Freundlichkeit im Alltag
Metta bedeutet in der buddhistischen Tradition der Vipassana-Meditation „bedingungslose Freundlichkeit, Wohlwollen, liebevolle Güte, Mitgefühl“. In der üblichen Metta-Meditation geht es darum, sich liebevoll dem eigenen Selbst, den anderen Menschen und allen empfindenden Wesen zuzuwenden. Vielleicht geht es heute auch darum, diese fürsorgliche Aufmerksamkeit der Gesamtheit der Natur zukommen zu lassen. Allem, was ist, wird auf diese Weise Gutes gewunschen: „Mögen alle Wesen glücklich sein!“
Diese Praxis können wir auch in unseren Alltag integrieren. Sie erfordert Übung und ein wenig Mut. Vor allem geht es darum, die eigenen Gewohnheiten zu verändern und mit mehr innerer Aufmerksamkeit durchs Leben zu gehen.
Gewohntes Misstrauen
Gewohnheitsmäßig reagieren wir misstrauisch auf unbekannte Menschen, denen wir begegnen. Unser Unterbewusstsein will klären, ob von ihnen eine Gefahr ausgeht. Wenn die Klärung eine Entwarnung ergibt, wechseln wir üblicherweise in eine neutrale Position. Allenfalls finden wir noch etwas Interessantes an der Person, das unsere Aufmerksamkeit für länger fesselt, bis uns der nächste Reiz in Beschlag nimmt. Diese Reaktionen unseres Unterbewusstseins laufen automatisch und schnell ab, meist ohne dass wir etwas mitbekommen.
Die Bewusstheitsübung, die mit der Metta-Praxis verbunden ist, setzt an diesem Punkt an und besteht darin, statt in die Gleichgültigkeit zu wechseln, ein freundliches und zugewandtes Gefühl zu aktivieren. Wir verweilen für einen längeren Moment bei der Person und schenken ihr ein wohlwollendes Gefühl. Schließlich begegnen wir gerade einem Menschen, der ebenso wertvoll und besonders ist wie wir selbst. Wir begrüßen die Einzigartigkeit und unendliche Werthaftigkeit gerade dieser Person, ihre unzerstörbare Würde. Wenn wir so wollen, anerkennen wir die Göttlichkeit in ihr.
Wir lassen bewusst alles weg, was wir an der Person nicht mögen, was uns nicht gefällt. Wir stellen also unsere Bewertungen und Urteile über die Person beiseite. Sie sind nebensächlich und entspringen aus unserer Sichtweise und unseren Konzepten darüber, wie ein Mensch in seinem Aussehen und Verhalten sein sollte. Über das Innere eines Menschen steht uns kein Urteil zu.
Dieser Mensch hat ein anderes Schicksal und geht einen anderen Lebensweg, und wir werden ihn vielleicht nie wieder sehen. Dennoch können wir ihm für seine Zukunft von unserem Herzen alles Gute wünschen. Wir tun das mit unseren Freunden und Bekannten, wenn wir uns verabschieden, warum nicht mit Fremden? Fremde sind nur Menschen, die wir noch nicht näher kennengelernt haben.
Wir verfügen über Prägungen, die uns sagen, dass Fremde gefährlich oder bösartig sein können und mahnen uns zur Vorsicht. Es kann tatsächlich sein, dass der Mensch, dem wir gerade freundlich begegnet sind, böse Absichten in sich trägt oder etwas Böses plant. Wir wissen es nicht. Aber selbst wenn es so wäre, müssen wir ihm solange kein Gewicht beimessen, solange es sich nicht in bösem Tun manifestiert. Unsere Aufmerksamkeit Bewusstheit richten wir auf den heilen inneren Kern, der allen Menschen zu eigen ist. Damit unterscheiden wir das Handeln vom Sein oder Wesen des Menschen und geben dem letzteren den Vorrang vor dem ersteren. Wir selber wollen ja auch lieber in unserem Sein wertgeschätzt werden, statt für unsere Fehler Kritik und Abwertung ernten.
