Freitag, 6. Mai 2022

Geschehenlassen und Funktionieren

Wir stellen uns ein produktives und erfolgreiches Leben so vor, dass wir uns möglichst viel im Tun-Modus befinden. Wir haben unsere Listen von Dingen, die zu erledigen sind, und arbeiten sie Punkt für Punkt ab. Währenddessen kommen neue Dinge dazu, und auf diese Weise bleibt das Leben voll von Tätigkeiten. Manchmal tauchen Leerzeiten dazwischen auf, die uns unruhig werden lassen, weil wir dabei nachdenken, was denn zu tun wäre, damit die Leere gefüllt wird. Irgendwann gönnen wir uns eine Pause im Tun, die wir dafür nutzen, um Fitness fürs weitere Aktivsein zu tanken. 

Ein erfülltes Leben also? Oder befinden wir uns in dieser Orientierung die ganze Zeit in einem Zustand des Getriebenseins, sind wir da beständig unter Druck? Ein Termin folgt dem nächsten, ein Vorhaben reiht sich an das andere, stets haben wir das Gefühl, es ist nicht genug, wir haben es noch immer nicht geschafft. Es kann ein Gefühl sein wie beim Esel, der der Karotte vor der eigenen Nase nachrennt oder wie beim Hamster in seinem Rad. Es ist mehr ein Leben, das von Stress angefüllt ist als von Sinn. Es ist eine vergebliche und unendliche Suche nach dem Glück.

Wir wollen so viel machen, weil wir damit den Eindruck gewinnen, die Kontrolle über die Wirklichkeit mehr in unseren Händen zu haben und nicht so sehr äußeren Einflüssen ausgeliefert zu sein, die wir nicht überblicken können und die möglicherweise immer auch etwas Bedrohliches haben könnten. Wir wollen uns durch unsere Aktivitäten umfassend absichern, sodass nichts Unvorhergesehenes passieren kann, das uns dann aus der Bahn werfen könnte.

Die Einbahn des Funktionierens

Was ist das aber für eine Bahn? Sie wirkt wie eine Einbahn, die in eine im Wesentlichen immer gleiche Zukunft führt, geprägt von einem Funktionsmodus: Die Aufgaben, die sich stellen, abzuarbeiten, während sich dahinter gleich die nächsten Aufgaben anstellen, im Beruf wie im Privaten. Es ist eine Mühle des Müssens, in der das eigene Wollen keinen Platz und keine Nische finden kann. 

Der Verlust der spontanen Lebendigkeit

Kinder befinden sich die meiste Zeit in einem Zustand des Fließens. Sie wenden sich einmal diesem zu, dann jenem, verweilen bei einem Stein auf der Straße oder bei einer Blume, und im nächsten Moment ist wieder etwas anderes interessant. Sie kommen in Emotionen und sind völlig in ihnen gefangen, um ein paar Momente später wieder im Fluss des Geschehens zu sein. Sie schöpfen ihre Lebendigkeit aus dem, was jeder Moment gerade als Anregung und Herausforderung schenkt.

Warum geht diese Fähigkeit, mit dem Fluss des Lebens mitzugehen, verloren? Die Erwachsenenkultur verlangt andere Fähigkeiten, um in ihr das Überleben zu sichern. Das wissen die Eltern und bereiten ihre Kinder darauf vor, indem sie ihre Fließerfahrungen unterbrechen. Es sind analoge Abläufe, die das Leben des Kindes bisher bestimmt haben: Die Rhythmen des Organismus, der Hunger hat, verdaut, entspannt, anspannt, der Wahrnehmungen von außen aufnimmt und verarbeitet, der sozial interagiert und sich mit der Umgebung austauscht. Mehr und mehr kommen digitale Abläufe dazu, die nicht mehr von einem Kontinuum geprägt sind, sondern von Unterbrechungen. Das Kind spielt, die Mutter kommt und sagt, dass es Zeit ist zu gehen. Das Kind protestiert und fügt sich dann irgendwann. Es ist aus einem Flusszustand herausgerissen und taucht, sobald es wieder geht, in einen neuen ein. 

Finden solche Unterbrechungen mit Härte statt, also mit Strenge und Sturheit und nicht mit Verständnis und Eingehen, werden also die Nöte des Kindes, das unter der Unterbrechung leidet, übergangen, so entwickelt sich ein Gefühl der Feindlichkeit und Fremdheit dem ausgeübten Verhaltensdruck gegenüber. Irgendwann ändert sich die Einstellung, und die Entfremdungserfahrung wird nach innen gerichtet, auf sich selbst. Das Funktionieren gemäß äußerer Anforderungen wird zur eigentlichen Natur, während die innere Beziehung zum Flussmodus verloren geht. 

Die Weitergabe der Überlebensprogramme

Dieser Umschwung geschieht vor allem dann, wenn die Eltern immer wieder ihre eigenen Überlebensprogramme im Kontakt mit den Kindern abspulen. Sie unterbrechen den Lebensfluss, in dem sich die Kinder befinden, auf ähnliche Weise, wie es ihre Eltern mit ihnen gemacht haben. Daraus haben sie ihre Überlebensstrategien entwickelt und vermitteln ihren Kindern die Notwendigkeit, aufs Neue solche Strategien auszubilden. Natürlich werden sie auf diese Weise auf die Gesellschaft und ihre Ansprüche vorbereitet, ob die Eltern es wollen oder nicht.

Den Kindern wird damit unbewusst beigebracht, dass sie kein selbstverständliches Recht auf ihre Existenz und ihre Grundsicherheit haben, sondern dass sie dieses Recht nur bekommen, wenn sie durch ihre Anpassungsleistungen beweisen, dass ihre Überlebensstrategien zu den Anforderungen der Gesellschaft und Wirtschaft passen. Das bedeutet, dass die ursprünglichen Geburtsrechte aberkannt werden; sie kommen nicht einfach dem Menschen qua seiner Existenz zu, sondern sie müssen erarbeitet werden, durch die Anpassung an die gesellschaftlichen Erwartungen. 

Digitale Normen im Schulsystem

Das Schulsystem verstärkt diese Tendenzen weiter. Die digitalen Abläufe dominieren, vorgegebene Aufgaben müssen erfüllt und Zeitpläne eingehalten werden. Die Schulglocke ist wie ein Symbol für die Außensteuerung der Zeit. Die inneren Bedürfnisse der Kinder müssen sich diesen Rhythmen unterordnen – es soll nicht mehr Hunger spüren, wenn ihn das Bauchhirn meldet, sondern wenn die Schulglocke die Pause einläutet. 

Die Erwachsenenwelt fordert, dass wir unsere Brötchen „im Schweiße des Angesichts“ verdienen müssen und dafür unsere Leistungen erbringen. In den meisten Bereichen der modernen Arbeitswelt gelten Anforderungen, die vom Gegenprinzip des Fließens geprägt sind. Es sind Aufgaben, die unter einem Zeitdruck erledigt werden müssen, gleich wie die innere Verfassung gerade beschaffen ist. Gefragt ist nicht der aktuelle innere Zustand und die aktuelle Verbindung mit der umgebenden Wirklichkeit, sondern das Erfüllen einer vorgegebenen Leistungserwartung. Wir haben darüber keine unmittelbare Kontrolle, sondern fühlen uns gezwungen, zu tun, was verlangt ist. Wir brauchen dafür den Funktionsmodus, mit dem wir unsere Aufgaben abarbeiten. Funktionieren heißt, dass wir unsere innere Befindlichkeit hintan stellen und ignorieren, so gut und solange es geht. Wir reizen gewissermaßen den Toleranzbereich aus, den unser Organismus zur Verfügung hat, um mit Stress umzugehen. Früher oder später merken wir allerdings, dass wir an eine Grenze gekommen sind oder dass wir sie schon überschritten haben.

Die Sinnfrage

Oft meldet sich an diesem Punkt die Scham, die mit der Erkenntnis verbunden ist, an sich selbst vorbei gelebt zu haben oder großteils vorbei zu leben. 

Diese Scham ist oft verbunden mit einer Sinnfrage: Worum geht es mir eigentlich in meinem Leben? Soll das Weiterhecheln von einer Erledigung zur nächsten, von einem Termin zum nächsten alles sein, worum es im Leben geht? Nichts von dem erfüllt mich wirklich, wo finde ich mehr Glück?

Das Auftreten der Sinnfrage ist ein typisches Indiz für den Verlust des Zugangs zum Flussmodus. Erst wenn wir merken, dass wir aus diesem Zustand herausgefallen sind, stellt sich die Frage nach dem Sinn. Die Antwort ist eigentlich ganz einfach, doch übersehen wir sie oft, weil wir im Funktionsmodus feststecken: Lass geschehen, was geschieht – dann verliert die Frage ihre Bedeutung. Wenn wir uns auf diese Formel besinnen, merken wir bald, dass sich etwas in uns entspannt und erleichtert. Es ist, als wären wir in einer neuen Welt angekommen, einer Welt, die jenseits der Leistungszwänge und Terminforderungen existiert und die wir schon so lange verloren haben, dass sie uns wie neu erscheint. 

Zum Weiterlesen:
Tun und Geschehenlassen
Funktions- und Flussmodus
Funktional und fließend wahrnehmen
Das Geschehen und der Verstand


Samstag, 30. April 2022

Unterstellungen und ihre Ursprünge

Unterstellungen kommen immer wieder vor in der menschlichen Kommunikation. Damit ist gemeint, dass wir Annahmen über das Innere unserer Gesprächspartner bilden, die uns als real erscheinen, ohne dass wir dafür eine stichhaltige Begründung haben. Auf der juridischen Ebene können Unterstellungen schwerwiegende Folgen haben, wenn sie den Tatbestand der Verleumdung oder der üblen Nachrede erfüllen. Der Rechtsstaat schützt in diesen Fällen das Ansehen aller Staatsbürger vor ungerechtfertigter öffentlicher Beschämung. Erfolgen Unterstellungen hinterrücks, so bilden sie die Grundlage für Mobbing. In der Alltagskommunikation erzeugen sie Unstimmigkeiten und Konflikte oder werden in solchen als Angriffsinstrument verwendet.

