Freitag, 22. Oktober 2021

Soziopathie und die Folgen für die Demokratie

Bei der Soziopathie handelt es sich um eine Persönlichkeitsstörung, die in modernen Klassifikationen als dissoziale Persönlichkeitsstörung bezeichnet wird. Die Hauptmerkmale sind: 

  • Die Unfähigkeit, soziale Normen einzuhalten und die Grenzen von anderen Personen zu respektieren.
  • Das Fehlen von Mitgefühl. 
  • Die Neigung zu impulsiver Aggressivität und Gewalt.
  • Die Unfähigkeit, längerfristige Beziehungen aufrechtzuerhalten.
  • Fehlendes Scham- und Schuldbewusstsein.
  • Die Unfähigkeit, aus sozialen Fehlern zu lernen.

Soziopathen erscheinen oft so, als wären sie frei von Angst und Scham, weil sie ohne Skrupel „über Leichen gehen“, also andere Menschen missachten und verletzen, scheinbar, ohne es zu bemerken oder ohne dass es ihnen nahe geht. Sie sind allerdings nur geübt im Verdrängen dieser Gefühle. Es gibt zwar Menschen, die angstfrei sind, weil sie eine genetisch bedingte oder durch eine degenerative Nervenkrankheit entstandene Störung in den Mandelkernen des Gehirns haben, aber solche Personen sind nicht machtgierig, sondern auf eine sehr naive Weise vertrauensvoll. Sie erkennen nicht, wenn sie ausgenutzt werden, weil ihnen die Angst nicht signalisiert, dass sie in Bezug auf bestimmte Menschen vorsichtiger sein sollten.

Die Soziopathie ist eine Persönlichkeitsstörung, die sich auch im Gehirn abbildet und mit einer eingeschränkten Aktivierung im Frontalhirn zusammenhängt. Diese Unterfunktion kann die Auswirkung einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer Entwicklungstraumatisierung und vielleicht auch von transgenerationalen Übertragungen sein. Hinter dieser Persönlichkeitsstörung versteckt sich eine Geschichte von Beschämungen und Demütigungen, von Verletzungen und Herabwürdigungen.

Die Angst und  die Scham stellen zwei unterschiedliche Ausdrucksformen für die zwei grundlegenden Überlebensprogramme dar: Das Programm für das individuelle und das Programm für das soziale Überleben. Eine Möglichkeit, wie sich diese Programme ausformen können, liegt in der Verdrängung beider Gefühle, und das führt dann zu einer Scham- und Angstlosigkeit, die eigentlich in der Verschüttung des Zugangs zu diesen Gefühlen besteht. Damit geht unweigerlich der Verlust von Empathie und auch von Selbstempathie einher. 

Soziopathen drängen oft nach Führungspositionen, und das ist verständlich, weil sie dort die Macht innehaben, die ihnen die Sicherheit vor Angriffen, Bedrohungen und Beschämungen garantieren soll. Deshalb ist es so wichtig, dass soziale Kompetenzen, die auch die Schamsensibilität beinhalten, bei der Auswahl von Führungskräften eine zentrale Rolle spielen. So kann verhindert werden, dass die Mitarbeiter unter asozialen Führungskräften und deren destruktiven Einflüsse auf das Betriebs- und Organisationsklima leiden müssen. 

Soziopathen in der Politik

Soziopathen oder Menschen mit starken soziopathischen Zügen gibt es auch unter den Politikern, und sie kommen in diesem Bereich besonders gehäuft vor, was sich aus der erläuterten Verbindung dieser Störung mit dem Machtstreben ergibt. Politik hat ja viel mit der Verteilung und Verwaltung von Macht zu tun.

Wie erklärt sich der Erfolg solcher offensichtlich oder versteckt agierender soziopather Politiker? Sie verstehen es, Wähler für sich zu begeistern, die ihnen dann an die Macht verhelfen? Wie ist es möglich, dass solche Personen mit substanziell eingeschränkten sozialen Kompetenzen in der Politik, in der es um die Gestaltung des sozialen Zusammenlebens geht, zentrale Entscheidungsbefugnisse bekommen? Das heißt, dass wir die Verantwortung für unsere Gesellschaft Menschen anvertrauen, die charakterlich für diese Aufgabe denkbar ungeeignet sind? Wie ist diese Form der kollektiven Selbstsabotage möglich?

