen. Das Verantwortungsgefühl, das durch das Solidaritätsargument aktiviert ist, muss verdrängt werden, und die Verdrängung führt dazu, dass Gegner oder Gegenargumentierer in Bezug auf die angeeigneten Theorien immer aggressiver bekämpft werden. 

Je mehr die Entfernung zur ethischen Verantwortung wächst, desto weiter geraten die Kreise der Diskreditierung: Nicht nur einzelne Wissenschaftler, die sich öffentlich für Impfungen und Corona-Maßnahmen aussprechen, werden angegriffen und verurteilt, sondern die gesamte Wissenschaft wird mit einem Misstrauensantrag belegt und mit Bauch und Bogen verurteilt. Da es schon korrupte und unehrliche Wissenschaftler gegeben hat, werden alle der Unredlichkeit bezichtigt, und die Ergebnisse ihrer Forschungen sind damit wertlos oder sogar gefährlich, weil sie die Interessen von heimlichen Geldgebern vertreten, deren Ziel ganz offensichtlich in der Versklavung und Unterdrückung möglichst vieler Menschen liegt.

Die Umdeutung des Solidaritätsarguments

Das Solidaritätsargument wird dann umgemünzt: Die eigentlichen Beschützer der Menschen sind die, die die geheimen Machenschaften der Fädenzieher hinter den Kulissen aufdecken und ihren Praktiken aktiven Widerstand leisten. Der Kreis schließt sich, das Böse bleibt draußen und das Gute ist im Inneren konzentriert. Allerdings bewegen sich die Dinge im Außen nicht weiter, die Ansteckungszahlen und Todesfälle werden nicht weniger. Die Erklärungen aus dem Innenraum sind vorgeprägt. Schuld ist nicht die eigene Impf- oder Maskenverweigerung, sondern die Behörden, Politiker und Wissenschaftler, die laufend die Zahlen fälschen und fortgesetzt die Bevölkerung täuschen. 

Im geschlossenen Kreis gibt es keinen Außenhalt, der eine Korrekturmöglichkeit bieten würde. Das unterscheidet die Wissenschaften von solchen illusionsgetriebenen Konstruktionen: Es gibt immer eine Korrekturmöglichkeit vom Äußeren, also von der Wirklichkeit. Passt eine Theorie nicht mit der Wirklichkeit zusammen, wird die Theorie verändert, bis sie passt. Bei den innegeleiteten Konstruktionen geht es umgekehrt: Wenn Theorie und Wirklichkeit nicht zusammenpassen, wird die Interpretation der Wirklichkeit verändert, sodass die Theorie immer Recht hat. Die Akteure im Szenario sind vorbestimmt, ihre Rollen sind fix definiert (gut oder böse, je nachdem sie die Wirklichkeitskonstruktion bestätigen oder nicht) und jedes mögliche Ereignis hat schon eine Vorinterpretation mit Hilfe der von der Theorie festgelegten Argumente gefunden.

Die Ethik hat nur mehr eine Innenbedeutung. Es gibt keine Möglichkeit, zu überprüfen, ob die eigenen Werte und die daraus folgenden Handlungen in der Wirklichkeit Gutes bewirken, in diesem Fall also die Gesundheitssituation verbessern, weil der Wirklichkeit, also den Fallzahlen und den damit verbundenen Schicksalen, keine Korrekturfunktion zugemessen wird.

Aufwachen aus den Illusionen

Manche erwachen aus dem Illusionsgebäude, wenn sie das Virus erwischt hat und sie sich auf der Intensivstation wiederfinden. Bescheidenheit und Dankbarkeit entsteht in der Nähe des Todes und in der Abhängigkeit des eigenen Lebens von den Menschen, die Übermenschliches für die Rettung jedes Lebens leisten, ob es durch Impfung zum eigenen Schutz beigetragen hat oder nicht. Der Kampf gegen das Impfen findet dann manchmal sein natürliches Ende, weil die Erfahrung gezeigt hat, dass ein Stich weniger schrecklich ist als ein tagelanges Hängen an Schläuchen und Maschinen, von Ärzten und Pflegepersonal umgeben, das am Rand der Überlastung steht.

Manche Impfgegner konnten nach dem Besuch einer Covid-Intensivstation von ihrem Glauben ablassen. Manche hat das Leiden von nahestehenden Menschen oder deren Tod zum Frieden mit dem Impfen geführt; manche haben solche Erfahrungen noch mehr radikalisiert. Wir Menschen sind so verschieden, was die Verarbeitung unserer Erfahrungen anbetrifft. Wir sind aber darin nicht verschieden, dass wir im Grund alle das Beste für uns selbst, aber auch für alle anderen suchen. 

Deshalb ist es so wichtig, unsere Motive und Gründe für unser Tun und Nichttun immer wieder zu reflektieren und gerade dort, wo sich Kontroversen auftun, genau zu schauen, welche unbewussten Antriebe sich in unser Spüren und unser subjektives Rechthaben einmischen. Wir sollten achtsam darauf sein, wenn wir wider allen Widerspruchs an Meinungen und Überzeugungen festhalten, mit dem Gefühl, sie mit Zähnen und Klauen verteidigen zu müssen. Es könnte sein, dass wir uns an eine Einbildung, eine Illusion anklammern oder dass wir Opfer von Manipulation geworden sind. Zum Aufwachen ist es nie zu spät.

Zum Weiterlesen:
Impfen, Wissen und Wissenschaft


Donnerstag, 25. November 2021

Impfen, Wissen und Wissenschaft

Aus einer systemischen Sicht, die sich auf die systemisch operierenden Wissenschaften und auf die integrale Ethik bezieht, gibt es zwei Argumente für die Corona-Impfung. Erstens: Sie stellt mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Schutz vor schweren Verläufen dar und schränkt die Gefahr, Viren weiterzugeben, stark ein. Außerdem wird dadurch das Risiko vermindert, dass sich Mutationen bilden. Sie hat also einen subjektiven und einen sozialen Nutzen. Die Nebenwirkungen, die auftreten können, sind statistisch gesehen gering, und damit überwiegen die Vorteile bei weitem die Nachteile. Das ist die Botschaft der Wissenschaft – wenn auch nicht aller Wissenschaftler und Leute, die in diesem Feld publizieren. Ich beziehe mich in dieser Argumentation auf das Modell der Bewusstseinsevolution aus meinem Buch „Vom Mut zu wachsen“. 

Zweitens: Geimpfte tragen mehr zur Eindämmung der Pandemie bei als Ungeimpfte; sich nicht impfen zu lassen, trägt nichts zur Eindämmung bei, sondern fördert die weitere Verbreitung des Virus und verlängert die Krisensituation. Da die Pandemie weiterhin viel Leid und viele Todesfälle bewirkt, besteht die ethische Pflicht darin, das zu tun, was die Not wendet, und dazu gibt es nach allen vorliegenden Daten vor allem die Möglichkeit der Impfung. Ungeimpfte, die diesen Schritt nicht vollziehen, tragen damit eine höhere ethische Mitverantwortung für die Opfer der Pandemie als die, die sich trotz des Risikos von Nebenwirkungen impfen lassen. Mit jedem Tag, an dem sich jemand nicht impfen lässt, steigt die Mitverantwortung für das Weiterwachsen der Ansteckungen und der damit verbundenen Auswirkungen. (Ausgenommen sind natürlich jene wenigen, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen dürfen.) Auf dieses zweite Argument gehe ich in einem weiteren Artikel noch ein.

Wissenschaftliche Erkenntnis und Einzelbefunde

Auch wenn dieser Befund vielen nicht gefallen wird, müssen erst stichhaltige Gegenargumente gefunden werden. Das Wissenschaftsargument kann nicht mit Einzelerfahrungen ausgehebelt werden, nach dem Schema: “Ich kenne jemanden, der … hatte einen schweren Impfschaden oder der ist mit zwei Impfungen auf die Intensivstation gekommen.” Es gelten auch nicht Einzelmeinungen von selbsternannten Oberexperten, die sich als Wissenschaftler bezeichnen, während sie sich gegen “die” Wissenschaft stellen. Es sind Personen, die oft mit dem Habitus auftreten, “die” Wahrheit erkannt zu haben und damit die Blindheit der Masse – in den Wissenschaften, in den Medien und in der Gesellschaft – durchleuchten. Sie wollen alles besser gewusst haben und sind oft nicht einmal dialogfähig. 

Menschen, die solchen Propheten nachlaufen, haben offenbar den Charakter der Wissenschaft nicht verstanden. Sie besteht nicht aus einer Summe von Einzelmeinungen, hervorgebracht von fehlbaren Einzelpersonen, und erschafft ein Feld von widersprüchlichen Botschaften, aus dem sich jeder herauspicken kann, was gefällt oder die eigenen Vorurteile bestätigt. Vielmehr beruht die Wissenschaft auf Ergebnissen, die aus dem Zusammenwirken – je nach Themenbereichen – von dutzenden, hunderten und tausenden Forschern entstehen. Da die Corona-Frage zu den zentralen Themen der Gegenwart zählt, geht die in diesem Feld arbeitenden Forscher und Forscherinnen wohl in die Zehntausende. Die Ergebnisse dieser Arbeiten sind nicht beliebig wie das, was eine Einzelperson mit medialer Unterstützung als Wahrheit kundtut und als wissenschaftlich anpreist. Wissenschaftliche Ergebnisse werden laufend weiterevaluiert und nach dem Falsifizierungsprinzip weiterentwickelt. Wissenschaftler können nie von letztgültigen oder absoluten Wahrheiten reden; wenn sie das tun, reden sie nicht als Wissenschaftler. 

Die Selbstkritik in den Wissenschaften geht so weit, dass es schon lange die Disziplin der wissenschaftlichen Wissenschaftskritik gibt. Die Erkenntniskritik, die in der Philosophie beheimatet ist, sorgt für die Klärung der Grundlagen der Wissenschaften und ihrer Geltungsansprüche. Was die Erkenntnis der Wirklichkeit anbetrifft, haben wir keine bessere Vorgehensweise als die wissenschaftliche. Sie führt uns also am nächsten an die von den Subjekten unabhängige Wirklichkeit heran. Alle, die heute gegen die Wissenschaft wettern, tun das mit den Mitteln und auf Grundlagen, die die Wissenschaft entwickelt hat. Die aktuelle Wissenschaftsskepsis zumindest in den Medien beruht auf erfolgreichen wissenschaftlichen Forschungen. Und sie gründet auf den Errungenschaften der Aufklärung, die immer wieder zur Kritik und Überprüfung von herrschenden Meinungen auffordert.