Sie betreffen Absichten, Gefühle, Gedanken sowie Werte und Haltungen:

  • Absichten: Du bist mir absichtlich auf die Zehen getreten.
  • Gefühle: Du magst mich nicht.
  • Gedanken: Du denkst immer abwertend über mich.
  • Werte und Haltungen: Du bist ein Chauvinist (Rassist, Linker, Rechter)

Politische Propaganda und Unterstellungen

In der politischen Debatte gehören Unterstellungen offenbar zum täglichen Kleingeld der Scharmützel. Schnell wird dem Gegner Käuflichkeit oder Verlogenheit vorgeworfen. Werden politische Akteure direkt auf diese Weise angegriffen, kommt es häufig zu Gerichtsverfahren, in denen dann das Zutreffen der Unterstellungen untersucht wird.

Auch auf der internationalen Ebene wird fleißig mit Unterstellungen gearbeitet und für Außenstehende ist es oft schwierig, die Sachverhalte zu klären und zu unterscheiden, wo es um bloße Propaganda oder um Fakten geht. Aktuelle Beispiele: Ukraine: Russland bombardiert absichtlich Kindergärten und Spitäler. Wir wissen, dass Kindergärten und Spitäler vernichtet wurden; wir wissen aber nicht, ob es Absicht oder Versehen war. Russland: Die Ukraine produziert biologische Kampfstoffe. Es gibt aber bisher keine Hinweise oder Beweise. Propagandistische Unterstellungen werden in diesem Fall wie auch in anderen benutzt, um die eigenen Angriffs- und Zerstörungsabsichten zu rechtfertigen.

Unterstellungen in Alltagskonflikten

Wenn wir uns in Auseinandersetzungen bedroht fühlen, greifen wir manchmal zum Mittel der Unterstellung. Es besteht darin, der anderen Person Gedanken, Gefühle oder Absichten anzuhängen, so, als wüssten wir genau, was in der anderen Person abläuft. Wir sind gerade gefangen in den eigenen Gefühlen, sind verletzt und verärgert, weil uns die andere Person unrecht getan hat und wehren uns, indem wir dem Gegenüber unsere Mutmaßungen unterjubeln. Wir verwechseln unser Spekulieren und Fantasieren mit dem Inneren unseres Gegenübers. In solchen Zusammenhängen verwenden wir Äußerungen wie: „Du hörst mir nicht zu.“ (Woher wollen wir das wissen?) „Du verstehst mich nicht.“ (Könnte sein oder auch nicht!)

Eine Gangart wird zugelegt, wenn Sätze kommen wie: „Du willst mir die Laune verderben, wenn du mich so unfair kritisierst.“ „Du musst mich hassen, wenn du so etwas zu mir sagst.“ „Du kannst nur Böses über mich denken, wenn du dich so verhältst.“

Wir vermeinen in diesen Situationen, dass wir über die besondere Gabe des Gedanken-, Gefühle- oder Absichtenlesens verfügen, die wir vor allem dann aktivieren, wenn wir uns durch andere Personen bedroht, verletzt oder beschämt fühlen. Wir tun so, als ob die Mitmenschen wie offene Bücher für uns sind, die wir nur aufschlagen müssen, und schon wissen wir, was da los ist und können diese Erkenntnisse gegen sie verwenden. Tatsächlich aber blättern wir dauernd in unseren eigenen Notizen und in den alten Aufzeichnungen aus dem Archiv unseres defensiven Denkens mit seinen selbstkonstruierten Annahmen, Erwartungen, Vermutungen und Konzepten.

Wenn wir namhaft und dingfest machen können, was im Gegenüber gerade abläuft, glauben wir, die Situation kontrollieren zu können. Wir haben die andere Person durchschaut und ihre bewussten und unbewussten Antriebe bloßgelegt. Damit verringert sich das Ausmaß der Bedrohung. Und wir können die andere Person in einen schamvollen Zustand versetzen, der sie außer Gefecht setzt und wehrlos macht. Sie ist aufgeblättert, und es liegt zu Tage, wo die Ursache und die Schuld am Zerwürfnis zu finden ist. Sie muss klein beigeben und ihre Mangelhaftigkeit und Schuld einbekennen, weil sie durchschaut und damit ihrer Waffen entledigt ist. Wenn wir der anderen Person auf den Kopf zusagen können, was sich in ihrem Inneren abspielt, soll sie Einsicht zeigen und ihr Verhalten sofort ändern. Wir gewinnen damit eine Machtposition, von der wir uns Schutz erhoffen. Denn unser eigenes Inneres bleibt unberührt, während das der anderen Person im kritischen Rampenlicht steht.

Psychologisieren

Unterstellungen dienen folglich als Machtmittel zur Durchsetzung der eigenen Sicht auf die Dinge. Meist bedienen wir uns dabei des Psychologisierens. Denn die Psychologie stellt uns viele begriffliche Möglichkeiten zur Verfügung, mit denen wir unsere Projektionen anbringen. Menschen mit psychologischer Bildung oder Halbbildung nutzen deshalb gerne psychologisch aufgeladene Unterstellungen: „Du solltest diesen Ärger deiner Mutter umhängen, nicht mir.“ „Du denkst wieder einmal wie dein Vater.“

Allerdings wissen wir aus der Psychologie ebenfalls: Nicht nur die Fantasien, die wir über andere und deren Innenleben entwickeln, gehören zu uns, sondern auch deren Wurzeln und Hintergründe. Es sind meistens Ängste und Beschämungserfahrungen, die wir von früher kennen und die wir dann in die andere Person projizieren, wenn in uns ein ähnliches Gefühl auftaucht, wie eines, das wir schon einmal unter unangenehmen Umständen erlebt haben. Wir sollten dafür die Verantwortung übernehmen, statt sie dem Gegenüber aufzuladen.

Zu diesem Zweck lehrt uns die Psychologie, Feedback-Sätze mit „Ich“ zu beginnen statt mit „Du“. Es wird viel schwieriger, eine Unterstellung vorzunehmen, wenn wir eine Ich-Botschaft wählen: „Ich habe das Gefühl, du verstehst mich nicht.“ Indem die Perspektive gewechselt wird, wird die Angriffsenergie entschärft. Der Sprecher bleibt im eigenen Rayon und teilt sich aus seiner Welt mit. Die Tatsachenbehauptung wird auf eine Vermutung zurückgestuft. Es bleibt nur die Unklarheit, ob es ein Gefühl namens „der-andere-versteht-mich-nicht“ gibt oder ob das nicht eher eine mentale Konstruktion darstellt. Manchmal, und das ist auch eine verbreitete psychologisierende Unsitte, wird der Begriff „Gefühl“ verwendet, um etwas Untrügliches und Unhinterfragbares, gewissermaßen einen Fixstern in die Debatte einzubringen. Gegen Gefühle kann man nicht argumentieren. Würde man hingegen sagen, man hätte den Eindruck, nicht verstanden zu werden, wäre das neutraler und nähme den manipulativen Gehalt weg.

Beschämungsfolgen

Bei genauerem Hinsehen erkennen wir, wie wir die Beschämung in mehrfacher Weise nutzen: Zum einen dringen wir in die andere Person ein und kehren ihr Inneres nach außen. Wir zerren Intimes an die Öffentlichkeit, was bei der anderen Person Scham auslöst. Weiters geben wir vor, dass wir besser als die Angesprochenen selbst wissen, was in ihnen ist, nämlich was ihre versteckten und verborgenen Impulse und Regungen anbetrifft. Wir wollen ihnen glaubhaft machen, dass ihre Eigenwahrnehmung schlechter ist als unsere Einsichten von außen. Wir werten sie ab und beschämen sie dadurch. Schließlich bietet der Inhalt des Unterstellten – die böse Absicht, der schlechte Gedanke, das feindliche Gefühl – Anlass für Beschämung und will auch beschämen: Es sind Mängel und Fehlerhaftigkeiten, die angeprangert werden und die betroffene Person in ein schlechtes Licht stellen, und die Veröffentlichung soll dazu führen, dass es zu einer Veränderung kommt, sodass das verletzende Verhalten nicht mehr vorkommt. Da wir selber über Erfahrungen verfügen, in denen wir als Folge einer Beschämung unser Verhalten verändert haben – z.B. indem wir in der Folge bestimmte Gefühlsäußerungen, verbale Wendungen oder Handlungen unterdrückt haben –, meinen wir, dass das Machtmittel der Beschämung auch im aktuellen Fall Abhilfe schaffen wird.

Natürlich hängt es von der Reaktion der angesprochenen Person ab, sie kann sich fügen und verändern. In ihr verbleibt aber das gleiche innere Ressentiment, das wir selber aus unserer früheren Beschämungssituation kennen und das mit dem heimlichen Wunsch verbunden ist, es einmal heimzuzahlen. Es kann aber auch zur Abwehr kommen, zu einem Gegenangriff oder einer Gegenunterstellung, und die Auseinandersetzung verschärft sich und eskaliert. Es kann die andere Person auch erkennen, was abläuft, und die Unterstellung als Unterstellung benennen und sich dagegen abgrenzen. In all diesen Fällen zeigt sich, dass das Kommunikationsmittel der Unterstellung keinen wirklichen Erfolg bringt, sondern die Beziehungssituation zusätzlich anheizt und verschlechtert.

Manchmal fühlt sich jemand ertappt oder erkannt – die Unterstellung hat, wenn vielleicht nicht in allen Aspekten, doch einen wunden Punkt getroffen. In den meisten Fällen wird dann die Abwehr besonders heftig ausfallen oder zum totalen Rückzug führen. Es bedarf dann einer hohen Schamkompetenz und integrer Reife, zu sagen, dass etwas an dem, was vermutet oder interpretiert wurde, stimmt und dass man sich damit auseinandersetzen wird.

