Samstag, 13. November 2021

Positive Affirmationen und ihre Grenzen

Positive Affirmationen werden schon lange als Mittel zur Selbstverbesserung genutzt. Schon Émile Coué, ein französischer Apotheker (1857-1926) hat die Möglichkeiten der Autosuggestion für die Heilung von Krankheiten und anderen Störungen erkannt. Er predigte den Satz: „Es geht mir mit jedem Tag in jeder Hinsicht immer besser und besser!“ Dieser soll täglich nach dem Aufwachen und vor dem Einschlafen halblaut gesagt werden, damit er über den Gehörssinn vom Unterbewusstsein aufgenommen werden kann.

1926 stellte der deutsche Arzt Johannes Heinrich Schultz die Methode des Autogenen Trainings vor, die auf positiven Autosuggestionen beruht. Sein Anliegen war es, die Erfolge der Behandlung durch Hypnose im Selbstbezug nutzen zu können, ohne dass also ein Hypnotiseur notwendig ist. Die Beeinflussung des vegetativen Nervensystems durch das innere Wiederholen von “Formeln”, also positiven, in der Gegenwartsform gestalteten Sätzen verändert die angesprochenen Bereiche im Körper. Z.B. fördert die Formel “Die rechte Hand ist ganz warm” die Durchblutung in dieser Hand. Es weiten sich die Blutgefäße und ein Wärmegefühl entsteht. Das Autogene Training liefert also den Beweis, dass wir durch unser Denken unbewusst ablaufende Vorgänge lenken können. Die Kombination aus Affirmationen und innerer Konzentration hat sich als effektiver Weg erwiesen, die willentliche Selbststeuerung auf das Nervensystem auszuweiten. Von dort geht der Weg weiter zur Stärkung der Psyche mittels positiver Sätze.

In einer Studie aus dem Jahr 2015 konnte mit Hilfe der Magnetresonanz-Tomografie die Aktivierung des Belohnungszentrums und der Areale für die Selbstreflexion durch positive Affirmationen nachgewiesen werden. Eine weitere Studie hat ergeben, dass Affirmationen helfen, schwierige Aufgabenstellungen unter Stress zu schaffen.

Positives Denken kann krank machen

Allerdings gibt es auch Gründe, die Arbeit mit positiven Affirmationen nicht in den Himmel zu heben und als Kur für jedes Leiden anzupreisen. Der Nutzen für viele Menschen und für viele Problembereiche ist unbestritten, übersehen werden darf dennoch nicht, dass diese Methode auch Schaden zufügen kann. Z.B. bewirkt das Affirmieren bei Personen mit Angststörungen, starken Selbstzweifeln oder Zwangsstörungen zusätzlichen Stress. Auch Depressive, die mit vielen negativen Gedanken kämpfen, können nicht einfach auf Anordnung ihre Gedanken schönfärben, sondern fühlen sich noch schlechter, wenn ihnen erklärt wird, dass sie ihre Misere mit ihren Gedanken erzeugen.

Manche Menschen erleichtert es, wenn sie jammern und klagen. Der deutsche Psychotherapeut Günter Scheich hat ein Buch mit dem Titel „Positives Denken macht krank. Vom Schwindel mit gefährlichen Erfolgsversprechen“ (Eichborn-Verlag 2001) verfasst. Er weist darauf hin, dass negative Gedanken ebenso wichtig für die innere Entwicklung sind wie positive. Denn sie machen auf Grenzen aufmerksam und helfen, mit den eigenen Schwächen umzugehen.

Die Auseinandersetzung mit Krisen und Missgeschicken erfordert mehr als die kognitive Neuorientierung, die durch positives Denken und Affirmationen erreicht wird. Das Leben wird nicht dadurch besser, dass wir bessere Gedanken in uns kultivieren, sondern dadurch, dass wir uns konstruktiv mit den inneren und äußeren Hindernissen beschäftigen, die einer Verbesserung im Weg stehen.

Die Gedanken können dabei eine hilfreiche Rolle spielen, nämlich dann, wenn wir sie uns bewusst machen und dann auswählen, welche Gedanken wir vermehren und welche wir vermindern wollen. Aber sie enthalten keine übermenschlichen Zauberkräfte, mit denen wir die Welt zu unserem Belieben und nach unseren Wünschen verändern können.