Wir geben auch Gedanken keine Energie, die darauf gerichtet sind, was jemand anderer über uns denkt oder gegen uns haben könnte. Die Unsicherheiten über die Urteile und Bewertungen, die andere Menschen über uns haben, stellen wir bewusst beiseite. Wir wissen nie, was andere über uns denken, vor allem, wenn wir sie überhaupt nicht kennen. Meistens spiegeln sich in den Vorstellungen, dass uns andere ablehnen oder missbilligen, unsere eigenen Unsicherheiten und Selbstzweifel.
Der Vor-Schein einer menschlichen Gesellschaft
Wir geben uns selbst ein Beispiel dafür, wie es unter Menschen sein sollte: Jedes Mitglied der großen Menschheitsfamilie verdient den gleichen Respekt und die gleiche Hochachtung, unabhängig von Geschlecht, Alter, Sozialstatus, Hautfarbe, sexueller Orientierung, politischer Einstellung. Jeder unserer Mitmenschen verdient unsere Freundlichkeit. Auf diese Weise verbannen wir das Feindliche und Feindselige aus dem Leben, das so viele Menschen einnimmt und fortwährend soziales Gift erzeugt. Wir schicken statt dessen die Botschaft in die Umgebung: „Fürchte dich nicht, ich bin dir freundlich zugewandt.“
Eine win-win-Situation
Wir verlieren bei der Alltagsübung von Metta nichts, sondern gewinnen: an Mitmenschlichkeit, Empathie und Offenheit. Wir schenken etwas aus freien Stücken, gleich, ob es der Person gerade auffällt oder nicht. Der Tag wird heller, bei uns selber und vielleicht auch bei der anderen Person. Wir freuen uns an den Mitmenschen und ihrem Sein und freuen uns dabei über uns selber.
Eine Beobachtung habe ich beim Spazierenfahren mit meinem Enkelsohn gemacht: Er sitzt im offenen Buggy und ich fahre mit ihm den Gehsteig entlang. Erwachsene begegnen uns und sie schauen auf das Kind im Rollwagen (falls sie nicht vom Bildschirm ihres Smartphones gebannt sind), und wenn sie ein Lächeln bekommen, lächeln sie sogleich zurück. Mein Enkelsohn ist ein freundliches Kind und lacht gerne andere Menschen an. Die Unbefangenheit des Kindes nimmt sie gefangen, sie können sich nicht gegen den Strom von Herzlichkeit abschotten. Ich sehe sie kommen, wie sie in Gedanken versunken sind, wie sich ihr Gesicht durch die Begegnung aufhellt und wie sie fröhlich und beschenkt weitergehen. Es ist, als hätte sie ein Zauber überrascht und verwandelt.
Das ist das wechselseitige Beschenken, das in solchen Kontakten entsteht. Ich beschenke mich mit meiner entspannten wohlwollenden Neugier. Meine Entspannung überträgt sich auf die andere Person. Ich beschenke sie durch meine bewertungsfreie Akzeptanz und Achtung und ich werde beschenkt durch die Veränderung in ihre Stimmung und Ausstrahlung, wenn mein Geschenk ankommt.
Alles, was es für diese Übung braucht, ist die Bereitschaft, aus dem Käfig der Befangenheit und Selbstzentriertheit herauszutreten und die eigene Freundlichkeit zu mobilisieren und in die Welt einzubringen. Wirken wir mit an dieser Revolution der Freundlichkeit und des Wohlwollens!
Zum Weiterlesen:
Mitgefühl hat keine Grenzen
Gibt es Grenzen des Mitgefühls?
Die Solidaritätsschranke
Die Inspiration zu diesem Artikel verdanke ich Walter Christian Klocker. Hier zu seinem Beitrag zu dem Thema.
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