Unklare Grenzen zwischen innen und außen

Die Tendenz zum Unterstellen stammt aus einer Schwäche in der Unterscheidungsfähigkeit zwischen innen und außen. Wir verfügen über keine klare Grenze zwischen dem, wo wir selber sind und wo wir aufhören, und dem, wo der andere ist und aufhört. Diese Schwäche stammt aus Erfahrungen mit Grenzüberschreitungen. Wenn Eltern oder Erziehungspersonen die physischen oder emotionalen Grenzen des Kindes nicht respektieren z.B. durch Gewalt oder Bedürfnismanipulation, wird es schwierig für das Kind, ein realitätsgerechtes Gefühl für die eigenen Grenzen zu bilden. Sie werden zu durchlässig und schwammig. Aus den unklaren, konfluenten Grenzen entsteht die Grundlage für Unterstellungen, die sich als Gefühls- und Gedankenlesen ausgeben: So wie meine Grenzen überschritten wurden, überschreite ich sie jetzt. Die eigene Sphäre dehnt sich nach Belieben aus, weil sie von der Sphäre des anderen nicht unterschieden ist. Deshalb weiß ich besser als du selber, was in dir abläuft.

Alle Unterstellungen, die mit Projektionen arbeiten, stammen also aus erlittenen Grenzverletzungen. Häufig geschieht dies durch Fehlinterpretationen der eigenen Bedürfnisse: Eltern „lesen“ die Bedürfnisse ihrer Kinder falsch und geben ihnen, was sie nicht brauchen, während sie ihnen das vorenthalten, was sie bräuchten. Kinder leiten aus solchen Erfahrungen ab, dass sie selber falsche Bedürfnisse haben und dass sie die Unterstellungen ihrer Eltern zu den richtigen Bedürfnissen führt. Sie verlernen dabei, ihrem eigenen inneren Sinn zu vertrauen und können deshalb auch dem inneren Sinn von anderen nicht vertrauen. Sie lernen, stellvertretend zu fühlen, statt sich selber. Denn sie müssen auch lernen, die Eltern zu manipulieren, um zumindest einige der Eigeninteressen durchbringen zu können.

Die Beschämung, die mit dem Prozess der Uminterpretation der eigenen Bedürfnisse einhergeht, wird dann später anderen durch den Vorgang der Unterstellung zugefügt. Da die eigenen Grenzen nicht geachtet wurden, gelingt es später nicht, die Grenzen anderer zu achten. Es besteht kein klares Gefühl dafür, was ein respektvoller Umgang mit Grenzen sein könnte. Im Ernstfall, wenn es zu kommunikativen Spannungen kommt, wird das Grenzüberschreiten mittels Unterstellungen zur Waffe. Ich dringe in die Innenwelt des anderen ein, so wie in meinen Innenraum eingedrungen wurde. So, wie andere besser wussten als ich selber, was in mir ist , weiß ich jetzt besser, was in anderen ist, als sie selber.

Wie können wir mit Unterstellungen umgehen?

Zunächst sollten wir in uns selber überprüfen, ob die Aussage, die die Person über uns trifft, zutrifft oder nicht. Ist uns klar, dass wir nicht fühlen, denken oder beabsichtigen, was uns angedichtet wird, sollten wir uns klar und unmissverständlich dagegen abgrenzen: „Ich sehe – erlebe – fühle es so und nicht so. Ich habe diese Absichten und nicht jene.“ Wir sind die Experten für unsere eigene Innenwelt, wir wissen, was da stimmt und was nicht. Wir verfügen über die Fakten, die andere Person hat nur ihre Fantasie.

Jedenfalls sollten wir alles, was uns als Unterstellung erscheint, nicht einfach übergehen. Denn das könnte die unterstellende Person in ihren Meinungen über uns befestigen und unseren Ruf und unser Ansehen schädigen. Es ist wichtig, auf die Klärung der Faktizität und Authentizität zu dringen, um uns selbst und den Kommunikationsraum frei zu halten von Projektionen und manipulativer Machtausübung. Wir dürfen uns auf keinen Fall die Oberhoheit über unseren Innenraum streitig machen lassen und sollten alles, was da hinein interpretiert wird, ruhig und entschieden zurückweisen. Wir sind für unseren Grenzschutz zuständig und

Ein freundlich und unterstützend gemeintes Feedback stellt ein anderes Kaliber dar als offen oder versteckt aggressive Unterstellungen mit Vorwurfsgehalt und Änderungsappellen. Es ist die Absicht, die den Unterschied macht. Und wir sollten uns immer vergewissern, welche Absicht die andere Person hat, indem wir rückfragen. Denn aus unserem eigenen Spüren heraus wissen wir nur, was in uns selber los ist; für das Außen brauchen wir andere zusätzliche Quellen, um zur Gewissheit zu gelangen.

Zum Weiterlesen:
Psychologisieren - eine moderne Untugend

Grenzen und Durchlässigkeit

Krieg und Propaganda

Wenn Fiktion zum Faktum wird

Donnerstag, 28. April 2022

Die Traumwelt und die Moderne

Beim Träumen (gleich ob beim Tag- oder Nachtträumen) befinden wir uns in einem besonderen Zustand, der über eine eigene Form der Realitätswahrnehmung verfügt. Während des Träumens erleben wir meistens unsere Erfahrungen als so wirklich wie die Wirklichkeit während des Wachens. Erst wenn wir aufwachen, erkennen wir, dass wir in einer anderen Wirklichkeit waren, die weniger wirklich ist als die im Wachzustand erlebte Welt. Den Unterschied zwischen Wach- und Traumzustand können wir also nur im Wachzustand feststellen. 

Traumzustände sind ein wichtiger Teil unseres Lebens – ohne Träumen können wir nicht gesund bleiben. In den Traumphasen des Schlafes wird das prozedurale Gedächtnis trainiert. Emotionale Themen werden verarbeitet. Das Gehirn wird gereinigt und auf die Tagesaktivitäten vorbereitet. Der Mangel an Traumphasen während des Schlafes bewirkt Unkonzentriertheit, Nervosität und Müdigkeit. Die Traumphasen umfassen ca. 15 – 20 % des Nachtschlafes. 

In unserer individuellen Entwicklung kommen wir aus einer Welt der Verwobenheit von Wach- und Traumzuständen. Ungeborene träumen sehr viel mehr als Erwachsene. Von Babys und Kleinkinder wird vieles an der Wachwirklichkeit als wundersam, unverständlich und vieldeutig erlebt und trägt also noch die Attribute des Traumhaften. Zug um Zug wachsen wir aus dieser doppeldeutigen Weltsicht heraus, das Magische und Mythische zieht sich langsam zugunsten der rationalen Weltsicht zurück. Wir lernen eine Sprache mit ihren Regeln, unterscheiden Fakten und Fiktionen, inkorporieren die Normen unserer Kultur und machen uns mit abstrakten Begriffen und Ideen vertraut. Wir beginnen, die komplexen Zusammenhänge der Welt der Erwachsenen zu erforschen und ihre Geheimnisse zu entschlüsseln. Unser Gehirn wechselt in dieser Zeit von einer rechtshemisphärischen Dominanz zu einer linkshemisphärischen. Wir durchlaufen einen Prozess der Entmystifizierung und Rationalisierung. Auf diese Weise wachsen wir in die Erwachsenenwelt und ihre Erfordernisse hinein. 

In der kollektiven Entwicklung der Menschheit sehen wir eine ähnliche Tendenz. Die frühen tribalen Kulturen, in denen die Menschen in enger Verbindung zur Natur und zu den Geistern lebten, sahen verschiedene Erfahrungsebenen als gleichwertig, die sich miteinander wechselseitig beeinflussen. Erzählungen, die ein Zwischenglied zwischen der emotionalen und rationalen Ebene darstellen, waren das wichtigste Element für die Weitergabe von Wissen und Weisheit. Der Mythos hatte einen höheren Stellenwert als die Geschichtsschreibung. Diese Kultur hat sich bei uns vor allem über Märchen und Sagen erhalten. Auch die moderne Unterhaltungswelt ist voll von Aspekten der Traumwelt. 

Der Siegeszug der Rationalität 

Schon in der griechischen Philosophie wurde die Wichtigkeit des Wachbewusstseins betont, z.B. im berühmten Höhlengleichnis von Platon. Mit der spätscholastischen Philosophie gegen Ende des europäischen Mittelalters begann spätestens der Wechsel von der Dominanz der Traumwelt zur Dominanz der Wachwelt. Der Aufstieg der Wissenschaften mit ihren Erkenntnissen, die neue Technologien und Wirtschaftsweisen hervorbrachten, bildete die Grundlage für die Aufklärung, für das Erwachsenwerden der Menschen und ihrer Gesellschaftsformen. Hand in Hand mit der Propagierung der allgemeinen Menschenrechte ging der Kampf gegen Aberglauben und Ideologien. Es handelt sich um eine Entwicklung, die nicht mehr rückwärts laufen kann. Denn die Rationalität ist über die Technik so tief in die moderne Lebenswelt eingebaut, dass es kein Zurück mehr geben kann, sondern dass dieser Trend vielleicht nicht linear, aber stetig weiter in diese Richtung gehen wird, ob wir das wollen oder nicht. 

Die Basis für die rationale Festlegung von Normen über das, was Fakt ist und was nicht, sowie darüber, wie soziale Entscheidungen getroffen werden, wird in rückbezüglichen Prozessstrukturen festgelegt: Jeder Schritt in der Wahrheits- oder Entscheidungsfindung wird überprüft und kontrolliert und im Fall des Irrtums revidiert. Die Prinzipien dieser Prozesse sind offengelegt und für jede Person einsichtig und nachvollziehbar, z.B. in der Verfassung eines Staates oder in Regeln zur Testung von Medikamenten. Die Vorstellung von absoluten Wahrheiten, die mit der mythologischen Weltsicht verträglich ist, wird zugunsten von relativen Wahrheiten aufgegeben: Wahrheit, die so lange gelten, bis sie durch bessere ersetzt werden. Das Innehaben oder Besitzen von Wahrheiten durch Eliten weicht fortlaufenden Prozessen der Annäherung an die Wahrheitsfindung, die Wahrheitsproduktion durch einzelne geniale Individuen tritt hinter der Wahrheitserforschung in Teams und Gruppen zurück. Diese Wahrheiten sind für alle gleichermaßen zugänglich, ebenso wie die Methoden, durch die sie gewonnen werden. Diese Zugänglichkeit hat sich durch das Internet auf nie dagewesene Weise auch praktisch weltweit demokratisiert. 