Der Personalisierung der Wissenschaft 

Wir können die Wissenschaft und ihre Form der Wahrheitsfindung nur verstehen, wenn wir uns auf der systemischen Bewusstseinsstufe befinden. Solange wir wissenschaftliche Erkenntnisse personalisieren, also einzelnen Personen zurechnen, haben wir nicht voll verstanden, worum es in der Wissenschaft geht und wie sie funktioniert. Das Misstrauen in die Wissenschaft kommt aus dem Misstrauen gegenüber der Fehlerhaftigkeit von Personen. Wir wissen alle, dass Menschen fehleranfällig reagieren und manchmal von “niedrigen” Antrieben gesteuert und korrumpierbar sind. Das hat aber nichts mit der Wissenschaft zu tun, die ausgefeilte Mechanismen der Selbstreinigung enthält, durch die die individuelle Fehleranfälligkeit und Korrumpierbarkeit einzelner Forscher ausgeglichen wird. 

Aus systemischer Sicht haben Fehler eine andere Wertigkeit, sie gelten als Chance und Anlass für Verbesserungen. Aus personalistischer Sicht allerdings bedrohen die Fehler anderer Menschen die eigene Integrität und das eigene Weiterkommen. Fehler werden deshalb auf dieser Stufe moralisiert und Personen dafür angeklagt. Die Wissenschaftsskepsis, die oft mit der Impfverweigerung einhergeht, hat in der Fixierung auf die personalistische Sichtweise ihre Ursprünge, also auf der Weigerung oder Unfähigkeit, die eigene Sichtweise systemisch zu erweitern und zu differenzieren.  

Wird das personalistische Bewusstsein absolut gesetzt, also als der Weisheit letzter Schluss angesehen, so ist es möglich, die scientific community, also die weltweiten selbstkorrektiven Netzwerke der Forscher, in der eigenen Fantasie in eine Summe von Einzelpersonen aufzulösen. Dann fällt es leicht, die Wissenschaftler allesamt unter Generalverdacht zu stellen und sie als potenziell käuflich und den Mächtigen gegenüber willfährig darzustellen. Die eigene Korrumpierbarkeit wird auf den anonymen Bereich der Forschung projiziert, sodass die Ergebnisse, die aus diesem Bereich kommen, pauschal für wertlos oder sogar gefährlich erklärt werden können. 

Verschwörungstheorien und die Väter 

Geglaubt wird nur dort, wo positive Vaterprojektionen ihren Anker finden: Bei Figuren, die den trotzigen Widerstand gegen den Mainstream, gegen das Herdenbewusstsein, gegen die verbreitete Blindheit verkörpern: Menschen, die sich als Aufdecker der Machenschaften aller unredlichen und unanständigen Geister präsentieren, Helden, die scheinbar mutig gegen den Strom schwimmen und das Ruder dieser Welt, die auf Abgründe zusteuert, herumreißen. Das Strickmuster ist aus jedem James-Bond-Film und vielen anderen Blockbustern bekannt und vertraut. 

Oft paart sich die Wissenschaftsablehnung mit dem Glauben an verschwörerische dunkle Hintergrundgestalten, die die Geschicke der Menschheit in Händen halten und nach Belieben in die eine oder andere Richtung lenken. Auffällig dabei ist, dass es sich dabei immer um Männer handelt, aktuell z.B. George Soros oder Bill Gates. Auch bei den “Bilderbergern” sind m.W. nur Männer vertreten. Frauen sind mir in diesen Zusammenhängen nie aufgefallen.  

Wir haben es offensichtlich psychologisch mit der Dynamik zwischen dem guten Vater (dem Helden, der dem Guten gegen das Böse zum Durchbruch verhilft, zumindest kurzfristig, bis die nächste Folge der Serie kommt) und dem bösen Vater, der immer wieder für tödliche Bedrohungen sorgt. Der böse Vater muss umgebracht werden, nur so kann die Gefahr gebannt werden. Und dazu müssen wir den guten Vater stärken, also dem Helden folgen, der durch seine immensen Körperkräfte und seinen einzigartigen Durchblick die Erlösung aus jeder aussichtslosen Lage schaffen kann. 

In der Ausweglosigkeit, in der sich viele Menschen angesichts der Pandemie und der drohenden Impfpflicht sehen, bieten solche Projektionen eine willkommene Möglichkeit zur scheinbaren Klärung: Die Guten und die Bösen werden auseinandersortiert, die eigene Opferposition wird klar und die Retter müssen unterstützt werden. Es gibt wieder Handlungsoptionen, z.B. durch das Demonstrieren gegen die personalisierten oder die anonymen Täter, darunter der böse Vater-Staat.  

Möglicherweise sind also personalisierte Verschwörungstheorien eine Auswirkung der "vaterlosen Gesellschaft", eine Folge der Abwesenheit der Väter im eigenen Aufwachsen, woraus sich ein weites Spielfeld von positiven und negativen Projektionen öffnet. Dabei spielen die Angst vor dem Bösen und die Sehnsucht nach dem Gutem im Vater die treibende Rolle.  

Erst die Bewusstmachung dieser Dynamiken erlaubt es, die vermeintlichen Verschwörungen als Spiel der eigenen Fantasie aufzudecken und im eigenen Inneren zu entmachten. Der Blick auf die Realität wird wieder frei, Vorurteile können überprüft und Verschwörungsmythen entlarvt werden. 

Auch bei denen, die sich impfen lassen, können Projektionen eine Rolle spielen. Sie wollen z.B. dem guten Vater-Staat Folge leisten und brave Untertanen sein, indem sie vorbildlich die Vorschriften und Empfehlungen einhalten. Dann können sie den anderen, den “schlimmen Geschwistern”, den Spiegel vorhalten und sich über deren Ungehorsam empören. Solange solche Projektionen die tragende Rolle spielen, erinnern die entsprechenden Debatten an Sandkistenrivalitäten. Jeder zeigt mit dem mahnenden und besserwisserischen Zeigefinger auf den anderen, um ihn anzuschwärzen oder auszurichten. 

Von Projektionen befreien

Menschen sind immer von unterschiedlichen und oft widerstrebenden Motiven beherrscht. Viele von ihnen sind unbewusst. Viele von ihnen stammen aus der eigenen Lebensgeschichte und deren frühen Prägungen. Viele werden durch Einflüsse von anderen Menschen und über Medien erzeugt oder verstärkt. Das Thema der Corona-Impfung hat aus verschiedenen Gründen eine massive emotionale Rolle im Innenleben vieler Menschen bekommen, sodass sich ganze Parteien bilden, die sich nur diesem Anliegen widmen. Wir kommen als Einzelne und als Gesellschaft nur weiter, wenn wir möglichst viel Licht und Bewusstheit in diese Motive bringen und ihre Wurzeln und Quellen erforschen. Dann können wir besser unsere Wirklichkeitssicht weiten und unsere Verantwortung für uns und für die Gesellschaft wahrnehmen. Dann können wir umfassender zu unseren Entscheidungen stehen.

Zum Weiterlesen:
Aufklärung in Zeiten einer Pandemie
Von der Angst zur Ethik
Die Ursprünge der Opferrolle
Krisenängste und ihr Jenseits


Samstag, 13. November 2021

Positive Affirmationen und ihre Grenzen

Positive Affirmationen werden schon lange als Mittel zur Selbstverbesserung genutzt. Schon Émile Coué, ein französischer Apotheker (1857-1926) hat die Möglichkeiten der Autosuggestion für die Heilung von Krankheiten und anderen Störungen erkannt. Er predigte den Satz: „Es geht mir mit jedem Tag in jeder Hinsicht immer besser und besser!“ Dieser soll täglich nach dem Aufwachen und vor dem Einschlafen halblaut gesagt werden, damit er über den Gehörssinn vom Unterbewusstsein aufgenommen werden kann.

1926 stellte der deutsche Arzt Johannes Heinrich Schultz die Methode des Autogenen Trainings vor, die auf positiven Autosuggestionen beruht. Sein Anliegen war es, die Erfolge der Behandlung durch Hypnose im Selbstbezug nutzen zu können, ohne dass also ein Hypnotiseur notwendig ist. Die Beeinflussung des vegetativen Nervensystems durch das innere Wiederholen von “Formeln”, also positiven, in der Gegenwartsform gestalteten Sätzen verändert die angesprochenen Bereiche im Körper. Z.B. fördert die Formel “Die rechte Hand ist ganz warm” die Durchblutung in dieser Hand. Es weiten sich die Blutgefäße und ein Wärmegefühl entsteht. Das Autogene Training liefert also den Beweis, dass wir durch unser Denken unbewusst ablaufende Vorgänge lenken können. Die Kombination aus Affirmationen und innerer Konzentration hat sich als effektiver Weg erwiesen, die willentliche Selbststeuerung auf das Nervensystem auszuweiten. Von dort geht der Weg weiter zur Stärkung der Psyche mittels positiver Sätze.

In einer Studie aus dem Jahr 2015 konnte mit Hilfe der Magnetresonanz-Tomografie die Aktivierung des Belohnungszentrums und der Areale für die Selbstreflexion durch positive Affirmationen nachgewiesen werden. Eine weitere Studie hat ergeben, dass Affirmationen helfen, schwierige Aufgabenstellungen unter Stress zu schaffen.

Positives Denken kann krank machen

Allerdings gibt es auch Gründe, die Arbeit mit positiven Affirmationen nicht in den Himmel zu heben und als Kur für jedes Leiden anzupreisen. Der Nutzen für viele Menschen und für viele Problembereiche ist unbestritten, übersehen werden darf dennoch nicht, dass diese Methode auch Schaden zufügen kann. Z.B. bewirkt das Affirmieren bei Personen mit Angststörungen, starken Selbstzweifeln oder Zwangsstörungen zusätzlichen Stress. Auch Depressive, die mit vielen negativen Gedanken kämpfen, können nicht einfach auf Anordnung ihre Gedanken schönfärben, sondern fühlen sich noch schlechter, wenn ihnen erklärt wird, dass sie ihre Misere mit ihren Gedanken erzeugen.