Schamlose Politiker und Politikerinnen sprechen all jene Wähler und Wählerinnen an, die mit ihrer Schambelastung kämpfen oder unter ihr leiden. Sie fühlen sich anderen unterlegen, wofür sie sich schämen. Sie sehen aber die politische Führungsfigur als Retter und Erlöser aus der beschämenden Situation der Unterlegenheit und Benachteiligung. Sie glauben fest daran, dass es ihnen besser gehen wird, wenn sich der soziopathische Politiker mit all seiner Macht und Durchschlagskraft für ihre Interessen (und nur für ihre Interessen) einsetzen wird. Gerne wären sie auch so durchsetzungsstark und bewundern die Rücksichtslosigkeit, mit der die eigenen Anliegen vertreten werden. Sie erhoffen sich von solchen Politikern, dass sie denen, die ihnen Beschämungen und Demütigungen angetan haben, auf Heller und Pfennig all das Böse und Gemeine heimzahlen. Sie sollen die Rache übernehmen, die ihnen zwar als rechtmäßig erscheint, für die sie sich selber aber zu schwach fühlen oder nicht den Mut aufbringen. Sie wären gerne so skrupellos und schambefreit, noch einfacher und moralischer ist es aber, diese Aufgabe an jene zu delegieren, die schon vom „Naturell“ her dazu geeigneter sind. Die Verehrung der Schamlosigkeit dient einerseits zur Aufrechterhaltung des Vorbilds und andererseits als Erleichterung, selber nicht so sein zu müssen. 

Allerdings entsteht bei vielen die Neigung, angesichts der Unverfrorenheit des Vorbilds die eigenen Schamschranken zu reduzieren und die eigene Moralität aufzuweichen. Auf diese Weise nimmt Schritt für Schritt die Bereitschaft für Rohheit und Gewaltneigung auf breiterer Basis zu. Die Moralität, die durch die Scham gesteuert ist, wird schleichend geschwächt.  Parallel verläuft der Prozess zur Entsolidarisierung, denn die Unverschämtheit besteht immer darin, die eigenen Interessen rücksichtslos, auch auf Kosten der anderen zu verfolgen. Die Gesellschaft wird mit jedem Verlust der Schamsensibilität soziopathischer, egoistischer und empathieloser. 

Demokratie und Schamverdrängung

Der politische Konkurrenzkampf um die Macht und den Einfluss auf die Steuerung der Gesellschaft ist Teil der Demokratie. Je mehr soziopathische Elemente in diese Auseinandersetzungen einfließen, desto schwieriger wird die Konsensfindung und desto emotionalisierter werden die Konflikte. Denn verdrängte Angst- und Schamgefühle führen die Regie und drängen die Vernunft, das Wissen und die Wissenschaft in den Hintergrund. Psychologisch betrachtet sind es die traumatisierten inneren Kinder der Protagonisten und ihrer Wähler, die die Geschicke einer hochkomplexen Gesellschaft und Ökonomie lenken wollen und dabei restlos überfordert sind.

Deshalb ist es demokratiepolitisch von höchster Bedeutung, dass wir einen bewussten Umgang mit der Scham in ihren vielen Varianten finden. Für das Funktionieren demokratischer Entscheidungsfindungsprozesse brauchen wir die Ausbildung und Pflege der Emotionalkultur, und hierbei besonders der Schamsensibilität, in allen Bereichen der Gesellschaft, also im Bildungssystem vom Kindergarten bis in die Erwachsenen- und Seniorenbildung, in den klassischen und modernen Medien und in den öffentlichen Diskursen. Die Macht, die in einer Demokratie vom Volk ausgeht, kann nur dann im Sinn des Gemeinwohls wirken, wenn das Volk soweit emotional erwachsen ist, dass es immun gegen soziopathische Manipulation ist und verhindert, soziopathische Persönlichkeiten in Machtpositionen zu hieven.

Zum Weiterlesen:
Homo corruptus und homo innocens
Kapitalismus und Sozialismus: Angst- und Schamorientierung
Die Solidaritätsschranke

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