Rationalität als Voraussetzung für Diskurse 

In der Moderne können sich nur Menschen sinnvoll und für die Allgemeinheit förderlich einbringen, die ihre Rationalität von ihrer Traumebene trennen können und wissen, wann sie da und wann sie dort sind. Sie müssen Argumente von Erzählungen und Mythenbildungen unterscheiden können. Der politische Diskurs in einer Demokratie kann nur auf der Basis von Rationalität, die in der Nutzung der Vernunft besteht, und gegenseitiger Achtung funktionieren und weiterführende Resultate hervorbringen.  

Die Mechanismen und Strategien, die das demokratische Regieren und die empirische Wissenserforschung auszeichnen, beruhen auf der autonomen Wachwelt und den Kompetenzen, die mit ihr zusammenhängen. Das sind die Fähigkeiten, die für das Überleben und die Entwicklung der Menschheit unter immer komplexer werdenden Rahmenbedingungen unabdingbar sind. Diese Prozesse funktionieren aber nur, wenn die Traumwelt draußen bleibt. Sie darf sich also nicht unbemerkt einschleichen, wenn Entscheidungen getroffen oder wissenschaftliche Erkenntnisse produziert werden. Die klare Trennung von Wachwelt und Traumwelt ist das Erfolgsrezept der Moderne. Wo sie unterlaufen wird, kommt es zu kollektiven Regressionen, mit stark schädlichen Folgen und Verwerfungen auf allen Ebenen der Gesellschaft. 

Denn überall, wo sich das Traumerleben in die Erwachsenenwelt unerkannt einschleicht, erwachsen  vielfältige Probleme. Im individuellen Bereich sind es die Ängste aus den frühen Phasen des Lebens, die uns aus der aktuellen Wirklichkeitserfahrung herausholen und in Traumaschleifen verwickeln. Wir verlieren dadurch unsere Klarheit und soziale Verbindlichkeit. In Extremfällen kommt es zu psychischen Störungen und Krankheiten.  

Ideologien als Schlupflöcher der Traumwelt 

Auf der kollektiven Ebene sind es Ideologien, mit denen versucht wird, die aktuelle Realität mit Hilfe von Traumgespinsten zu erklären und zu bewältigen. Sie bilden das Einfallstor der Traumwelt in die Moderne. Ideologien nutzen Traumelemente, –motive und –logiken, um die Menschen für sich einzunehmen und sie auf ihre Seite zu bringen. Damit greifen sie den Kern und die Grundlagen der Moderne und der Aufklärung an: Die Ausgrenzung der Traumlogik, um allgemein verbindliches Erkennen, Wissen und Handeln zu ermöglichen. Mit den Ideologien schwappen die Gefühle in die Argumentationen und vernebeln die Entscheidungsprozesse. 

Die Ideologien unterlaufen die Notwendigkeit einer klaren Abgrenzung der Vernunftwelt von der Traumwelt, indem sie suggerieren, dass die Traumlogik der Wachlogik überlegen ist. Mit ihrer emotional ansprechenden Evidenz erreichen sie ihre Anhänger, die dann der Versuchung unterliegen, Vereinfachung als Mittel gegen die Komplexität, gefühlsgeleitetes Handeln statt argumentativer Entscheidungsformen. 

Ein Beispiel bildet der Antisemitismus, der viele Menschen dazu bringt, Juden generell abzulehnen und böser Absichten zu verdächtigen. Viele der Antisemiten kennen gar keine Juden persönlich, und der Antisemitismus ist dort am stärksten verbreitet, wo am wenigsten Juden leben. Es geht also nicht um faktische Erfahrungen, die die Judenfeindschaft begründen, sondern um einen Glauben, der jeder eigenen Erfahrung übergeordnet wird. “Ja, die Juden, die ich kenne, sind in Ordnung. Aber das sind die Ausnahmen, und alle anderen sind unsympathisch und gefährlich.”  

Erzählungen, wie in diesem Fall die Erzählung von der Bosheit und Verschlagenheit der Juden, sind immer subjektiv, willkürlich und unlogisch, sie folgen einer Traumlinie und keinen Kausalketten oder argumentativen Folgerichtigkeiten. Sie orientieren sich nicht an Fakten, sondern an Gefühlen. Sie sind also primär innengelenkt, während die Rationalität immer Inneres und Äußeres voneinander unterscheidet und aufeinander bezieht. Sie beziehen ihre Evidenz aus Gefühlszusammenhängen, aus emotionaler Betroffenheit, aus Gestalten des Unbewussten. 

Herrschaftsfreie Diskurse 

Den Raum des herrschaftsfreien Diskurses, den Jürgen Habermas als Voraussetzung für die Regelung einer modernen, aufgeklärten Welt vorgeschlagen hat, können wir nur im autonomen Wachbewusstsein betreten. Einmischungen aus der Traumwelt machen uns anfällig für Machtallüren und ideologische Verblendungen. Es regieren Gefühle und keine Argumente. Die Diskurskultur wird zerstört und statt des Herauskristallisierens der jeweils besten Lösungen und Entscheidungen tritt der Kampf um die Durchsetzung von Eigeninteressen.  

Menschen, die unter dem Einfluss ihrer Traumwelt handeln, können zu Verbrechern ohne Schuldgefühle werden. Selbstmordattentäter z.B. folgen ihrer irrationalen Traumerzählung, in der sie zu gottgesandten auserwählten Rächern des Bösen fantasiert werden. Macht- und ideologiebesessene Politiker entfesseln Kriege und zerstören Menschenleben ohne jede Scham.  

Wo die Bewusstseinsebenen nicht auseinandergehalten werden, wo also das Traumbewusstsein mit dem rationalen Wachbewusstsein vermengt wird, entwickeln sich auf der individuellen Ebene schwere Pathologien bis zu Psychosen und auf der gesellschaftlichen Ebene Ideologien und Machtfantasien. 

Das Phänomen des Faschismus wird nur verständlich, wenn diese Vermischung der Bewusstseinsschichten auseinandergelegt wird. Mit mythischen Bildern und Metaphern begründet, die von archaischen Ängsten aufgeladen waren, wurde die Verhetzung und Vernichtung von Minderheiten gerechtfertigt. Nicht umsonst wirkt diese Zeit des Grauens wie ein Alptraum in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Aber auch den gegenwärtigen Krieg in der Ukraine können wir nur verstehen, wenn wir die verzerrten Traumelemente erkennen, die die Zerstörungskräfte antreiben. 

Das kreative Träumen 

Wir brauchen aber auch Träume für die Weiterentwicklung unserer Zivilisation und unserer Seele. „I have a dream” - mit dieser Traumbotschaft begeisterte Martin Luther King die amerikanische Bürgerrechtsbewegung. „Maybe I’m a dreamer” steht über den imaginierten visionären Zukunftshoffnungen von John Lennon. Wir sollen zuerst eine bessere Welt erträumen, damit wir sie Schritt für Schritt herstellen können. Das sind Wachträume, die wir bewusst als solche erleben und klar von der Wachwirklichkeit unterscheiden können. Sie schenken uns Impulse, deren Inspiration wir brauchen, um die Welt aus ihren begrenzenden Mustern herauszuführen. „Give peace a chance!” 

Zum Weiterlesen:
Der trügerische Zauber der Illusion
Kreative und reaktive Fantasien


Mittwoch, 27. April 2022

"Vater Staat" und die kollektiven Traumatisierungen

Wir neigen dazu, den Staat als moralisches Subjekt zu sehen, indem wir auf ihn unsere Erwartungen von Gut und Böse projizieren: Der Staat  A ist eine Diktatur, also ist er böse. Der Staat B hat eine gut funktionierende Demokratie, also ist er gut. Der Staat A nimmt Flüchtlinge auf, also ist er gut oder böse, je nach eigener Werthaltung usw. Der ehemalige US-Präsident Bush jun. hat eine Liste von Schurkenstaaten publiziert, um seine Vorstellungen von guten und bösen Staaten in die Welt zu posaunen. Aber auch in unseren Köpfen finden sich solche Listen, mit denen wir uns in der Staatenwelt orientieren. Dabei tun wir so, als wären Staaten menschliche Subjekte mit viel oder mit mangelhafter Moral.

Moralverfehlungen sind subjektiv

Fehlende Moralität können wir allerdings nur einzelnen Menschen vorwerfen. Selbst bei Menschengruppen ist es schon schwierig, einen gemeinsamen Bewertungsmaßstab anzulegen – sofort wird sich jemand aus einer Gruppe melden, der wir Unachtsamkeit vorwerfen, der sich nicht davon betroffen fühlt und sich über das ungerechtfertigte Verurteiltwerden beschwert. Die Frage einer Kollektivschuld wurde zwar nach dem 2. Weltkrieg diskutiert, wurde aber weitgehend abgelehnt. Im Strafrecht gibt es nur das Verschulden von Einzelpersonen.

Wir haben die Angewohnheit, die Geschichte als Prozess der Auseinandersetzung von verschiedenen Staatsgebilden zu verstehen, z.B. der Staat A führt Krieg gegen den Staat B. Wir nehmen Staaten als handelnde Subjekte wahr, was auch nicht so verwunderlich ist, weil die Machthaber in verschiedenen Staaten anstreben, ihre Staatsbürger geschlossen hinter sich zu vergattern. Die Botschaft lautet: Wir führen jetzt Krieg, weil wir das Böse bekämpfen, das der andere Staat repräsentiert. Alle müssen mitkämpfen, da sonst das Böse obsiegt. Wer nicht mitkämpft oder unseren Standpunkt teilt, ist selber böse, gehört aus dem Ganzen des Staates ausgeschlossen und muss ebenfalls bekämpft werden.