Manche Menschen erleichtert es, wenn sie jammern und klagen. Der deutsche Psychotherapeut Günter Scheich hat ein Buch mit dem Titel „Positives Denken macht krank. Vom Schwindel mit gefährlichen Erfolgsversprechen“ (Eichborn-Verlag 2001) verfasst. Er weist darauf hin, dass negative Gedanken ebenso wichtig für die innere Entwicklung sind wie positive. Denn sie machen auf Grenzen aufmerksam und helfen, mit den eigenen Schwächen umzugehen.

Die Auseinandersetzung mit Krisen und Missgeschicken erfordert mehr als die kognitive Neuorientierung, die durch positives Denken und Affirmationen erreicht wird. Das Leben wird nicht dadurch besser, dass wir bessere Gedanken in uns kultivieren, sondern dadurch, dass wir uns konstruktiv mit den inneren und äußeren Hindernissen beschäftigen, die einer Verbesserung im Weg stehen.

Die Gedanken können dabei eine hilfreiche Rolle spielen, nämlich dann, wenn wir sie uns bewusst machen und dann auswählen, welche Gedanken wir vermehren und welche wir vermindern wollen. Aber sie enthalten keine übermenschlichen Zauberkräfte, mit denen wir die Welt zu unserem Belieben und nach unseren Wünschen verändern können.

Manche Menschen überschätzen die Macht der Gedanken derart, dass sie sich selber mit Gedankenkontrolle terrorisieren. Jeder negative Gedanke könnte dann gleich die Wurzel für Misserfolge und Katastrophen sein, an denen man dann selber schuld ist. Es gilt, beständig das eigene Denken zu überwachen, dass ja kein negativer Gedanke auftaucht.

Woher kommen die Gedanken?

Nun können wir zwar Gedanken verändern, die wir schon gedacht haben, aber wir können das Entstehen der Gedanken nicht beeinflussen. Gedanken tauchen aus dem Unterbewussten oder Vorbewussten auf, ohne unsere willentliche Zustimmung. Wir verfügen über keine Möglichkeit, vorab zu zensurieren, welche Gedanken kommen und welche nicht. Die Angst vor den negativen Gedanken erzeugt mehr Stress als die Gedanken selbst. Wir können uns quälen, wie wir wollen, und wir werden es nicht schaffen, die Gedankenentstehung zu kontrollieren. Das Einzige, das wir üben können, ist die nachträgliche willentliche Gestaltung des Denkens: Ich will A denken und nicht B. Ich beende den negativen Gedanken A und konzentriere mich auf den positiven Gedanken B. Das wird das innere Stimmungsbild erhellen.

Mit Verantwortung überladen

Die Überladung mit Verantwortung ist eine weitere Last, die aus der Überschätzung des positiven Denkens folgt. Manche Schulen lehren die Notwendigkeit einer rigiden Kontrolle des Denkens zum Zweck der Erreichung von persönlichen Zielen. Wenn unser Denken nicht nur die innere Wirklichkeit prägt, sondern auch die äußere Realität maßgeblich beeinflussen sollte, dann hängt unser Innen- wie unser Außenleben von der Qualität unserer Gedanken ab und jeder Fehler, sprich jeder negative Gedanke hat dann weitreichende Folgen auf unser Leben. Alles, was uns passiert und uns nicht passt, ist dann durch unsere fehlerhafte Denkkultur bewirkt. Wir fühlen uns dann an allem schuld, was schief geht, weil wir meinen, zu wenig positiv gedacht zu haben. Wenn wir diese Einstellung haben, so lastet von früh bis spät der Verantwortungsdruck auf uns, unsere Gedanken überwachen zu müssen, anders kann nichts gelingen.

Es ist wie mit der Körperpflege: Ein gutes Maß an Hygiene ist notwendig, aber dort, wo die Sauberkeit zwanghaft wird, entstehen mehr Probleme als Lösungen. Das Denken hat Auswirkungen auf unsere Innenwelt und der Zustand im Inneren hat Auswirkungen auf die Außenwelt. Wir wirken und handeln anders, wenn wir uns gut fühlen als wenn es uns miserabel geht. Was wir gerade denken, spielt dabei mit, aber es spielt nicht die Hauptrolle. Es hilft uns nicht weiter, wenn wir ihm diese Rolle geben. Damit setzen wir uns selbst nur unter übermäßigen Druck, der wieder die Wahrscheinlichkeit für negative Gedanken stärkt.

Denken und Fühlen

Wirkliche Hilfe finden wir, wenn wir an die Wurzeln unserer Tendenzen, negativ zu denken, gehen. Es sind Gefühle der Verletzung und Beschämung, Erfahrung der Angst und Unsicherheit, die unser Unbewusstes dazu verleiten, negative Gedanken aufsteigen zu lassen. Gefühle gibt es lange vor Gedanken in unserem Leben. Sie werden immer wieder negative Gedanken hervorrufen, solange sie nicht befriedet sind. Wenn wir einzig an der Ebene der Gedanken herumfeilen, betrieben wir nichts als eine Oberflächenveränderung. Erst die Arbeit, die in die Tiefe der Gefühle eintaucht, legt die Basis für den inneren Frieden und die Gelassenheit. In diesem Zustand kommen keine negativen Gedanken und brauchen wir keine Affirmationen, weil alles da ist, was wir brauchen.

Zum Weiterlesen:
Die soziale Wirkung negativer Glaubenssätze

Dienstag, 2. November 2021

Glaubenssätze und Scham

Als negative Glaubenssätze gelten Wortgebilde, die eine Verleugnung, Verkleinerung oder Abwertung des eigenen Selbst und der eigenen Würde enthalten. Solche Sätze sind immer mit Scham durchtränkt, denn die Schmälerung des Selbstwertes ist immer mit Scham verbunden. Die Scham ist die Wächterin der Würde und meldet sich immer, wenn unsere Integrität in Frage gestellt wird. Sie achtet im Normalfall darauf, dass unser Selbstwert in Balance bleibt. 

Allerdings kann sie selber aus der Balance geraten, als Folge von erlittenen und nicht verarbeiteten Demütigungen und Beschämungen im Lauf der Lebensgeschichte. Jede dieser Erfahrungen bildet eine schambesetzte Erinnerung im bewussten oder unbewussten Gedächtnis. Die Scham wird giftig, weil sie sich verdoppelt: Eine Beschämung erlitten zu haben, ist selber beschämend.

Die toxische Scham kann den Selbstwert nicht mehr stärken, sondern untergräbt ihn. Sie wird zur Quelle von Glaubenssätzen, mit denen auf der unbewussten Ebene das Selbst geschwächt und die Schambelastung aufrechterhalten wird. In diesen Fällen wirken diese Sätze wie Katalysatoren der Selbstsabotage, indem sie dazu beitragen, dass der verletzte Selbstwert in allen sozialen Zusammenhängen bestätigt und die Verletzung dadurch verfestigt und vertieft wird, wie im vorigen Blogartikel dargestellt.

Glaubenssätze bewusst machen

Wie werden wir dieses Konglomerat aus schwelenden Schamgefühlen und quälenden Gedankenmustern los?

Ein Weg besteht darin, die Glaubenssätze ins Bewusstsein zu heben. Dann meldet sich die Scham in ihrer ursprünglichen Rolle als Regulatorin des Selbstwertes zurück, aber betätigt sich auch als Verstärkerin der Selbstabwertung. Es wird bewusst, dass im eigenen Inneren eine Macht gegen die eigenen Intentionen und Werte arbeitet, die im Leben schon viele Chancen ruiniert und Fehler verursacht hat. Da stellt sich die sekundäre Scham ein, weil deutlich wird, was man selbst alles vermasselt hat und wie es besser hätte laufen können, wenn der Glaubenssatz schon früher erkannt worden wäre. 

Was-wäre-wenn-Spiralen

Wiederum schießt die Scham hier erst recht wieder übers Ziel, denn hier wird eine der typischen Schamspiralen entfesselt, die mit dem Was-wäre-wenn-Gedankenspiel einhergeht. Das Spiel besteht darin, sich für ein Ereignis in der Vergangenheit selbst zu verurteilen und die Schwere des Fehlers dadurch zu verstärken, dass die wünschenswerte Alternative, das Ereignis ohne den eigenen Fehler, herbei fantasiert wird. Hätte ich doch rechtzeitig gebremst, hätte das Auto nicht die Leitplanke geschrammt. Wäre ich rechtzeitig nach Hause gekommen, hätte ich mir die Szene mit meiner Frau erspart. Hätte ich das richtige Kapitel gelernt, hätte ich die Prüfung geschafft. 

Für jede Erfahrung unseres Lebens, die nicht mit unseren Wünschen und Vorstellungen übereinstimmt, hat unser Denken eine geglückte Alternative im Angebot, allerdings nur im Reich der Fantasie. Es ist in der Lage, ein makelloses und perfektes Leben zu imaginieren und der Vergangenheit überzustülpen, so als hätte es niemals Fehlhandlungen und Versagensmomente gegeben. Es handelt sich dabei allerdings nur um ein konjunktivisches Leben und um kein reales. Es sind nichts als Denkkonstrukte, die der Gefühlsabwehr dienen. In der Möglichkeitszone herrscht die Scham weiter, die hadernden Selbstanklagen als Ausdruck der darunterliegenden Glaubenssätze gehen weiter und versetzen uns unweigerlich in eine dunkle Missstimmung.

Verantwortung für die Vergangenheit

Was geschehen ist, ist geschehen. Die Scham gilt dem, was nicht unseren eigenen Vorstellungen entsprochen hat, wo wir von unserem Pfad abgewichen sind, wo wir unseren Idealen nicht gefolgt sind. Eigentlich will sie uns aufzeigen, dass wir verstanden haben, dass wir einen Fehler gemacht haben. Denn mit dem Zeigen der Scham wird das Signal der Einsicht in die eigene Fehlerhaftigkeit ausgeschickt, mit dem Ersuchen, dafür von den Mitmenschen Verständnis zu bekommen: „Ich habe einen Blödsinn gebaut, verzeiht mir bitte.“ Der Schritt, die Scham öffentlich zu machen, erfordert Mut, und gelingt nur, wenn genügend Vertrauen in die Umgebung besteht. 

