Donnerstag, 28. Oktober 2021

Die Macht von Glaubenssätzen

In der Psychologie und Psychotherapie sprechen wir immer wieder von Glaubenssätzen (englisch: beliefs). Damit sind prägende Sätze gemeint, die einen hindernden, einschränkenden und selbstabwertenden Charakter haben. Sie wurzeln tief in der Psyche und können eine starke Macht im Innenleben gewinnen. Sie sind an praktisch allen Störungen und Erkrankungen, die wir aus dem psychischen Bereich kennen, beteiligt und liegen deren kognitiven Teil zugrunde. 

Zum Beispiel mischen sich bei Depressionen oft Glaubenssätze ein: Der niedrige, gelähmte Energiezustand führt zu Misserfolgen und Handlungsvermeidungen. Sogleich treten Selbervorwürfe auf, die wiederum das Selbstgefühl niederdrücken, zu weiteren Vermeidungen führen, die in der Folge die Selbstvorwürfe intensivieren. Diese Kreisläufe werden maßgeblich von den Glaubenssätzen, z.B. „Ich bin nicht wertvoll“ oder „Ich bin unfähig“ beeinflusst. Diese Sätze führen im Hintergrund Regie, ohne dass sie bewusst werden.

Die Glaubenssätze, von denen wir hier sprechen, sind älter als das Denken, für das wir höhere Gehirnfunktionen benötigen. Wie ist das zu verstehen? Frühe verstörende, verletzende und traumatisierende Erfahrungen führen zu starken körperlichen Reaktionen, zu denen schon bald im Lauf der Entwicklungen Gefühle oder Vorformen von Gefühlen kommen. Glaubenssätze sind dann die sprachliche Form dieser Gefühlserfahrungen, die im Unterbewusstsein abgespeichert sind.

Wir sprechen in Analogie zur Computerwelt auch von Programmierungen. Die Analogie passt insofern, als diese Sätze ihre Wirkung im Hintergrund entfalten, sich in alle Abläufe einmischen können und viele Handlungen steuern. Sind diese Hintergrundprogrammierungen defekt, ist das gesamte System arbeitsunfähig.

Die Macht der Glaubenssätze

Wie können Sätze eine derartige Macht über uns ausüben? Es sind ja nur Worte, die wir oft nicht einmal bewusst hören, die zwar irgendwo im Unterbewussten wabern, aber auch dort bleiben könnten. Es sind aber tatsächlich nicht die Worte, die so mächtig sind, sondern die Gefühle und Gefühlsmuster, die durch die Worte ausgelöst oder ausgedrückt werden. Die Sätze sind Stellvertreter für emotionale Erfahrungen, die sich im Lauf der Seelenentwicklung aufbauen und einprägen. Sie fassen zusammen, was es an Verletzungen und Traumatisierungen in der eigenen Geschichte gegeben hat. Sie können ihre Ursprünge bei unseren ganz ersten Erfahrungen haben.

Ein Beispiel: Ein Kind, das empfangen wird, aber für die Eltern zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt kommt oder in denkbar ungünstige Umstände hineingerät, nimmt den Stress der Eltern mit der Botschaft auf, nicht willkommen zu sein. Der Glaubenssatz ist dann also: „Ich bin nicht gewollt“ oder „Ich bin nicht willkommen“.

Wir wissen allerdings, dass menschliche Wesen nach der Geburt ein bis zwei Jahre brauchen, um überhaupt Sätze formulieren und ausdrücken zu können. Das Sprachzentrum im Gehirn ist erst ab einem bestimmten Reifegrad in der Lage, Worte in einen grammatikalischen Zusammenhang zu bringen. Das Worterlernen ist schon ein erster wichtiger Schritt zum Erwerb der Sprachkompetenz; das Bilden von Sätzen erfordert den Sprung auf ein höheres Komplexitätsniveau. Wie soll das aber gehen, wenn Sätze schon am Anfang des Lebens, also noch lange bevor es ein Sprachzentrum gibt, gebildet werden, noch dazu solche, die dann eine lebenslängliche Wirkung haben sollen?