Einerseits treten Staaten als handelnde Subjekte auf (z.B. der Staat A erklärt dem Staat B den Krieg), andererseits ist dieses Handeln nichts anderes als die Summe von Einzelaktionen von Einzelpersonen (Kriege ordnen Politiker an und führen Soldaten durch). Jede staatliche Aktion geht ebenfalls auf Einzelpersonen zurück, z.B. dekrediert ein Präsident, berät eine Regierung oder beschließt ein Parlament bestimmte Maßnahmen. Als gut oder böse können nur die Handlungen von diesen Personen bewertet werden. Ein eindeutigeres Beispiel: Seit George Bush jun. haben eine Folge von 9/11 alle US-Präsidenten Drohnenangriffe auf tatsächliche oder vermeintliche Terroristen auf der ganzen Welt angeordnet, die rechtlich gesehen Mordtaten darstellen, für die die Präsidenten persönlich verantwortlich sind und die nie geahndet wurden. 

Es wird zwar jeder dieser Präsidenten behaupten, seine Entscheidungen für den Staat und für das Wohl seiner Staatsbürger getroffen zu haben. Doch die Last der moralischen Verantwortung bleibt bestehen, für jeden dieser Präsidenten und für jeden auf diese Weise angeordneten Mord. 

Identifikation mit "Vater Staat"

Jedes Staatswesen enthält in sich ein kollektives Traumafeld, das aus den unmoralischen Handlungen in der Vergangenheit, die in seinem Namen begangen wurden, entstanden ist. Aus dieser Gemeinsamkeit, die auf unbewusste Weise die Staatsangehörigen zusammenschließt, erwachsen die Projektionen auf den „Vater Staat“. Er fungiert als die Verkörperung des guten wie des schlechten Vaters. Stolz- und Schamgefühle in Hinblick auf den eigenen Staat werden durch diese Identifikation erzeugt. Das geteilte Traumafeld schmiedet das Band, solange es unbewusst wirkt. Es ist die eingeschworene Gemeinschaft derer, die Traumatisierungserfahrungen teilen, welche diese Identifikation festlegt und unauflösbar machen, indem die Wurzeln im Dunkeln liegen. Denn Traumen üben eine starke Macht aus, weil und solange sie unbewusst sind. 

Ideologische Einebnungen

Die Gemeinsamkeit der traumatisierenden Erfahrung ist der Kitt, der das Staatsvolk zusammenhält. Politiker nutzen diese Gemeinsamkeit, um das Volk den eigenen Interessen und Vorhaben gemäß formen zu können. Der Kitt wird allerdings für ideologische Konstruktionen instrumentalisiert, d.h. es wird als einheitlich und geschlossen dargestellt, was nicht einheitlich und geschlossen ist. In der Realität sind alle Staatswesen heterogen und nie so monolithisch. wie es vor allem die Nationalisten suggeriert wollen. 

In Österreich z.B. gibt es ein weitgehend geteiltes kollektives Traumafeld durch den Nationalsozialismus und den 2. Weltkrieg, das bis heute wirkmächtig ist. Es betrifft die Individuen aber unterschiedlich: Wenn die eigenen Vorfahren Mittäter oder Mitläufer der NS-Diktatur waren, ist die innere Belastung eine andere als wenn sie zu einer Oppositionsgruppe gehörten. Beide sind von den Kriegsereignissen betroffen, aber es macht wieder einen Unterschied, ob Vorfahren als Soldaten gekämpft und gemordet haben und/oder ob sie durch den Krieg zu Tode gekommen sind. Die einen sehen die Nazidiktatur als das schlimmste Übel, die anderen den Krieg und wieder andere das Kriegsende und die folgende Besatzungszeit.

Es gibt also in jedem Traumafeld Gemeinsames sowie Risse und Unebenheiten. Gerade deshalb tauchen immer wieder intensive ideologische Versuche auf, die das geteilte Feld einebnen wollen. Ideologien tendieren stets zur Vereinfachung, das Diverse taugt nicht für die Propaganda und ist schwieriger zu beherrschen. Am Beispiel Österreich erfolgte diese ideologische Einebnung dadurch, dass gleich nach dem Krieg begonnen wurde, eine Kultur des Vergessens und Verdrängens aufzubauen und Österreich als erstes Opfer des Nationalsozialismus zu idealisieren.

Ideologien als Pfleger der Verdrängung kollektiver Traumen

Die unbewusst gesteuerte Teilhaberschaft eines auf solche Weise eingeebneten Staatsvolkes verführt dazu, den Staat als Subjekt zu erleben, nicht als komplexes Zusammenwirken unterschiedlicher politischer Kräfte und Verwaltungseinrichtungen. Selbst wenn ein Staatsbürger dem Staat gegenüber negativ eingestellt ist, enttäuscht und frustriert von dem, was ein Staat macht, ist er nach wie mit ihm als Subjekt identifiziert. Erst wenn deutlich wird, dass der Staat kein Subjekt ist, sondern ein Zusammenwirken verschiedener Akteure und Interessengruppen, wird erkannt, dass es nur um die Amts- und Verantwortungsträger geht, denen gegenüber Kritik angebracht ist.

Nach dem Modell der Bewusstseinsevolution wird mit der Subjektivierung des Staates die personalistische Ebene in die systemische Ebene hineinvermengt. Zwar hat der Staat schon eine vor-systemische Wurzel, weil die ersten Staatsgründungen auf der hierarchischen, stark von Abhängigkeiten geprägten Ebene entstanden sind – viel mit Gewalt verknüpft, auf Kriegen begründet, durch die die Sklaverei zu einer tragenden Säule vieler Staatsgebilde und der staatlich geleiteten Wirtschaft wurde. Aber die Modernisierung des Staatswesens hat es mit sich gebracht, dass die Staatsverwaltungen zu Vorreitern des systemischen Bewusstseins wurden. Der Zwang zur Rationalisierung der Prozesse, der durch die Konkurrenz zwischen den Staaten entstanden ist, führte dazu, dass der Preis des Verzichts auf Modernisierung mit Rückschlägen in dieser Konkurrenz verbunden waren, was im Besonderen dann bei Kriegen zu schmerzlichen Erfahrungen führte. Die Staaten mit effizienterer Verwaltung waren zumeist auch jene, die kriegerisch erfolgreich waren und dadurch ihre Gebiete und ihren Einfluss vergrößern konnten.

Entideologisierung

Wenn wir einen Staat wollen, der sich aus der Klammer der ideologischen Vereinnahmungen und Zurechtbiegungen befreit, müssen wir die kollektiven Traumatisierungen bewusst machen, reflektieren und verstehen. Auf diesem Weg gelingt es, die Identifikation mit dem Staatswesen, in dem wir leben, aufzulösen und eine kritische Distanz einzunehmen, die es erlaubt, die Prozesse dort mitzugestalten, wo sie uns betreffen und rational abgewogene Haltungen zu den Themen einzunehmen, die sich im Zug der Weiterentwicklung des Staates stellen.


Mittwoch, 6. April 2022

Die toxische Männlichkeit und die Verletzlichkeit

Traditionell sind Kriege Männersache. Es gibt zwar die Mythen von den kämpfenden Amazonen, und immer mehr Frauen übernehmen Rollen in den Streitkräften. Aber nahezu alle Kriege in der Menschheitsgeschichte wurden von Männern angezettelt und ausgefochten. In früheren Zeiten war ihre Körperkraft gefragt, wenn es darum ging, den eigenen Stamm vor Feinden zu schützen, während die Frauen für die Nachkommen sorgen sollten. Heutzutage, wo Kriege nicht nur im Schlamm, sondern zunehmend von geschützten Kontrollzentren aus geführt werden, ist die männliche Dominanz beim Führen von Kriegen obsolet geworden. Und die Frage wird immer wieder gestellt, ob es mit mehr Frauen an der Macht weniger Kriege würde oder ob sogar das Phänomen des Krieges vom Planeten verschwinden würde, wenn überall die Frauen das Sagen hätten. So weit sind wir noch lange nicht. Deshalb wird in diesem Artikel den Spuren des Patriarchalismus nachgegangen, um die männlichen Aspekte bei den Versuchen gewaltsamer Konfliktbewältigung besser zu verstehen.

Im Zusammenhang mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine viele Kommentare auf die Rolle von Männern im Zusammenhang mit dem Kriegsausbruch hin. Die Hauptakteure und Hauptverantwortlichen dieses Krieges sind allesamt Männer und die Kriegsrhetorik ist auch sehr stark männlich geprägt. Hier kommt das Stichwort von der toxischen Männlichkeit ins Spiel.

Toxische Männlichkeit

Der Begriff der Toxizidität ist in Mode gekommen. Er stammt ursprünglich aus der Pharmakologie und der Lehre von Giften und wird nun auch in der Psychologie und Alltagssprache auf Personen, Werthaltungen und Beziehungen angewendet. Das geht manchmal so weit, dass jemand alles als toxisch bezeichnet, was einem nicht gefällt. Der Begriff spielt mit den Emotionen von Angst und Ekel – Gifte bedrohen unser Leben und wir sollten uns davor hüten, mit ihnen in Kontakt zu kommen.

Mit toxischer Männlichkeit wird ein Bündel von Eigenschaften bezeichnet, die einem traditionellen Männerbild entsprechen: Neigung zu Gewalt, Dominanzgehabe, Einschüchterungsverhalten, Gefühlsabwehr, Abwertung und Unterdrückung von Frauen. Es ist der Patriarchalismus, der diese Form von Männlichkeit hervorgebracht hat, und er ist über die Jahrhunderte eng mit der Kriegsgeschichte verknüpft, und viele dieser Elemente wirken auch am aktuellen Kriegsgeschehen mit. 