Selbstvergebung und Verantwortungsübernahme

Oft aber gibt es gar niemanden mehr, dem wir den Fehltritt offenbaren können und um Verzeihung bitten sollten, weil die Ereignisse schon lange vorbei sind, obwohl sie weiterhin das Denken beschäftigen. Wir selbst sind die Instanz, von der das Vergeben kommen muss. Auch in diesen Fällen braucht es eine bewusste Selbstoffenbarung und Selbstäußerung, das Eingestehen der Unzukömmlichkeiten und der damit verbundenen Schambelastung, vor einem selbst oder vor unbeteiligten empathischen Menschen. Denn solange die aus der Vergangenheit gespeiste  Scham im Inneren bleibt, arbeitet sie gegen das Selbst. Die an die eigene Vergangenheit gerichteten Vorwürfe und Infragestellungen fügen jedes Mal eine neue Schamschicht hinzu und bekräftigen die entsprechenden Glaubenssätze. Erst wenn wir erkennen, dass wir unsere Vergangenheit nicht verändern können und dass es an uns liegt, uns unsere Fehler zu verzeihen, löst sich der Bann der selbstauferlegten Scham und der mit ihr verwobenen Glaubenssätze. Wir kommen in Frieden mit unserer Unvollkommenheit.

Es geht also darum, die Verantwortung für das eigene Leben und für jede Szene der Vergangenheit, für alle Erfolge und Misserfolge, Errungenschaften und Fehler zu übernehmen. Fehlleistungen, die mit Verantwortung getragen und verstanden werden, verwandeln sich zu exzellenten Lernchancen. Was wir bewusst zu uns nehmen, wird sich in dieser Form nie mehr wiederholen. Vielmehr wachsen wir durch das Akzeptieren der Fehler und durch die Integration der damit verbundenen Lektionen. Jedes Lernen ersetzt die sinnlosen „Hätte-ich-doch-wäre-ich-doch“-Schleifen im Denken und erschafft neue Realitäten für ein konstruktives Leben.

Schritt für Schritt entmachten wir auf diese Weise die giftige Scham und die damit eingeprägten negativen Glaubenssätze. Die Selbstakzeptanz tilgt die Scham und die Selbststärkung löscht die Glaubenssätze. Deren Ursprünge liegen in einer Vergangenheit, die nicht mehr zu unserer Disposition steht. Francis Bacon hat geschrieben: „Was geschehen ist, ist vorbei und unwiederbringlich, und der Weise hat genug zu tun mit gegenwärtigen und zukünftigen Dingen.“

Zum Weiterlesen:

Samstag, 30. Oktober 2021

Die soziale Wirkung negativer Glaubenssätze

Negative Glaubenssätze prägen das Innenleben und die Außendarstellung, also das Erscheinungsbild, das wir nach außen hin abgeben. Wir nehmen eine andere Körperhaltung ein, wenn wir unter dem Einfluss eines selbstabwertenden Glaubenssatzes stehen. Die Augen schauen anders drein. Unsere Atmung und unser Herzschlag verändern sich. Vermutlich senden wir andere Duftstoffe aus. Wir stehen unter Stress und wirken beunruhigend auf andere, auf die sich der Stress überträgt, ohne dass sie es merken. Diese Außenwirkungen werden auf der unbewussten Ebene kommuniziert.

Der unbewusste Kommunikationskanal ist für das Phänomen verantwortlich, dass unsere Umgebung uns die Glaubenssätze zurückspiegelt. In diesen Fällen bekommen wir durch das Verhalten unserer Mitmenschen die Botschaft, dass es mit unseren Glaubenssätzen, also mit den selbstverleugnenden Annahmen über uns selbst, seine Richtigkeit hat. Wir erhalten die Bestätigung für unsere negative Selbsteinschätzung.

Wir haben diese Sätze in unseren frühen Lebensphasen gebildet, wie im vorigen Blogartikel beschrieben. Die Ausgangspunkte waren die Beobachtung des Verhaltens der Erwachsenen, unsere emotionalen Reaktionen auf dieses Verhalten und die Anpassung an die Botschaften der Eltern. Emotional wirksame Glaubenssätze sind also immer Resultate aus frühen kommunikativen Erfahrungen. Sie bilden dann eine Art Grundgerüst für das entstehende Selbstkonzept.

Selbstkonzept und soziale Rückkoppelung

Dieses Selbstkonzept wird zur Basis der eigenen Identität, selbst wenn es selbstschädigende Element enthält. Unser Verhalten wird vom Unbewussten so gelenkt, dass es die Bestätigung dieser Identität wahrscheinlicher macht. Deshalb kommt es zu selbstsabotierenden Handlungen, die scheinbar widersinnig sind, weil sie den bewussten Intentionen entgegenwirken. Jemand will beim Personalchef eine Gehaltserhöhung erreichen und kommt zum Termin zu spät, weil er sich mit einer attraktiven Kollegin verplaudert. Der Personalchef zweifelt an der Pünktlichkeit und Verlässlichkeit des Mitarbeiters, ist verärgert und verschiebt die Gehaltserhöhung. Die im Unbewussten gespeicherte Botschaft: „Ich bin nicht gut genug“ hat ihre Wirkung getan und für die Bestätigung gesorgt, indem sie das Einhalten des Termins sabotiert hat.

Unser Unbewusstes sendet fortwährend Botschaften aus, die im Unbewussten unserer Mitmenschen ankommen und die dann aus ihrem Unbewussten darauf reagieren. Lautet diese Botschaft z.B. „Ich bin nicht liebenswert“, so wird in den anderen Personen die entsprechende Reaktion angeregt. Sie finden die Person z.B. nicht sympathisch oder interessant und gehen ihr aus dem Weg. Aus diesem Verhalten liest das Unbewusste die Bestätigung der Annahme, nicht liebenswert zu sein.

Musterbestätigung und Heilungsversuche

Manchmal wundern wir uns, wieso wir es immer wieder mit Menschen zu tun haben, die uns regelmäßig auf die Palme bringen können – Freunde, Beziehungspartner, Kollegen, Vorgesetzte. Was uns so leicht irritiert und verärgert,  hängt mit den Glaubenssätzen zusammen, die wir in uns tragen. Unser Unbewusstes sucht die Bestätigung für diese Annahmen über uns selbst und lädt gewissermaßen unsere Umgebung dazu ein, uns diese Bestätigung zu geben. Wenn wir von uns glauben, dass wir tollpatschig sind, dann braucht es uns nicht zu wundern, wenn wir Leute um uns haben, die uns wegen jeder Unbeholfenheit oder Ungeschicklichkeit kritisieren. Wir verhalten uns in schwachen Momenten genau so, dass wir die exakt passenden Rückmeldungen bekommen, die in die Kerbe unserer inneren Selbstabwertungswunde schlagen und sie wieder aufreißen.

Unser Unbewusstes sucht Verbündete für seine Muster und knüpft Verbindungen zu anderen Menschen, die uns sympathisch erscheinen, weil sie ein ähnliches oder ein diametral entgegengesetztes selbstabwertendes Muster in sich tragen. Der Volksmund kennt beide Richtungen: Gleich und Gleich gesellt sich gerne, und das scheinbare Gegenteil: Gegensätze ziehen sich an. Was die beiden Richtungen verbindet, ist das Thema, das von einem unbewussten Glaubenssatz vorgegeben wird. Im einen Fall suchen wir gleichbetroffene Opfer, die uns im Opferstatus bestätigen. Im anderen Fall trachten wir nach einer Stellvertretung für die Täterperson, von der wir unbewusst erhoffen, diesmal nicht zum Opfer gemacht zu werden. Wir wünschen uns gerade besonders sehnlich, von denjenigen Menschen verstanden und akzeptiert zu werden, denen das am schwersten fällt – wiederum die Wiederholung von Kindheitserfahrungen.

Das Unbewusste sucht also auch Kontakt zu Menschen, die aufgrund der eigenen Prägung intuitiv spüren können, wo unsere eigenen Schwachstellen liegen, und die dann genau mit ihren Reaktionen dorthin zielen und uns in der Tiefe zu treffen vermögen. Es gibt die Erwartung nicht auf, dass es diesmal besser werden könnte und endlich kommt, was in der Kindheit so schmerzlich offen geblieben ist.

Manchmal suchen Menschen in ihren Beziehungen einmal die eine Variante und einmal die andere und oszillieren zwischen beiden Polen. Unzufrieden mit zu viel Gleichklang in der Verletztheit, also im Opferstatus, gehen sie zu jemanden, der das entgegengesetzte Muster in sich trägt und den Täter repräsentiert. Er soll endlich von der Last befreien und den Fluch aufheben, der im negativen Glaubenssatz beschlossen ist. Da hier aber trotz aller Anstrengungen das erhoffte Verständnis nicht kommt, wird wieder die erste Variante gewählt. Der Wechsel zwischen Sicherheit und Abenteuer ist das äußere Merkmal dieser Beziehungsdramaturgie. Das Unbewusste führt die Regie, solange, bis die unbewusst wirkenden Glaubenssätze gehört und verstanden werden und die Wurzelverletzungen geheilt sind.

Zum Weiterlesen:
Die Macht der Glaubenssätze
Glaubenssätze und Scham
Gefühle machen Gedanken machen Gefühle

Donnerstag, 28. Oktober 2021

Die Macht von Glaubenssätzen

In der Psychologie und Psychotherapie sprechen wir immer wieder von Glaubenssätzen (englisch: beliefs). Damit sind prägende Sätze gemeint, die einen hindernden, einschränkenden und selbstabwertenden Charakter haben. Sie wurzeln tief in der Psyche und können eine starke Macht im Innenleben gewinnen. Sie sind an praktisch allen Störungen und Erkrankungen, die wir aus dem psychischen Bereich kennen, beteiligt und liegen deren kognitiven Teil zugrunde. 