Die organischen Ursprünge von Glaubenssätzen

Dazu schlage ich ein Modell vor, das diese Zusammenhänge erklären kann. Die erste Annahme, die wir dazu treffen müssen, besagt, dass Zellen über ein Gedächtnis verfügen, das vor allem Gefahrenquellen abspeichern kann, um vor künftigen Bedrohungen zu schützen. Lebewesen brauchen einen Angstspeicher, der ihnen hilft, unter wechselnden äußeren Umständen überleben zu können. Selbst wenn Einzelzellen oder einfache Zellverbände kein Gehirn mit Bereichen haben, die auf Angst spezialisiert sind, kennen sie die Emotion in einer Vorform, die dann später als Angst erlebt wird. Die einfachen Emotionen, die wir als Erwachsene kennen, haben also urtümlichere Vorfahren, Proto-Gefühle, mit denen Außen- und Innenerfahrungen koordiniert werden. Mit zunehmender Reifung entwickelt sich das Bewusstsein, durch das Gefühle dann als Gefühle erfahrbar werden.

Sprache und Gefühle 

Gehen wir eine Komplexitätsstufe weiter nach oben, kommen wir zur Sprache. Sie baut auf den Gefühlen auf und nutzt deren Struktur, um daraus die Grammatik zu bilden. Die Sprache gibt also die abstrahierte Gefühlslandschaft wieder und bildet deren Dynamik ab. Glaubenssätze sind dann nichts anderes als die abstrakten Abbilder von Gefühlserfahrungen, die sie auf den Punkt bringen und zusammenfassen. Stellen wir uns vor, ein winziger Organismus erlebt eine fortdauernde Verunsicherung, weil er sich in einer bedrohlichen Umgebung befindet, z.B. im Mutterleib einer drogenabhängigen oder alkoholsüchtigen Mutter.  Diese andauernd wirksame Angst  findet im Glaubenssatz: „Ich bin ohnmächtig und ausgeliefert“ ihren Niederschlag. Die subjektbezogene Umkehrung, in die die Urscham einfließt, lautet: „Ich bin nicht willkommen, ich bin nicht liebenswert, ich sollte besser nicht existieren.“ 

In dem frühen Stadium der Bildung des Glaubenssatzes besteht er natürlich noch nicht in der sprachlichen Form und ist auch als solcher nicht bewusst. Aber er ist gewissermaßen im Kern angelegt, sodass er, sobald die Sprache zur Verfügung steht, in diese Form gekleidet werden kann. Meist bleibt er dennoch unbewusst und äußert sich versteckt in anderen Botschaften, die im Leben als Unzufriedenheit, Niedergeschlagenheit oder anderen Missstimmungen ausgedrückt werden. 

Die unbewussten Glaubenssätze üben eine Schutzfunktion aus. Sie sollen verhindern, dass die seelischen Bereiche, in denen die traumatischen Erinnerungen gespeichert sind, geöffnet werden. Denn die Befürchtung ist berechtigt, dass ein unbeabsichtigtes Eindringen in diese Räume zu einer massiven Überflutung und Überforderung mit schmerz- und grauenhaften Gefühlen führen würde. Also sorgen die negativen, selbstabwertenden kognitiven Strukturen dafür, dass sich die betroffene Person zwar permanent schlecht fühlt, sich aber auch an diese Gefühlslage soweit gewöhnt, dass sie nichts mehr daran ändern will. 

Die Sprache wirkt zurück auf die Gefühle. Indem sie sie benennt, können sie leichter reguliert werden, aber es kommt auch dazu, dass sie über gedankliche Vorgänge schneller und vielfältiger aktiviert werden. Denn die entsprechenden Worte, aber auch die sprachlich in Sätzen formulierten Gedanken können entsprechende Gefühle hervorrufen: Wir denken an etwas, das wir vergessen haben könnten, und es treten Angstgefühle auf. 

Auf diese Weise bilden sich Rückkoppelungseffekte und Verstärkerkreise: Gedanken verstärken Gefühle, die wiederum Gedanken verstärken, usw. Die unheilvollen und qualvollen Auswirkungen solcher negativer Selbstbestätigungen kennen alle Grübler und viele Depressive oder Menschen mit Zwängen.

Die Entmachtung der negativen Glaubenssätze

Glaubenssätze sind also Symptome und nicht Ursachen für Verstörungen und Irritationen im Selbstkontakt und in der Selbstannahme. Die Ursprünge liegen in traumatischen Erfahrungen, vor allem in dysfunktionalen Entwicklungsbedingungen und unsicheren Bindungen in den Anfängen des Lebens. Wenn wir die unbewussten Glaubenssätze bewusst machen, – und oft bedarf es dazu fachkundiger Begleitung –, können wir ihre Herkunft identifizieren. Die eigentliche Heilarbeit muss an diesen Wurzeln ansetzen. 