Geburt und Heldenprägung

Männer dürfen keine Schwäche zeigen, sondern müssen hart sein, so lautet ein Leitspruch des Patriarchalismus. Die bekannten Mythen der Unverwundbarkeit sind aus diesen Quellen gespeist: Achill und Siegfried, die im Unterweltsfluss oder im Drachenblut baden und nur an einer kleinen Stelle verwundbar bleiben. Der Mythos besagt, dass der Held von der Sehnsucht nach einem völlig geschlossenen Außenschutz geleitet ist, in dem es keine Lücke der Verletzbarkeit gibt.  Er besagt aber auch, dass es aber keine vollständige Panzerung gibt, dass also immer eine Schwachstelle bestehen bleibt, über die sich der Tod einschleichen kann. 

Auf die Ebene des Psychischen übertragen, erkennen wir das Psychogramm des Mannes im Patriarchalismus. Das Streben nach Unverletzbarkeit, das auch ein Streben nach Unsterblichkeit beinhaltet, führt weg von der Innenwelt mit ihren Wunden und Ambivalenzen. Wenn von außen keine Gefahren mehr Angst machen müssen, braucht es keine Beschäftigung mit den Dämonen im Inneren. Alles, was bedrohlich ist, kann in der Außenwelt bekämpft und besiegt werden. Doch weist der Mythos auf den illusionären Charakter dieser gewaltbereiten Agenda hin: Auch die beste Abwehr weist eine Schwachstelle auf, über die das Innere aus seinen Tiefenschichten ins Bewusstsein drängt und die Abwehrbereitschaft unterminiert.  

Der Mythos vom Drachenblut

Das Drachenblut, das in der germanischen Sage diesen Schutz gewähren könnte, enthält deutliche Bezüge zur Geburt, denn ohne Mutterblut gibt es keine Geburt. Es ist also in diesem Fall eigentlich das Mütterliche, von dem das heldenhaft Männliche seine Unversehrbarkeit erhofft. Im Abschied vom mütterlichen Schutz, der die Unversehrbarkeit garantiert hat, braucht es einen neuen Schutzmantel, den die Mutter dem künftigen Helden auf den Weg mitgeben soll.

Das Blut wird im Mythos frei als Folge von Gewalt gewonnen, es muss ein Drache getötet werden, damit das Bad in seinem Blut möglich ist. Der Schutz wird gewährt, indem ein anderes Leben verletzt oder getötet wird. Auch die Mutter hat Gewalt erlitten, durch die Macht der Wehen und durch das Durchdrängen des Babykörpers durch die Enge des Geburtskanals. Das Blut kommt aus den Wunden, aus den Verletzungen, es trägt die Signale des Schmerzes in sich. Und gerade dieses Blut soll hinkünftig  jede Verletzlichkeit tilgen und damit vor allen Folgen von äußerer Gewalt schützen. Imprägniert mit dem Mutterblut, durch das das eigene Leben zur Welt gekommen ist, soll der Held dieses Leben meistern. 

Der Drache gilt als Symbol der unberechenbaren und unkontrollierbaren Zerstörung, er ist ein Vernichter und ein Verwandler von Ordnung in Chaos. Auf die Geburt bezogen, repräsentiert er die wuchtigen Gebärmutterkontraktionen, denen sowohl Mutter als auch Kind während der Austreibungsphase ausgesetzt sind. Die Ordnung des vorgeburtlichen Lebens wird über den Haufen geworfen, ein riesiges Chaos setzt ein. Es gibt kein Zurück, aber das Wohin ist ungewiss. Im Drama der Geburt entfaltet sich eine gewaltige Macht über Leben und Tod. Sie führt die Regie bei dem Geschehen. Es ist ein Kampf ums Überleben, gegen einen scheinbar übermächtigen Drachen. Mit Blut, Schweiß und Tränen erkämpft sich das Baby den Weg durch den Geburtskanal in die Freiheit, mit ähnlicher Anstrengung gibt die Mutter das neue Lebewesen frei. Die Bedrohungen im Chaos wurden überwunden, eine Heldentat ist vollbracht.

An der Schwelle des Todes

Der griechische Heldenmythos von Achilleus greift in anderer Weise auf die Geburtsmetaphorik zurück: Der kleine Achill wurde von seiner Mutter im Styx gebadet, in dem Fluss, der die Lebenden und die Toten trennt. Sie hielt ihn an der Ferse fest, wodurch diese Stelle nicht geschützt war. Er wurde kopfüber ins giftige Wasser gehalten, wie auch fast alle Menschenbabys kopfüber geboren werden. Im Niemandsland gewissermaßen, zwischen Leben und Tod, kann die Unverwundbarkeit erlangt werden. Dort, wo der Geburtsprozess auf der Kippe steht, wo er gut oder schlecht ausgehen kann, ist der Moment der Entscheidung. Das Überleben ist die Meisterung der Bewährungsprobe und verleiht die Unverwundbarkeit. Wenn diese Gefahren bewältigt wurden, kann nichts mehr im Leben unüberwindlich erscheinen. 

Das Gift im mythologischen Fluss stellt ein Symbol für die fremden Substanzen und Gerüche dar, denen das Baby im Geburtskanal begegnet und auf die es mit Ekelgefühlen reagiert. Auch diese Herausforderung wird mit jeder gelungenen Geburt bewältigt. Sie immunisiert vor allem, was jemals wieder Ekel verursachen könnte.

Die Instrumentalisierung der Helden im Patriarchalismus

Diese Heldenreise haben aber nicht nur die Männer, sondern auch alle Frauen hinter sich, sobald sie geboren sind. Dennoch finden offenbar unterschiedliche Codierungen, unterschiedliche Bedeutungsgebungen statt, gemäß dem vorherrschenden sozialen Umfeld, das den neuen Erdenbürgern seine bewussten und unbewussten Erwartungen mitgibt. Für männliche Babys wird eine Vorahnung und Vorprägung für das tapfere Bestehen von äußeren Herausforderungen im späteren Leben übermittelt, während die weiblichen Babys auf die Mühen der späteren eigenen Mutterschaft eingestimmt werden. Deshalb wird die Metaphorik der Unverletzbarkeit nur von den männlichen Heldenepen aus dem Geburtsprozess übernommen. 

Mannsein bedeutet, keine Verletzbarkeit zu kennen und stattdessen alle Schmerzen, die das Leben bereitet, mutig durchzustehen, gewappnet mit dem Mutterblut oder Muttergift. Es bedeutet, keine Feigheit und keine Schwäche zuzulassen und die Gefühle, die damit verbunden sind, unter Kontrolle zu haben. Insbesondere die Schamgefühle, die in Hinblick auf die eigene Bedürftigkeit bestehen, müssen gut verdrängt bleiben, nach dem Motto: Lieber unverschämt als beschämt durchs Leben gehen.

Im Patriarchalismus wird von den Männern erwartet, dass sie sich genau so verhalten: schmerzunempfindlich, gefühlsbefreit und durchsetzungsstark. Sie sollen alles unter Kontrolle haben, einschließlich ihrer selbst. Toleriert wird allenfalls die verstärkte Neigung zur Aggression, die aber in zivilen Grenzen bleiben muss. Das ist das Korsett, in das dem Mann gesteckt wird. Der Erwartungsdruck kommt von den anderen Männern und von den Frauen, die zugleich unter dieser Form der deformierten Männlichkeit leiden.

Die Selbstentfremdung

Das ist der tragische Zyklus des Patriachats und der aus ihm entstandenen toxischen Männlichkeit: Die Abspaltung der Verletzlichkeit führt zur inneren Verhärtung, und diese entfernt noch weiter von den feineren Gefühlen und damit vom inneren Selbst. Der Preis der Panzerung liegt in der Selbstentfremdung. Es ist die Angst vor Verletzung und in der Folge die Angst vor der Verletzlichkeit, die das Erleben und Handeln bestimmt. Zugleich ist die Schamvermeidung am Werk, die es für unmöglich erklärt, die eigenen Verletzungen zuzugeben. Für viele Männer ist der Satz: „Ich bin verletzt!“ nicht aussprechbar. Die Angstvermeidung und die Schamvermeidung wirken zusammen, sodass immer weniger gespürt werden kann. Als einzige emotionale Reaktionsweise auf Verletzungen meldet sich verlässlich die Wut.

Von hier ist die Schiene zur Ausbildung einer einseitig auf Gewalt gestützten Männlichkeit gelegt. Jede Form der Gewaltausübung stammt aus der Verdrängung der vulnerablen Seite. Zuerst kommt die Gewalt, die den eigenen Gefühlen angetan wird, und dann richtet sie sich nach außen, auf Konkurrenten, Gegner und Feinde, auf die Natur und auf alles, was in irgendeiner Weise an Schwäche und Verletzbarkeit erinnert. Alles, was Schwäche signalisiert, ist bedrohlich. 

Das Erleben von Gewalt gibt hingegen das Gefühl von Überlegenheit und Kontrolle. Je mehr davon gespürt werden, desto höher ist die Sicherheit vor der Verletzbarkeit. Es verleiht die Illusion der Mächtigkeit, mit deren Hilfe alles, was einen verunsichern könnte, bekämpft werden kann. Verletzlichkeit, Schwäche, Bedürftigkeit sind angstbesetzte Zustände, die abgewehrt und abgespaltet werden müssen. Durch diese innere Spaltung wird die Männlichkeit toxisch.

Jede Gewaltausübung, ob geistig, emotional oder physisch, hinterlässt Schneisen von Verletzungen. Jede Verletzung konfrontiert mit der Zerbrechlichkeit des Menschlichen. Um von dem Grauen, das nach dem Gräuel bleibt, nicht berührt zu werden, muss das Zerbrechliche im eigenen Inneren mit Gewalt unterdrückt und zum Schweigen gebracht werden. Die Mechanismen der Grausamkeit setzen ein, die immer zuerst gegen das eigene Selbst wirken, ehe sie die Zerstörungen in der Außenwelt anrichten. 