Zum Beispiel mischen sich bei Depressionen oft Glaubenssätze ein: Der niedrige, gelähmte Energiezustand führt zu Misserfolgen und Handlungsvermeidungen. Sogleich treten Selbervorwürfe auf, die wiederum das Selbstgefühl niederdrücken, zu weiteren Vermeidungen führen, die in der Folge die Selbstvorwürfe intensivieren. Diese Kreisläufe werden maßgeblich von den Glaubenssätzen, z.B. „Ich bin nicht wertvoll“ oder „Ich bin unfähig“ beeinflusst. Diese Sätze führen im Hintergrund Regie, ohne dass sie bewusst werden.

Die Glaubenssätze, von denen wir hier sprechen, sind älter als das Denken, für das wir höhere Gehirnfunktionen benötigen. Wie ist das zu verstehen? Frühe verstörende, verletzende und traumatisierende Erfahrungen führen zu starken körperlichen Reaktionen, zu denen schon bald im Lauf der Entwicklungen Gefühle oder Vorformen von Gefühlen kommen. Glaubenssätze sind dann die sprachliche Form dieser Gefühlserfahrungen, die im Unterbewusstsein abgespeichert sind.

Wir sprechen in Analogie zur Computerwelt auch von Programmierungen. Die Analogie passt insofern, als diese Sätze ihre Wirkung im Hintergrund entfalten, sich in alle Abläufe einmischen können und viele Handlungen steuern. Sind diese Hintergrundprogrammierungen defekt, ist das gesamte System arbeitsunfähig.

Die Macht der Glaubenssätze

Wie können Sätze eine derartige Macht über uns ausüben? Es sind ja nur Worte, die wir oft nicht einmal bewusst hören, die zwar irgendwo im Unterbewussten wabern, aber auch dort bleiben könnten. Es sind aber tatsächlich nicht die Worte, die so mächtig sind, sondern die Gefühle und Gefühlsmuster, die durch die Worte ausgelöst oder ausgedrückt werden. Die Sätze sind Stellvertreter für emotionale Erfahrungen, die sich im Lauf der Seelenentwicklung aufbauen und einprägen. Sie fassen zusammen, was es an Verletzungen und Traumatisierungen in der eigenen Geschichte gegeben hat. Sie können ihre Ursprünge bei unseren ganz ersten Erfahrungen haben.

Ein Beispiel: Ein Kind, das empfangen wird, aber für die Eltern zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt kommt oder in denkbar ungünstige Umstände hineingerät, nimmt den Stress der Eltern mit der Botschaft auf, nicht willkommen zu sein. Der Glaubenssatz ist dann also: „Ich bin nicht gewollt“ oder „Ich bin nicht willkommen“.

Wir wissen allerdings, dass menschliche Wesen nach der Geburt ein bis zwei Jahre brauchen, um überhaupt Sätze formulieren und ausdrücken zu können. Das Sprachzentrum im Gehirn ist erst ab einem bestimmten Reifegrad in der Lage, Worte in einen grammatikalischen Zusammenhang zu bringen. Das Worterlernen ist schon ein erster wichtiger Schritt zum Erwerb der Sprachkompetenz; das Bilden von Sätzen erfordert den Sprung auf ein höheres Komplexitätsniveau. Wie soll das aber gehen, wenn Sätze schon am Anfang des Lebens, also noch lange bevor es ein Sprachzentrum gibt, gebildet werden, noch dazu solche, die dann eine lebenslängliche Wirkung haben sollen?

Die organischen Ursprünge von Glaubenssätzen

Dazu schlage ich ein Modell vor, das diese Zusammenhänge erklären kann. Die erste Annahme, die wir dazu treffen müssen, besagt, dass Zellen über ein Gedächtnis verfügen, das vor allem Gefahrenquellen abspeichern kann, um vor künftigen Bedrohungen zu schützen. Lebewesen brauchen einen Angstspeicher, der ihnen hilft, unter wechselnden äußeren Umständen überleben zu können. Selbst wenn Einzelzellen oder einfache Zellverbände kein Gehirn mit Bereichen haben, die auf Angst spezialisiert sind, kennen sie die Emotion in einer Vorform, die dann später als Angst erlebt wird. Die einfachen Emotionen, die wir als Erwachsene kennen, haben also urtümlichere Vorfahren, Proto-Gefühle, mit denen Außen- und Innenerfahrungen koordiniert werden. Mit zunehmender Reifung entwickelt sich das Bewusstsein, durch das Gefühle dann als Gefühle erfahrbar werden.

Sprache und Gefühle 

Gehen wir eine Komplexitätsstufe weiter nach oben, kommen wir zur Sprache. Sie baut auf den Gefühlen auf und nutzt deren Struktur, um daraus die Grammatik zu bilden. Die Sprache gibt also die abstrahierte Gefühlslandschaft wieder und bildet deren Dynamik ab. Glaubenssätze sind dann nichts anderes als die abstrakten Abbilder von Gefühlserfahrungen, die sie auf den Punkt bringen und zusammenfassen. Stellen wir uns vor, ein winziger Organismus erlebt eine fortdauernde Verunsicherung, weil er sich in einer bedrohlichen Umgebung befindet, z.B. im Mutterleib einer drogenabhängigen oder alkoholsüchtigen Mutter.  Diese andauernd wirksame Angst  findet im Glaubenssatz: „Ich bin ohnmächtig und ausgeliefert“ ihren Niederschlag. Die subjektbezogene Umkehrung, in die die Urscham einfließt, lautet: „Ich bin nicht willkommen, ich bin nicht liebenswert, ich sollte besser nicht existieren.“ 

In dem frühen Stadium der Bildung des Glaubenssatzes besteht er natürlich noch nicht in der sprachlichen Form und ist auch als solcher nicht bewusst. Aber er ist gewissermaßen im Kern angelegt, sodass er, sobald die Sprache zur Verfügung steht, in diese Form gekleidet werden kann. Meist bleibt er dennoch unbewusst und äußert sich versteckt in anderen Botschaften, die im Leben als Unzufriedenheit, Niedergeschlagenheit oder anderen Missstimmungen ausgedrückt werden. 

Die unbewussten Glaubenssätze üben eine Schutzfunktion aus. Sie sollen verhindern, dass die seelischen Bereiche, in denen die traumatischen Erinnerungen gespeichert sind, geöffnet werden. Denn die Befürchtung ist berechtigt, dass ein unbeabsichtigtes Eindringen in diese Räume zu einer massiven Überflutung und Überforderung mit schmerz- und grauenhaften Gefühlen führen würde. Also sorgen die negativen, selbstabwertenden kognitiven Strukturen dafür, dass sich die betroffene Person zwar permanent schlecht fühlt, sich aber auch an diese Gefühlslage soweit gewöhnt, dass sie nichts mehr daran ändern will. 

Die Sprache wirkt zurück auf die Gefühle. Indem sie sie benennt, können sie leichter reguliert werden, aber es kommt auch dazu, dass sie über gedankliche Vorgänge schneller und vielfältiger aktiviert werden. Denn die entsprechenden Worte, aber auch die sprachlich in Sätzen formulierten Gedanken können entsprechende Gefühle hervorrufen: Wir denken an etwas, das wir vergessen haben könnten, und es treten Angstgefühle auf. 

Auf diese Weise bilden sich Rückkoppelungseffekte und Verstärkerkreise: Gedanken verstärken Gefühle, die wiederum Gedanken verstärken, usw. Die unheilvollen und qualvollen Auswirkungen solcher negativer Selbstbestätigungen kennen alle Grübler und viele Depressive oder Menschen mit Zwängen.

Die Entmachtung der negativen Glaubenssätze

Glaubenssätze sind also Symptome und nicht Ursachen für Verstörungen und Irritationen im Selbstkontakt und in der Selbstannahme. Die Ursprünge liegen in traumatischen Erfahrungen, vor allem in dysfunktionalen Entwicklungsbedingungen und unsicheren Bindungen in den Anfängen des Lebens. Wenn wir die unbewussten Glaubenssätze bewusst machen, – und oft bedarf es dazu fachkundiger Begleitung –, können wir ihre Herkunft identifizieren. Die eigentliche Heilarbeit muss an diesen Wurzeln ansetzen. 

Ein zusätzlicher ressourcenstärkender Teil der Arbeit besteht darin, dass die Glaubenssätze entmachtet werden, indem sie zunächst in ihrer Natur als Gedanken erkannt werden. Gedanken können sehr mächtig sein, sie haben aber eine „Schwäche“, sie können, sobald sie bewusst sind, umgedacht werden. Sie können also mit Hilfe des Bewusstseins in ihr Gegenteil verkehrt werden. Aus: „Ich bin nicht willkommen“ wird einfach: „Ich bin willkommen.“ 

Gedanken sind also nur dadurch machtvoll, dass sie unkontrolliert aus dem Unterbewusstsein hochsteigen und dabei auf die Gefühlslandschaft einwirken. Sie können nachträglich aber relativ leicht in die Schranken gewiesen werden, indem sie mit bewusster Achtsamkeit beendet und durch andere oder gegenteilige Gedanken ersetzt werden.

Umbau des Gehirns

Dieses Gedankentraining verhilft dazu, dass die negative Selbstbeziehung, die die Folge von frühen Störungen darstellt, auf der obersten Ebene durch eine bewusste Denkanstrengung in eine positive Selbstbeziehung umgewandelt wird. Die Einprägungen im Gehirn, also die Nervenbahnen und synaptischen Verbindungen, die durch die Glaubenssätze ausgebildet wurden, werden abgeschwächt, indem ihr Gegenteil eingeprägt wird. Darin besteht die Kraft der Arbeit mit Affirmationen. Sie helfen, das Gehirn umzustrukturieren. Sie erleichtern den Zutritt zu den frühen emotionalen Wunden. So wird es leichter, sie zu bearbeiten. 

Wenn die zentral wirksamen Glaubenssätze einmal bewusst geworden sind, können sie in ihren Auswirkungen auf das eigene Leben wahrgenommen und dort mit der entsprechenden Bewusstheit unschädlich gemacht werden. Immer wenn sie sich in die Abläufe einmischen wollen und dabei ertappt werden, kann das positive Gegenteil des negativen Satzes als Hilfsmittel herangezogen werden und im Inneren wiederholt werden. So festigt sich eine neue Gewohnheit, sich selber auf der kognitiven Ebene wertzuschätzen und zu achten. Von dieser Ebene sinkt dann langsam das neue Selbstgefühl in die tieferen Schichten der Seele.