Ein zusätzlicher ressourcenstärkender Teil der Arbeit besteht darin, dass die Glaubenssätze entmachtet werden, indem sie zunächst in ihrer Natur als Gedanken erkannt werden. Gedanken können sehr mächtig sein, sie haben aber eine „Schwäche“, sie können, sobald sie bewusst sind, umgedacht werden. Sie können also mit Hilfe des Bewusstseins in ihr Gegenteil verkehrt werden. Aus: „Ich bin nicht willkommen“ wird einfach: „Ich bin willkommen.“ 

Gedanken sind also nur dadurch machtvoll, dass sie unkontrolliert aus dem Unterbewusstsein hochsteigen und dabei auf die Gefühlslandschaft einwirken. Sie können nachträglich aber relativ leicht in die Schranken gewiesen werden, indem sie mit bewusster Achtsamkeit beendet und durch andere oder gegenteilige Gedanken ersetzt werden.

Umbau des Gehirns

Dieses Gedankentraining verhilft dazu, dass die negative Selbstbeziehung, die die Folge von frühen Störungen darstellt, auf der obersten Ebene durch eine bewusste Denkanstrengung in eine positive Selbstbeziehung umgewandelt wird. Die Einprägungen im Gehirn, also die Nervenbahnen und synaptischen Verbindungen, die durch die Glaubenssätze ausgebildet wurden, werden abgeschwächt, indem ihr Gegenteil eingeprägt wird. Darin besteht die Kraft der Arbeit mit Affirmationen. Sie helfen, das Gehirn umzustrukturieren. Sie erleichtern den Zutritt zu den frühen emotionalen Wunden. So wird es leichter, sie zu bearbeiten. 

Wenn die zentral wirksamen Glaubenssätze einmal bewusst geworden sind, können sie in ihren Auswirkungen auf das eigene Leben wahrgenommen und dort mit der entsprechenden Bewusstheit unschädlich gemacht werden. Immer wenn sie sich in die Abläufe einmischen wollen und dabei ertappt werden, kann das positive Gegenteil des negativen Satzes als Hilfsmittel herangezogen werden und im Inneren wiederholt werden. So festigt sich eine neue Gewohnheit, sich selber auf der kognitiven Ebene wertzuschätzen und zu achten. Von dieser Ebene sinkt dann langsam das neue Selbstgefühl in die tieferen Schichten der Seele.

Die Affirmation der Geburtsrechte

Die positiven Glaubenssätze bekräftigen die Geburtsrechte, d.h. die Ansprüche an das Menschsein, die die Grundlage jedes Menschenlebens und jeder menschlichen Gemeinschaft bilden. Sie spiegeln das Wesen des Menschen wider, seine Würde und die Achtung für die Besonderheit. Sie stammen aus der Stimme des Lebens zu uns selbst, des Lebens, das genau dieses Menschenleben so wollte, wie es ist und es in jedem Moment in seinem Sein und Wachsen unterstützt. 

Affirmationen sind bejahende Selbstbekräftigungen, die unsere Wesensnatur und unsere heile Selbstbeziehung ausdrücken. Sie bestärken unseren angemessenen Platz in der Gesellschaft und die gleichrangigen Beziehungen zu unseren Mitmenschen. Sie tragen zu unserem Wohlbefinden und zu unserer Lebensfreude bei.

Sie sind kein Hokuspokus, sondern Botschaften, die wir an uns selbst und an die verängstigten und verletzten Teile von uns richten. Wir beziehen uns fürsorglich und unterstützend auf uns selber. Auf Grund unserer Traumageschichte haben wir vergessen, wer wir wirklich sind und was uns im Wesen ausmacht. Mit positiven Glaubenssätzen holen wir uns unsere Würde und unsere Lebensrechte zurück.

Zum Weiterlesen:

Die soziale Wirkung negativer Glaubenssätze
Glaubenssätze und Scham
Gefühle machen Gedanken machen Gefühle
Beklagen - Selbsterzeugte Gehirnwäsche
Über die Pflicht zum Optimismus
Autarkie und Scham


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