Zum Weiterlesen:
Der Verlust des Männlichen im Patriarchalismus
Schamverdrängung im Ukrainekrieg


Samstag, 19. März 2022

Krieg und Propaganda

Kriegszeiten sind Zeiten der Verunsicherung auf der individuellen und auf der kollektiven Ebene. Kriege produzieren vor allem Zerstörung, von Leben und Gütern. Kriege führen zur politischen Instabilität und belasten die Wirtschaft, weil Güter hergestellt werden, die Zerstörung anrichten und dann selbst zerstört werden. Kriegszeiten sind auch Zeiten der Verunsicherung, was Information und Wahrheit anbetrifft. Wenn das eigene Leben in Frage gestellt wird, wird auch das Vertrauen in die Mitmenschen erschüttert und es wird schwerer abzuschätzen, wer zuverlässig informiert und wer nur manipulieren will oder sonst Böses im Schilde führt.

Krieg und Propaganda

Spätestens seit der Neuzeit besteht ein Teil der Kriegsführung in Propaganda, also in Wahrheitsverwirrung und –verzerrung zum eigenen Vorteil. Dieser Teil wird immer wichtiger und mächtiger und damit die Auswirkungen immer zerstörerischer. Die Desinformation, die Kriege begleitet, dient verschiedenen Zwecken: Sie soll die Moral der eigenen Seite stärken und die des Gegners schwächen. Sie soll die eigenen Ziele als ehrenwert und moralisch gerechtfertigt herausstreichen und die Ziele des Gegners als verachtenswert und destruktiv brandmarken. Sie soll die eigene Kriegsführung als integer darstellen und die des Gegners als inhuman und grausam anprangern. Sie soll die eigenen Schwachstellen verschleiern und die des Gegners betonen. Sie dient also nicht der Wahrheitsfindung, sondern soll die Erreichung der Kriegsziele fördern. Sie soll nicht nur die feindliche Seite desorientieren, sondern auch die eigene Bevölkerung täuschen und verdummen. Kriegspropaganda dient dem Schüren von Hass auf den Gegner und der Glorifizierung der eigenen Nation.

Da Informationen heute weltweit vernetzt sind und überall gleichermaßen zugänglich sind, steht die Kriegspropaganda vor der paradoxen Situation, dass die eigenen Narrative neben denen des Gegners aufscheinen und keine Exklusivität mehr zuwege bringen, außer es gelingt einem Staat, die weltweite Vernetzung im eigenen Land durch zensurmaßnahmen unter Kontrolle zu bringen. 

Kriegspropaganda im 20. Jahrhundert

Früher, als die Informationskreise stärker voneinander abgeschottet waren – kaum jemand las im 1. Weltkrieg Zeitungen aus den gegnerischen Ländern oder aus neutralen Staaten, und die Zeitungen im eigenen Land konnten recht einfach zensuriert werden –, war es leichter, die eigene Bevölkerung einheitlich zu desinformieren und die Einstellungen zu prägen. Es konnte also ein kollektiv gültiges Narrativ erzeugt werden, das z.B. gerade am Ende des 1. Weltkrieges dazu führte, dass viele Leute in den unterlegenen Mittelmächten Deutschland und Österreich-Ungarn nicht verstehen konnten, warum der Krieg verloren war, wo doch die Nachrichten über Siege bis zuletzt verbreitet wurden. Die fehlenden Informationen über die eklatanten Schwächen und erschöpften Ressourcen der Militärs dieser Länder führten dort zum verbreiteten Unverständnis für die Kriegsfolgen, die als ungerechtfertigt und demütigend empfunden wurden. Daraus entwickelten sich neue Narrative wie z.B. die Dolchstoßlegende, die die Niederlage auf Saboteure im eigenen Land zurückführte und die dann vor allem zur Feindschaft gegen die Linke und gegen die Juden verwendet wurde. Insgesamt entstand das Gefühl, dass die zugefügte Niederlage und die darauf folgende Demütigung durch die Friedensverträge gerächt werden mussten. Dieses Motiv wurde dann von den Nationalsozialisten aufgegriffen und stellte eine Hauptursache für die Entfesselung des 2. Weltkriegs dar. Er ist also die Frucht von Desinformation und manipulativer Kriegspropaganda.

Die Nationalsozialisten waren es, die die Bedeutung der Propaganda zur Verschleierung der eigenen Ziele und zur Indoktrination der Bevölkerung erkannten und einen eigenen Propagandaminister installierten, Joseph Goebbels, der einer der treuesten Wegbegleiter Adolf Hitlers bis in die letzten Stunden war. Dem Volk wurden Volksempfänger angeboten, die nur die Frequenz des Deutschlandsenders empfangen konnten, und das Hören von „Feindsendern“ war streng verboten und wurde mit der Einlieferung in KZs bestraft. Die anderen Medien waren „gleichgestaltet“, durften also nur regierungsgetreue Nachrichten weitergeben. 

Dadurch konnten viele Gräueltaten der Kriegsführung und des NS-Terrors gegen Randgruppen, Minderheiten und Juden vor der Öffentlichkeit verborgen bleiben. Die Kriegsberichterstattung war von Jubelmeldungen geprägt, Niederlagen kamen nicht vor. Allerdings wurde im Lauf des Krieges durch die Bombardierung des ganzen Landes deutlich, dass das Regime nicht in der Lage war, die eigene Bevölkerung zu schützen, trotz aller Siege und Frontbegradigungen und anderer aufgebauschter Meldungen, von denen die Medien voll waren. Langsam wurde deutlich, dass die feindlichen Truppen näher rückten, und die aufgebauten Illusionen zerbröckelten immer mehr. Die bedingungslose Kapitulation 1945 war nur eine logische Folge der katastrophalen Niederlage, die diesmal kaum jemanden überraschte, aber nur wenige mit Freude erfüllte.

Die folgende Ernüchterung und das Erwachen aus einer eingetrichterten Verblendung führte zunächst bei den meisten nicht zu einem Streben nach der Wahrheit, danach also, zu wissen, was wirklich abgelaufen ist und dazu, sich mit den Verbrechen, die im Namen des Volkes begangen wurden, auseinanderzusetzen. Vielmehr bestand der allgemeine Trend darin, das Geschehene möglichst schnell zu vergessen und in eine bessere Zukunft zu schauen. Die Last der kollektiven Traumen, die das NS-Regime und der Krieg hinterlassen hatten, wurde damit den nachfolgenden Generationen überlassen. Die Mittäter und Mitläufer wurden still und heimlich eingegliedert, und über die Schandtaten wurde ein Mantel des Schweigens gebreitet. Die Politik wurde den Eliten überlassen, nach dem Motto: Politisch Lied ist garstig Lied. Die Geschichtslehrer trachteten danach, genug Unterrichtszeit auf die Griechen, Römer und mittelalterlichen Helden zu verwenden, damit sie die desaströsen Kriege des 20. Jahrhunderts nicht behandeln mussten.

Erst langsam verbreiterte sich das Bedürfnis, mit den Schrecknissen und Grauslichkeiten der Vergangenheit ins Klare und Reine zu kommen. Die historische Aufklärung erlangte mit einer Generation mehr Breitenwirkung, die im ansteigenden Wohlstand groß geworden war, aber an der emotionalen Leere litt, die die Weltkriege in den Seelen der Kriegsteilnehmer hinterlassen hatten. Es richtete sich die Wut auf die Institutionen des Staates, dem die Verdrängung angelastet wurde. Die Protestbewegungen aus der Jugend der 60er Jahre führte zu gesellschaftlichen Reformen und zur Entstehung einer kritischen Zivilgesellschaft, die sich Informationen aus alternativen Quellen beschaffen konnte und dann gegen Ende des 20. Jahrhunderts durch das Internet enorm wachsen konnte. Parallel dazu kamen die Wunden und Schwären der Vergangenheit immer an die Öffentlichkeit, wie z.B. die amerikanische Fernsehsendung „Holocaust“, die Anfang der achtziger Jahre ein Gefühl für das Ausmaß der nationalsozialistischen Judenvernichtung in die Haushalte brachte. 

Unmerklich vollzog sich in diesen Prozessen eine Auseinandersetzung mit der Scham über die Unmenschlichkeiten in der eigenen Vergangenheit und Geschichte, die da und dort in Konflikten ausbrach, wie z.B. in der Waldheim-Affäre oder um die Ausstellungen zu den Verbrechen der Wehrmacht. Als Sammelbewegungen zur Schamverdrängung boten sich rechtsgerichtete Parteien an, die in Österreich ab den 80er Jahren und in Deutschland nach 2000 zu Klein- und Mittelparteien anwuchsen und in Österreich sogar zweimal in die Regierung gelangten.

Aufklärung und Gegenaufklärung

Die Geschichte der Information verläuft, wie an diesen Beispielen sichtbar wird, ambivalent. Jeder Schritt zur Aufklärung erzeugt Gegenaufklärung. Wir kennen diesen Prozess aus inneren Abläufen, wie sie z.B. bei der therapeutischen Aufarbeitung von Traumatisierungen erfolgen: Widerstände werden überwunden und Verdrängtes wird bewusst, worauf sich wieder Widerstände bilden, die die erreichten Fortschritte rückgängig machen wollen. 

Auf gesellschaftlicher Ebene formieren sich Gegenkräfte, wann immer unangenehme Wahrheiten aus der Geschichte an die Oberfläche kommen. Die Gegenkräfte nutzen die Desinformation, weil sie Wahrheiten bekämpfen müssen, denen sie durch das Erzeugen von Verwirrung die Grundlage entziehen wollen. Wie die biographische Wahrheit, die sich z.B. bei der Aufdeckung einer Missbrauchserfahrung zeigt, vor der Entdeckung geschützt werden muss, weil in ihr heftige und belastende Gefühle enthalten sind, soll auch die historische Wahrheit im Dunklen oder zumindest im Zwielicht verbleiben. Denn sie kränkt das nationale Selbstgefühl, beschmutzt das eigene Nest und besudelt die Heimat, die eigenen Wurzeln. Also werden die Informationen, die auftauchen, geleugnet (Holocaust-Leugner), verkleinert (die Opferzahlen der Shoa werden minimiert) oder in die ferne Vergangenheit abgeschoben („Es muss endlich Schluss sein mit dem ewigen Wühlen in der Vergangenheit!“).