Die Affirmation der Geburtsrechte

Die positiven Glaubenssätze bekräftigen die Geburtsrechte, d.h. die Ansprüche an das Menschsein, die die Grundlage jedes Menschenlebens und jeder menschlichen Gemeinschaft bilden. Sie spiegeln das Wesen des Menschen wider, seine Würde und die Achtung für die Besonderheit. Sie stammen aus der Stimme des Lebens zu uns selbst, des Lebens, das genau dieses Menschenleben so wollte, wie es ist und es in jedem Moment in seinem Sein und Wachsen unterstützt. 

Affirmationen sind bejahende Selbstbekräftigungen, die unsere Wesensnatur und unsere heile Selbstbeziehung ausdrücken. Sie bestärken unseren angemessenen Platz in der Gesellschaft und die gleichrangigen Beziehungen zu unseren Mitmenschen. Sie tragen zu unserem Wohlbefinden und zu unserer Lebensfreude bei.

Sie sind kein Hokuspokus, sondern Botschaften, die wir an uns selbst und an die verängstigten und verletzten Teile von uns richten. Wir beziehen uns fürsorglich und unterstützend auf uns selber. Auf Grund unserer Traumageschichte haben wir vergessen, wer wir wirklich sind und was uns im Wesen ausmacht. Mit positiven Glaubenssätzen holen wir uns unsere Würde und unsere Lebensrechte zurück.

Zum Weiterlesen:

Die soziale Wirkung negativer Glaubenssätze
Glaubenssätze und Scham
Gefühle machen Gedanken machen Gefühle
Beklagen - Selbsterzeugte Gehirnwäsche
Über die Pflicht zum Optimismus
Autarkie und Scham


Sonntag, 24. Oktober 2021

Die Revolution der Freundlichkeit

Freundlichkeit im Alltag

Metta bedeutet in der buddhistischen Tradition der Vipassana-Meditation „bedingungslose Freundlichkeit, Wohlwollen, liebevolle Güte, Mitgefühl“. In der üblichen Metta-Meditation geht es darum, sich liebevoll dem eigenen Selbst, den anderen Menschen und allen empfindenden Wesen zuzuwenden. Vielleicht geht es heute auch darum, diese fürsorgliche Aufmerksamkeit der Gesamtheit der Natur zukommen zu lassen. Allem, was ist, wird auf diese Weise Gutes gewunschen: „Mögen alle Wesen glücklich sein!“

Diese Praxis können wir auch in unseren Alltag integrieren. Sie erfordert Übung und ein wenig Mut. Vor allem geht es darum, die eigenen Gewohnheiten zu verändern und mit mehr innerer Aufmerksamkeit durchs Leben zu gehen.

Gewohntes Misstrauen 

Gewohnheitsmäßig reagieren wir misstrauisch auf unbekannte Menschen, denen wir begegnen. Unser Unterbewusstsein will klären, ob von ihnen eine Gefahr ausgeht. Wenn die Klärung eine Entwarnung ergibt, wechseln wir üblicherweise in eine neutrale Position. Allenfalls finden wir noch etwas Interessantes an der Person, das unsere Aufmerksamkeit für länger fesselt, bis uns der nächste Reiz in Beschlag nimmt. Diese Reaktionen unseres Unterbewusstseins laufen automatisch und schnell ab, meist ohne dass wir etwas mitbekommen. 

Die Bewusstheitsübung, die mit der Metta-Praxis verbunden ist, setzt an diesem Punkt an und besteht darin, statt in die Gleichgültigkeit zu wechseln, ein freundliches und zugewandtes Gefühl zu aktivieren. Wir verweilen für einen längeren Moment bei der Person und schenken ihr ein wohlwollendes Gefühl. Schließlich begegnen wir gerade einem Menschen, der ebenso wertvoll und besonders ist wie wir selbst. Wir begrüßen die Einzigartigkeit und unendliche Werthaftigkeit gerade dieser Person, ihre unzerstörbare Würde. Wenn wir so wollen, anerkennen wir die Göttlichkeit in ihr. 

Wir lassen bewusst alles weg, was wir an der Person nicht mögen, was uns nicht gefällt. Wir stellen also unsere Bewertungen und Urteile über die Person beiseite. Sie sind nebensächlich und entspringen aus unserer Sichtweise und unseren Konzepten darüber, wie ein Mensch in seinem Aussehen und Verhalten sein sollte. Über das Innere eines Menschen steht uns kein Urteil zu.

Dieser Mensch hat ein anderes Schicksal und geht einen anderen Lebensweg, und wir werden ihn vielleicht nie wieder sehen. Dennoch können wir ihm für seine Zukunft von unserem Herzen alles Gute wünschen. Wir tun das mit unseren Freunden und Bekannten, wenn wir uns verabschieden, warum nicht mit Fremden? Fremde sind nur Menschen, die wir noch nicht näher kennengelernt haben.

Wir verfügen über Prägungen, die uns sagen, dass Fremde gefährlich oder bösartig sein können und mahnen uns zur Vorsicht. Es kann tatsächlich sein, dass der Mensch, dem wir gerade freundlich begegnet sind, böse Absichten in sich trägt oder etwas Böses plant. Wir wissen es nicht. Aber selbst wenn es so wäre, müssen wir ihm solange kein Gewicht beimessen, solange es sich nicht in bösem Tun manifestiert. Unsere Aufmerksamkeit Bewusstheit richten wir auf den heilen inneren Kern, der allen Menschen zu eigen ist. Damit unterscheiden wir das Handeln vom Sein oder Wesen des Menschen und geben dem letzteren den Vorrang vor dem ersteren. Wir selber wollen ja auch lieber in unserem Sein wertgeschätzt werden, statt für unsere Fehler Kritik und Abwertung ernten.

Wir geben auch Gedanken keine Energie, die darauf gerichtet sind, was jemand anderer über uns denkt oder gegen uns haben könnte. Die Unsicherheiten über die Urteile und Bewertungen, die andere Menschen über uns haben, stellen wir bewusst beiseite. Wir wissen nie, was andere über uns denken, vor allem, wenn wir sie überhaupt nicht kennen. Meistens spiegeln sich in den Vorstellungen, dass uns andere ablehnen oder missbilligen, unsere eigenen Unsicherheiten und Selbstzweifel. 

Der Vor-Schein einer menschlichen Gesellschaft

Wir geben uns selbst ein Beispiel dafür, wie es unter Menschen sein sollte: Jedes Mitglied der großen Menschheitsfamilie verdient den gleichen Respekt und die gleiche Hochachtung, unabhängig von Geschlecht, Alter, Sozialstatus, Hautfarbe, sexueller Orientierung, politischer Einstellung. Jeder unserer Mitmenschen verdient unsere Freundlichkeit. Auf diese Weise verbannen wir das Feindliche und Feindselige aus dem Leben, das so viele Menschen einnimmt und fortwährend soziales Gift erzeugt. Wir schicken statt dessen die Botschaft in die Umgebung: „Fürchte dich nicht, ich bin dir freundlich zugewandt.“

Eine win-win-Situation

Wir verlieren bei der Alltagsübung von Metta nichts, sondern gewinnen: an Mitmenschlichkeit, Empathie und Offenheit. Wir schenken etwas aus freien Stücken, gleich, ob es der Person gerade auffällt oder nicht. Der Tag wird heller, bei uns selber und vielleicht auch bei der anderen Person. Wir freuen uns an den Mitmenschen und ihrem Sein und freuen uns dabei über uns selber.

Eine Beobachtung habe ich beim Spazierenfahren mit meinem Enkelsohn gemacht: Er sitzt im offenen Buggy und ich fahre mit ihm den Gehsteig entlang. Erwachsene begegnen uns und sie schauen auf das Kind im Rollwagen (falls sie nicht vom Bildschirm ihres Smartphones gebannt sind), und wenn sie ein Lächeln bekommen, lächeln sie sogleich zurück. Mein Enkelsohn ist ein freundliches Kind und lacht gerne andere Menschen an. Die Unbefangenheit des Kindes nimmt sie gefangen, sie können sich nicht gegen den Strom von Herzlichkeit abschotten. Ich sehe sie kommen, wie sie in Gedanken versunken sind, wie sich ihr Gesicht durch die Begegnung aufhellt und wie sie fröhlich und beschenkt weitergehen. Es ist, als hätte sie ein Zauber überrascht und verwandelt.

Das ist das wechselseitige Beschenken, das in solchen Kontakten entsteht. Ich beschenke mich mit meiner entspannten wohlwollenden Neugier. Meine Entspannung überträgt sich auf die andere Person. Ich beschenke sie durch meine bewertungsfreie Akzeptanz und Achtung und ich werde beschenkt durch die Veränderung in ihre Stimmung und Ausstrahlung, wenn mein Geschenk ankommt.

Alles, was es für diese Übung braucht, ist die Bereitschaft, aus dem Käfig der Befangenheit und Selbstzentriertheit herauszutreten und die eigene Freundlichkeit zu mobilisieren und in die Welt einzubringen. Wirken wir mit an dieser Revolution der Freundlichkeit und des Wohlwollens!

Zum Weiterlesen:
Mitgefühl hat keine Grenzen
Gibt es Grenzen des Mitgefühls?
Die Solidaritätsschranke

Die Inspiration zu diesem Artikel verdanke ich Walter Christian Klocker. Hier zu seinem Beitrag zu dem Thema.


Freitag, 22. Oktober 2021

Soziopathie und die Folgen für die Demokratie

Bei der Soziopathie handelt es sich um eine Persönlichkeitsstörung, die in modernen Klassifikationen als dissoziale Persönlichkeitsstörung bezeichnet wird. Die Hauptmerkmale sind: 

  • Die Unfähigkeit, soziale Normen einzuhalten und die Grenzen von anderen Personen zu respektieren.
  • Das Fehlen von Mitgefühl. 
  • Die Neigung zu impulsiver Aggressivität und Gewalt.
  • Die Unfähigkeit, längerfristige Beziehungen aufrechtzuerhalten.
  • Fehlendes Scham- und Schuldbewusstsein.
  • Die Unfähigkeit, aus sozialen Fehlern zu lernen.