Manche Menschen überschätzen die Macht der Gedanken derart, dass sie sich selber mit Gedankenkontrolle terrorisieren. Jeder negative Gedanke könnte dann gleich die Wurzel für Misserfolge und Katastrophen sein, an denen man dann selber schuld ist. Es gilt, beständig das eigene Denken zu überwachen, dass ja kein negativer Gedanke auftaucht.

Woher kommen die Gedanken?

Nun können wir zwar Gedanken verändern, die wir schon gedacht haben, aber wir können das Entstehen der Gedanken nicht beeinflussen. Gedanken tauchen aus dem Unterbewussten oder Vorbewussten auf, ohne unsere willentliche Zustimmung. Wir verfügen über keine Möglichkeit, vorab zu zensurieren, welche Gedanken kommen und welche nicht. Die Angst vor den negativen Gedanken erzeugt mehr Stress als die Gedanken selbst. Wir können uns quälen, wie wir wollen, und wir werden es nicht schaffen, die Gedankenentstehung zu kontrollieren. Das Einzige, das wir üben können, ist die nachträgliche willentliche Gestaltung des Denkens: Ich will A denken und nicht B. Ich beende den negativen Gedanken A und konzentriere mich auf den positiven Gedanken B. Das wird das innere Stimmungsbild erhellen.

Mit Verantwortung überladen

Die Überladung mit Verantwortung ist eine weitere Last, die aus der Überschätzung des positiven Denkens folgt. Manche Schulen lehren die Notwendigkeit einer rigiden Kontrolle des Denkens zum Zweck der Erreichung von persönlichen Zielen. Wenn unser Denken nicht nur die innere Wirklichkeit prägt, sondern auch die äußere Realität maßgeblich beeinflussen sollte, dann hängt unser Innen- wie unser Außenleben von der Qualität unserer Gedanken ab und jeder Fehler, sprich jeder negative Gedanke hat dann weitreichende Folgen auf unser Leben. Alles, was uns passiert und uns nicht passt, ist dann durch unsere fehlerhafte Denkkultur bewirkt. Wir fühlen uns dann an allem schuld, was schief geht, weil wir meinen, zu wenig positiv gedacht zu haben. Wenn wir diese Einstellung haben, so lastet von früh bis spät der Verantwortungsdruck auf uns, unsere Gedanken überwachen zu müssen, anders kann nichts gelingen.

Es ist wie mit der Körperpflege: Ein gutes Maß an Hygiene ist notwendig, aber dort, wo die Sauberkeit zwanghaft wird, entstehen mehr Probleme als Lösungen. Das Denken hat Auswirkungen auf unsere Innenwelt und der Zustand im Inneren hat Auswirkungen auf die Außenwelt. Wir wirken und handeln anders, wenn wir uns gut fühlen als wenn es uns miserabel geht. Was wir gerade denken, spielt dabei mit, aber es spielt nicht die Hauptrolle. Es hilft uns nicht weiter, wenn wir ihm diese Rolle geben. Damit setzen wir uns selbst nur unter übermäßigen Druck, der wieder die Wahrscheinlichkeit für negative Gedanken stärkt.

Denken und Fühlen

Wirkliche Hilfe finden wir, wenn wir an die Wurzeln unserer Tendenzen, negativ zu denken, gehen. Es sind Gefühle der Verletzung und Beschämung, Erfahrung der Angst und Unsicherheit, die unser Unbewusstes dazu verleiten, negative Gedanken aufsteigen zu lassen. Gefühle gibt es lange vor Gedanken in unserem Leben. Sie werden immer wieder negative Gedanken hervorrufen, solange sie nicht befriedet sind. Wenn wir einzig an der Ebene der Gedanken herumfeilen, betrieben wir nichts als eine Oberflächenveränderung. Erst die Arbeit, die in die Tiefe der Gefühle eintaucht, legt die Basis für den inneren Frieden und die Gelassenheit. In diesem Zustand kommen keine negativen Gedanken und brauchen wir keine Affirmationen, weil alles da ist, was wir brauchen.

Zum Weiterlesen:
Die soziale Wirkung negativer Glaubenssätze

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