Soziopathen erscheinen oft so, als wären sie frei von Angst und Scham, weil sie ohne Skrupel „über Leichen gehen“, also andere Menschen missachten und verletzen, scheinbar, ohne es zu bemerken oder ohne dass es ihnen nahe geht. Sie sind allerdings nur geübt im Verdrängen dieser Gefühle. Es gibt zwar Menschen, die angstfrei sind, weil sie eine genetisch bedingte oder durch eine degenerative Nervenkrankheit entstandene Störung in den Mandelkernen des Gehirns haben, aber solche Personen sind nicht machtgierig, sondern auf eine sehr naive Weise vertrauensvoll. Sie erkennen nicht, wenn sie ausgenutzt werden, weil ihnen die Angst nicht signalisiert, dass sie in Bezug auf bestimmte Menschen vorsichtiger sein sollten.

Die Soziopathie ist eine Persönlichkeitsstörung, die sich auch im Gehirn abbildet und mit einer eingeschränkten Aktivierung im Frontalhirn zusammenhängt. Diese Unterfunktion kann die Auswirkung einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer Entwicklungstraumatisierung und vielleicht auch von transgenerationalen Übertragungen sein. Hinter dieser Persönlichkeitsstörung versteckt sich eine Geschichte von Beschämungen und Demütigungen, von Verletzungen und Herabwürdigungen.

Die Angst und  die Scham stellen zwei unterschiedliche Ausdrucksformen für die zwei grundlegenden Überlebensprogramme dar: Das Programm für das individuelle und das Programm für das soziale Überleben. Eine Möglichkeit, wie sich diese Programme ausformen können, liegt in der Verdrängung beider Gefühle, und das führt dann zu einer Scham- und Angstlosigkeit, die eigentlich in der Verschüttung des Zugangs zu diesen Gefühlen besteht. Damit geht unweigerlich der Verlust von Empathie und auch von Selbstempathie einher. 

Soziopathen drängen oft nach Führungspositionen, und das ist verständlich, weil sie dort die Macht innehaben, die ihnen die Sicherheit vor Angriffen, Bedrohungen und Beschämungen garantieren soll. Deshalb ist es so wichtig, dass soziale Kompetenzen, die auch die Schamsensibilität beinhalten, bei der Auswahl von Führungskräften eine zentrale Rolle spielen. So kann verhindert werden, dass die Mitarbeiter unter asozialen Führungskräften und deren destruktiven Einflüsse auf das Betriebs- und Organisationsklima leiden müssen. 

Soziopathen in der Politik

Soziopathen oder Menschen mit starken soziopathischen Zügen gibt es auch unter den Politikern, und sie kommen in diesem Bereich besonders gehäuft vor, was sich aus der erläuterten Verbindung dieser Störung mit dem Machtstreben ergibt. Politik hat ja viel mit der Verteilung und Verwaltung von Macht zu tun.

Wie erklärt sich der Erfolg solcher offensichtlich oder versteckt agierender soziopather Politiker? Sie verstehen es, Wähler für sich zu begeistern, die ihnen dann an die Macht verhelfen? Wie ist es möglich, dass solche Personen mit substanziell eingeschränkten sozialen Kompetenzen in der Politik, in der es um die Gestaltung des sozialen Zusammenlebens geht, zentrale Entscheidungsbefugnisse bekommen? Das heißt, dass wir die Verantwortung für unsere Gesellschaft Menschen anvertrauen, die charakterlich für diese Aufgabe denkbar ungeeignet sind? Wie ist diese Form der kollektiven Selbstsabotage möglich?

Schamlose Politiker und Politikerinnen sprechen all jene Wähler und Wählerinnen an, die mit ihrer Schambelastung kämpfen oder unter ihr leiden. Sie fühlen sich anderen unterlegen, wofür sie sich schämen. Sie sehen aber die politische Führungsfigur als Retter und Erlöser aus der beschämenden Situation der Unterlegenheit und Benachteiligung. Sie glauben fest daran, dass es ihnen besser gehen wird, wenn sich der soziopathische Politiker mit all seiner Macht und Durchschlagskraft für ihre Interessen (und nur für ihre Interessen) einsetzen wird. Gerne wären sie auch so durchsetzungsstark und bewundern die Rücksichtslosigkeit, mit der die eigenen Anliegen vertreten werden. Sie erhoffen sich von solchen Politikern, dass sie denen, die ihnen Beschämungen und Demütigungen angetan haben, auf Heller und Pfennig all das Böse und Gemeine heimzahlen. Sie sollen die Rache übernehmen, die ihnen zwar als rechtmäßig erscheint, für die sie sich selber aber zu schwach fühlen oder nicht den Mut aufbringen. Sie wären gerne so skrupellos und schambefreit, noch einfacher und moralischer ist es aber, diese Aufgabe an jene zu delegieren, die schon vom „Naturell“ her dazu geeigneter sind. Die Verehrung der Schamlosigkeit dient einerseits zur Aufrechterhaltung des Vorbilds und andererseits als Erleichterung, selber nicht so sein zu müssen. 

Allerdings entsteht bei vielen die Neigung, angesichts der Unverfrorenheit des Vorbilds die eigenen Schamschranken zu reduzieren und die eigene Moralität aufzuweichen. Auf diese Weise nimmt Schritt für Schritt die Bereitschaft für Rohheit und Gewaltneigung auf breiterer Basis zu. Die Moralität, die durch die Scham gesteuert ist, wird schleichend geschwächt.  Parallel verläuft der Prozess zur Entsolidarisierung, denn die Unverschämtheit besteht immer darin, die eigenen Interessen rücksichtslos, auch auf Kosten der anderen zu verfolgen. Die Gesellschaft wird mit jedem Verlust der Schamsensibilität soziopathischer, egoistischer und empathieloser. 

Demokratie und Schamverdrängung

Der politische Konkurrenzkampf um die Macht und den Einfluss auf die Steuerung der Gesellschaft ist Teil der Demokratie. Je mehr soziopathische Elemente in diese Auseinandersetzungen einfließen, desto schwieriger wird die Konsensfindung und desto emotionalisierter werden die Konflikte. Denn verdrängte Angst- und Schamgefühle führen die Regie und drängen die Vernunft, das Wissen und die Wissenschaft in den Hintergrund. Psychologisch betrachtet sind es die traumatisierten inneren Kinder der Protagonisten und ihrer Wähler, die die Geschicke einer hochkomplexen Gesellschaft und Ökonomie lenken wollen und dabei restlos überfordert sind.

Deshalb ist es demokratiepolitisch von höchster Bedeutung, dass wir einen bewussten Umgang mit der Scham in ihren vielen Varianten finden. Für das Funktionieren demokratischer Entscheidungsfindungsprozesse brauchen wir die Ausbildung und Pflege der Emotionalkultur, und hierbei besonders der Schamsensibilität, in allen Bereichen der Gesellschaft, also im Bildungssystem vom Kindergarten bis in die Erwachsenen- und Seniorenbildung, in den klassischen und modernen Medien und in den öffentlichen Diskursen. Die Macht, die in einer Demokratie vom Volk ausgeht, kann nur dann im Sinn des Gemeinwohls wirken, wenn das Volk soweit emotional erwachsen ist, dass es immun gegen soziopathische Manipulation ist und verhindert, soziopathische Persönlichkeiten in Machtpositionen zu hieven.

Zum Weiterlesen:
Homo corruptus und homo innocens
Kapitalismus und Sozialismus: Angst- und Schamorientierung
Die Solidaritätsschranke

Freitag, 15. Oktober 2021

Homo corruptus und homo innocens

Der Schriftsteller Franzobel hat den Ausdruck homo corruptus in einem lesenswerten aktuellen Feuilleton in der Neuen Züricher Zeitung auf den „gelernten Österreicher“ angewendet und damit eine Spezies Mensch gemeint, die nonchalant öffentliche Gelder in die eigene Tasche (oder in die der eigenen Partei) abzweigen, mit einem Selbstverständnis, als würde das jeder so machen und als wäre deshalb nichts daran auszusetzen – solange es im Geheimen bleibt. Im aktuellen Fall zeigt sich eine besonders perfide Variante, als die mutmaßlichen Betrüger noch dazu die Chuzpe aufbrachten, den Betrug am Steuerzahler als Betrugsbekämpfung zu kaschieren, so als würde ein Bankräuber sein Verbrecher als Initiative zu Verbesserungen der Sicherheit der beraubten Bank und ihrer Sparer rechtfertigen. 

Sobald das korrupte Treiben offenbar wird, meldet sich die Empörung bei den mutmaßlichen Tätern: Wie konnten diese bösartigen und hinterlistigen Behörden ihre auf nichts gegründeten Erhebungen bloß auf eine solche äußerst unfaire Art durchführen, nämlich indem sie private Konversationen ausheben und dokumentieren? Was für ein unverschämter Eingriff in die eigene Privatsphäre, hallt es durchs Land. Müssen wir jetzt bei jeder Mauschelei fürchten, vor den Kadi und an die Öffentlichkeit gezerrt zu werden? Wo kommen wir da hin? Wir verlieren unsere gewohnte Unbefangenheit in den Grauzonen zwischen dem Legalen und dem gerade nicht mehr Legalen, in denen wir uns so wohl fühlen und so viele Dinge in unserem Sinn richten können.

Der Zorn der Verbrecher über die Aufdecker

Natürlich ärgert sich der Verbrecher, der sein Verbrechen sorgfältig plant, sodass es geheim bleibt und nie entdeckt werden kann, wenn er auffliegt. Er findet es gemein, dass die Polizei Methoden der Ausforschung benutzt, an die er nicht gedacht hat. Das ist eine Kränkung des verbrecherischen Narzissmus, der nach dem perfekten, sprich nie ausgeforschten Verbrechen strebt, damit der persönliche Vorteil ungestört lukriert werden kann. 

Wenn nun Politiker diesen Ärger in propagandistischer Absicht an die Öffentlichkeit bringen, ist das erstaunlich, weil die Selbstoffenbarung so offensichtlich ist: Schamvoll einbekennen zu müssen, dass man selbst als der Dümmere aussteigt. Da wirkt der plumpe Versuch, die, die einem diese Scham bereiten, weil sie die Unrechtmäßigkeit des Tuns aufzeigen, ihrerseits aggressiv zu beschämen, nur mehr wie ein tieferes Eingeständnis der eigenen Schuld.

Die Unschuld und ihre Vermutung

Dass bei solchen Wortmeldungen nicht alle gleich lauthals auflachen, in Fremdscham verfallen oder entsetzt den Kopf schütteln, ist nur verständlich, wenn wir bedenken, dass das Pendant zum homo corruptus im homo innocens (wörtlich: Der, der keinen Schaden anrichtet, also unschuldig ist) gefunden werden kann. Diese Spielart des Menschlichen, die ich hier einführe, pflegt den naiven Glauben an die Personen, die sie idealisiert und in einen Bereich jenseits von Gut und Böse ansiedelt. Dazu setzt sie ihren Verstand, ihre Vernunft und ihre Ethik aus und schaltet nur auf der Gefühlsebene auf Empfang. 

Wir alle haben gierige und rücksichtslose emotionale Anteile in uns, in vielen Aspekten vergraben im Unbewussten, und das macht uns verführbar für die Dynamik, die in der Öffentlichkeit aufgeführt wird. Wir alle sind korrumpierbar und hätten nichts dagegen, auf Kosten des Staates reicher zu werden, nur scheuen die meisten das Risiko aufzufliegen und meiden deshalb die entsprechenden Grauzonen. 

Wir alle lieben es, unschuldig zu erscheinen und nichts mit dem Bösen zu tun zu haben, das vor unseren Augen ausgeübt wird, solange das eigene Böse ausgeblendet bleibt. Das Böse ist irgendwo außen, innen ist alles gut. Der Politiker, der sich angesichts massiver Beschuldigungen als homo innocens präsentiert, zieht alle an, die die Leichen in ihren dunklen Kellern ebenso erfolgreich verdrängen wollen. Insgeheim ahnen sie, worum es bei dem ganzen Spiel in Wirklichkeit geht – ein vages Unbehagen, das von der Scham erzeugt wird, erinnert sie daran –, sie glauben aber auch, dass es schlimmer ist, sich der Wahrheit zu stellen als nach außen den unschuldigen Schein zu wahren.

Hinter der Rhetorik der versteckten Korruption

Ein homo corruptus muss sich darauf verstehen, von seinen Anhängern als lupenreiner Gutmensch gesehen zu werden, also als homo innocens mit versteckter Überheblichkeit und arrogantem Verächtlichmachen der Gegner. Er vermittelt effektiv eine augenzwinkernde Doppelbotschaft: Ich bin das herausragende Beispiel von moralischer Reinheit, weil ich meine Untaten so gut kaschieren kann. Seht meine Unschuld, die meiner Korruptheit übergestülpt ist. So smart wie ich bin, wird niemand an meiner Patina kratzen können. Alle, die ihr diese Doppelrolle kennt und schätzt, versammelt euch hinter mir.

Dazu braucht er die Meisterschaft in der unterschwelligen Kommunikation, also im Öffnen der unbewussten Gefühlskanäle seiner Anhänger. Dorthin kann er seine Botschaften einfüttern und sie auf diese Weise an sich binden. Die Unschuld liegt im treuherzigen Blick, der im Bauchhirn der Anhänger ankommt, um dort ein wohlig warmes Gefühl zu erzeugen: “So ein netter und freundlicher Mensch, wie arm, wenn ihm, dem Unschuldigen, soviel Ungerechtigkeit und Leid zugefügt wird.” Mit geschliffener Rede lullt er das Denken der Anbeter ein, auch und besonders indem er nur Phrasen verwendet. Die lässige Gestik vermittelt die Überlegenheit über alle Widrigkeiten und infamen Beschuldigungen.

Das Idol und die Anhänger

In der Rechtschaffenheit und Anständigkeit, die ihm vom Idol präsentiert wird, fühlt sich der angesprochene homo innocens unter Seinesgleichen. Er verehrt die glattpolierte Fassade seines Idols und nimmt ihn zum Vorbild, hinter seiner eigenen Kulisse die dunklen Geheimnisse gut zu verstecken, um sich selber damit in Sicherheit wiegen zu können. Er kämpft für die Unversehrtheit des Vorbilds, der eben kein homo corruptus sein darf, weil man selber keiner sein will, obwohl und gerade weil man einer ist.

Die Unversehrtheit des Vorbilds stärkt den Glauben an die eigene moralische Integrität und muss deshalb um jeden Preis intakt bleiben. Das Vorbild wird gegen alle Angriffe verteidigt, um nicht nur das Idol, sondern auch sich selber und die eigene angemaßte Unschuld zu schützen. Was es zu schützen gilt, ist die Fassade, hinter der gar nicht so unschuldige innere Antriebe lauern wie z.B. die Gier oder der Hass – Gefühle, die nicht da sein sollten, weil sie nicht zum Selbstverständnis eines homo innocens passen. Die Fassade steht also im Dienst der Abwehr gegen die dunklen Seelenteile und Impulse, die im frisierten Selbstbild des Unschuldigen keinen Platz haben.

Der homo corruptus und die Justiz

Der homo corruptus fühlt sich nicht nur von der Justiz gemein und schlecht behandelt, sondern muss dazu noch seine politische Macht einsetzen, um diesem Treiben ein Ende zu setzen, sodass das eigene sinistere Treiben ungestört weitergehen kann. Also werden die Behörden angegriffen und als die eigentlichen Täter hingestellt. Böse ist, wer die fleißige fabrizierte Fassade nicht glaubt und nach dem Bösen dahinter sucht, das es nicht geben darf.

Hier handelt es sich um eine wirklich bemerkenswerte und bedenkliche Variante im Spiel der Opfer-Täter-Umkehr: Die mögliche Täterschaft wird damit verschleiert, dass die Aufdecker als Täter hingestellt werden. Wir können von Glück reden, dass wir in Österreich noch Behörden haben, die vor der Rache der Aufgedeckten von der Verfassung geschützt werden. Weltweit gibt es das Phänomen der von den eigentlichen Tätern verfolgten Aufdecker der Taten, mit Julian Assange als vielleicht prominentestem Beispiel. Diktatoren nutzen ihre unbegrenzte Macht regelmäßig für diese Zwecke, während sie in Demokratien wie z.B. den USA geheim im verdeckten Hintergrund ablaufen. In anderen Demokratien wie der unseren werden stattdessen die Heroenbilder des homo innocens, hinter denen sich der homo corruptus verbirgt, gepflegt und von einer breiten Schar von blinden Anhängern, bis hin zum neuen österreichischen Bundeskanzler, verehrt.

Es ist menschlich verständlich, sich gegen Vorwürfe zu wehren, indem man diejenigen persönlich angreift, die einem bestimmte Taten vorwerfen, und ihnen schlechte Absichten unterstellt. Es ist verständlich, aber unreif, weil die eigene Verantwortung abgeleugnet wird. Und es ist besonders peinlich, wenn das in der Öffentlichkeit geschieht; erkennbar ist die Peinlichkeit und Unreife aber nur für jene, die sich nicht unter die homines innocentes einreihen. Aus Wahlergebnissen und Umfragedaten kann man ablesen, dass immerhin zwischen 20 und 25 Prozent unserer Bevölkerung in diese Kategorie fallen.

Die Dynamik der Scham

Die innere Dynamik zwischen den beiden oben skizzierten Typen enthält viele Anteile der Scham und führt unweigerlich zu einer inneren Spaltung, solange sie nicht im Bewusstsein wahrgenommen wird. Der Persönlichkeitsanteil des homo innocens übernimmt den verschämten Teil, der sich als Opfer fühlt. Der Aspekt des homo corruptus ist der unverschämte Täter, der sich gleichwohl seinerseits verschämt, aber auch verschmitzt hinter dem homo innocens verbirgt und auf diese Weise seine Schäfchen ins Trockene bringt. Der eine ist stolz auf seine Tat, weil sie ihm zum Vorteil gereicht und er dadurch seinen Narzissmus stärkt. Er delegiert die Scham an den anderen Teil, der ja einsieht, dass man ein guter Mensch sein soll und der sich auch als solchen sieht, weil das Böse ja im anderen Teil lokalisiert ist. Es braucht also eine klare und verlässliche Abspaltung, damit die Dynamik innerpersönlich reibungslos ablaufen kann.

Diese Spaltung zeigt sich im Äußeren zwischen den korrupten Politikern und ihren naiven Anhängern. Die Anhänger verkörpern in ihrem Glauben an das Vorbild die Reinheit und moralische Integrität, die sich nicht zu schämen braucht. Sie wird als „Unschuldsvermutung“ immer wieder öffentlich eingemahnt, gemeint ist eigentlich ein Unschuldsglaube oder ein Unschuldsdogma, notwendig für die Aufrechterhaltung der eigenen Integrität. 

Es ist also nur eine behauptete Schamfreiheit, die vom Vorbild und seiner Präsentation als unschuldiges Opfer übernommen wird. Denn die Scham befeuert im Hintergrund das ganze Spiel, indem sie beharrlich und unerbittlich jede Abweichung vom Weg der Achtung der Menschenwürde und der sozialen Ausgewogenheit und Gerechtigkeit aufzeigt. Das ist für die Betroffenen nie angenehm, und deshalb muss die Scham verdrängt und abgewehrt werden.

Erst wenn die Scham als Motor dieser Dynamik erkannt wird, wird deutlich, dass über sie der einzige Ausweg aus der Spaltung zwischen Korruption und Unschuld gefunden werden kann, im Inneren und in der Gesellschaft. Das Anerkennen der eigenen Schamanteile führt zur Bewusstheit über die vielfältigen Formen der Schamverdrängung und ihrer destruktiven Folgen.

Das ist aber für viele Menschen und für viele Kollektive ein langer und mühsamer Weg, weil die Scham ein geheimnisvolles Geflecht entfaltet hat, das nur mit viel Bewusstheit und Bereitschaft für das Konfrontieren der eigenen inneren Abgründe und der gesellschaftlichen Verwerfungen entwirrt werden kann. Die Anstrengungen lohnen sich aber allemal, weil durch sie das individuelle Leben befreit und die Gesellschaft menschlicher gestaltet wird – all das, was sich die narzisstischen Idole auf ihre Fahnen heften. 

Zum Weiterlesen:
Machtmissbrauch und Scham
Der Stolz der Opfer