Gibt es unabhängige Medien?

Jedes publizistische Medium braucht Geldgeber und Finanziers. Rein durch Verkauf und Abonnenten kann keine Zeitung qualitätsvolle Ergebnisse liefern. Insoferne ist der Wunsch oder die Forderung nach unabhängigen Medien illusorisch. Es macht aber einen wichtigen Unterschied, ob ein Medium den Anspruch vertritt, faktengetreu zu informieren oder nicht, und ob es sich nach diesem Maßstab messen lässt. Die Affäre um die gefälschten Tagebücher von Adolf Hitler, die der Stern 1983 veröffentlichte, war der Zeitschrift nach dem Auffliegen der Fälschung äußerst peinlich. Es können Fehler bei der Informationsbeschaffung passieren, aber sie werden auch eingestanden und korrigiert, wenn das Medium auf seinen Ruf wert legt. 

Medien wollen primär nicht manipulieren (außer es handelt sich um Medien, die direkt von politischen Parteien oder Gruppierungen betrieben werden), sondern Gewinn machen. Die einen machen Gewinn dadurch, dass sie es mit der Objektivität und Wahrheitstreue nicht so genau nehmen und lieber reißerisch harmlose Ereignisse aufbauschen, um mehr Leser anzulocken, die anderen dadurch, dass sie möglichst objektive Information versprechen und sich für journalistische Sorgfalt einsetzen. Es gibt also noch immer Zeitungen und andere Medienkanäle, die sich zum Titel „angesehen“ bekennen und Qualitätsjournalismus bieten, um dem Ruf gerecht zu werden und zu bleiben. Sie richten sich an Menschen, die an möglichst realitätsnahen Fakten interessiert sind und Informationen und Meinungen klar unterscheiden wollen, die unterschiedliche Sichtweisen erwägen und das Für und Wider zu gesellschaftlichen Fragen erörtern wollen. Es sind Medien, die Leserforen mit einem breiten Meinungsspektrum pflegen und im Austausch mit verschiedenen Informationsquellen, gesellschaftlichen Gruppen und Trends stehen. Es gibt genügend Menschen in der Zivilgesellschaft, die an solchen Informationsquellen interessiert sind, dass sie am Markt bestehen können, ohne in dieser Ausrichtung in Abhängigkeit von Geldgebern und ihren Interessen zu geraten.

Werden wir durch Medien manipuliert?

Die Manipulation durch die Medien gibt es nur dort, wo die mediale Landschaft gleichgeschaltet ist. Es ist dort zwar einfach, sich vor Manipulation zu schützen, indem man völlig auf Medienkonsum verzichtet. Andererseits fehlt die Möglichkeit, zu verlässlichen Informationen zu kommen, sodass der Zugang zu wichtigen Bereichen der Realität verloren geht. Deshalb erleben viele Menschen solche Systeme als Freiheitseinschränkung und wollen ihnen entrinnen.

Wo verschiedene Informationsquellen zugänglich sind, werden nur jene Personen manipuliert, die sich nicht die Mühe machen, die angebotenen Informationen zu sichten, indem Fakten und Meinungen unterschiedenen werden und die Quellen kritisch geprüft werden. Wer sich nicht manipulieren lassen will, prüft die Ursprünge und das Zustandekommen der Informationen, sodass der Spreu vom Weizen gesondert wird. Es ist keine einfache Aufgabe, weil die Informationslandschaft riesige Ausmaße angenommen hat und mit unheimlicher Geschwindigkeit weiter wächst. 

Wem vertrauen?

Zur unübersehbaren Menge an Information kommt die überwältigende Zahl an konkurrierenden Quellen und Anbietern. Informationen widersprechen sich häufig; wem kann man vertrauen? Wir haben die Naivität verloren, mit der frühere Generationen für bare Münze genommen haben, was das Radio oder das Fernsehen gezeigt haben oder was „schwarz auf weiß“ in einer Zeitung gestanden ist. Heute wissen wir, dass Informationsangebote von Interessen geleitet sind und vielfach manipulative Zwecke verfolgen. Ohne die Mühen des Sichtens und kritischen Überprüfen geht es nicht, den Fallen, die überall in der Medienwelt aufgestellt sind, zu entgehen. Informationsprüfung ist also Arbeit, Fiktion von Faktizität zu unterscheiden aber unerlässlich, um mit der modernen Lebenswelt zurechtkommen zu können und Orientierung zu gewinnen.

Die Mühen der Prüfung

Wenn wir uns dieser Mühe nicht unterziehen, tendieren wir dazu, nur meinungskonforme Informationskanäle zu nutzen und damit in unserer Blase zu bleiben. Bekanntlich sind virtuelle Plattformen darauf programmiert, uns mit Informationen zu füttern, die unsere Vorurteile, Werthaltungen und ideologischen Präferenzen verstärken. Bequemer ist es, beim eingeübten Denken in Schablonen zu bleiben, als alte Gewohnheiten abzulegen und neue Kontexte zu bilden. Die informationskritische Einstellung erfordert nicht nur Zeit, sondern auch Anstrengung und Veränderungsbereitschaft. Statt uns passiv von Medien berieseln zu lassen, bleiben wir in kritischer Distanz und in einer offenen Haltung, die auch bereit ist, sich mit alternativen Sichtweisen auseinanderzusetzen. Wir dehnen unseren Horizont, statt ihn einzuengen oder in der gewohnten Beengung zu belassen. 

Vertrauen verdienen jene Medien, in denen Fakteninformation von Meinungskundgabe unterschieden wird, bei denen die Quellen der Fakten einsichtig sind, in denen unterschiedliche Standpunkte diskutiert werden und die zu Selbstreflexion bereit sind, die also Fehlinformationen zugeben und korrigieren. Misstrauen verdienen jene Medien, in denen nur eine Sichtweise verbreitet wird, die zudem auf keiner verlässlichen Faktenbasis beruht, bei denen andere Ansichten nicht einmal in Foren oder Leserbriefen vorkommen und die keine Bereitschaft zur Selbstreflexion erkennen lassen. 

„Mainstream“ als Abwertung

Medienskeptiker, die die sich mit ihrer Meinung in einer Minderheitsposition wahrnehmen, verwenden gerne den Begriff der Mainstream-Medien in einem abwertenden Sinn. Sie gelten quasi als die Multis im Mediengeschäft, die entweder von Wirtschafts- oder Politikinteressen gelenkt sind und deshalb keine Glaubwürdigkeit haben. Medien mit weniger Verbreitung, Nischensender usw. verdienten dagegen mehr Vertrauen, nach der Logik: Wer am Markt schwächer ist, hat weniger Macht, wer weniger Macht hat, kann nicht manipulieren, wer nicht manipuliert, sagt die Wahrheit – so die Kurz-Schlussfolgerung.

Ob ein Medium einem „Mainstream“ angehört, ist weder ein Kriterium für Verlässlichkeit und Wahrheitstreue noch dagegen. Misstrauen verdienen allerdings jene Publizisten oder Publikationen, die für sich die Wahrheit reklamieren, bloß weil sie von der des „Mainstreams“ abweicht. 

So gilt es auch für die Medienlandschaft: Publizisten, die in einem Randmedium arbeiten, wollen mit abwegigen Ansichten Aufmerksamkeit erringen und nutzen dafür die Außenseiterrolle als Vorteil, oft ohne sich um den Realitätsbezug ihrer Aussagen zu kümmern. Gegen die Medien, die von den Mehrheiten konsumiert werden, wird Misstrauen gesät, weil diese mächtiger wären und deshalb von vornherein schon korrumpiert und manipulativ sind. Überdeckt werden dabei die eigene Manipulationsabsicht und die Interessen, die damit vertreten werden. Denn nicht selten stecken hinter Minderheitenpositionen, wie z.B. hinter jener der Impfgegner, potente Geldgeber mit wirtschaftlichen Interessen. Bei der Kriegsberichtserstattung liegt es auf der Hand, dass abwegige Theorien einer Kriegsseite nutzen sollen. So wird z.B. die Meinung vertreten, dass die russische Armee nicht in der Ukraine einmarschiert ist, sondern ein Krieg der Ukrainer untereinander tobt, womit klarerweise die russische Aggression verharmlost wird – Wasser auf die Mühlen der Aggressoren.

Eine Verschärfung des Mainstream-Vorwurfes stellt die Rede von der „Lügenpresse“ dar. Dieser aggressive Ausdruck gilt wird im Meinungskampf als politischer Kampfbegriff eingesetzt und wird gerne von jenen verwendet, die selber Lügen oder Halbwahrheiten verbreiten oder Fantasien mit Realität verwechseln und dabei nicht aufgedeckt werden wollen. Wer andere der Lüge bezichtigt, vermeint selber über die Wahrheit zu verfügen, aber will keine Presse, die den eigenen Standpunkt in Frage stellen und Ungereimtheiten aufzeigen könnte. 

Zum Weiterlesen:
Manipulation erkennen und entzaubern
Astroturfing - Manipulation vom Feinsten
Wird die Demokratie von Manipulatoren gekidnappt?
Kollektiven Traumen hinter dem Angriff auf die Ukraine


Freitag, 11. März 2022

Schamverdrängung im Ukraine-Krieg

Wer anderen Menschen Leid zufügt, erlebt Scham. Diese unweigerliche Reaktion entspringt aus der sozialen Natur der Menschen. Wenn wir das Leid nicht erkennen, das wir anderen antun, fallen wir aus dem sozialen Netz heraus, und in der Folge zerfällt die Gesellschaft. Das Erleben von Scham ist also ein wichtiger Kitt für den Zusammenhalt unter den Menschen und ein starkes Gegengewicht gegen einseitige Machtdurchsetzung und Gewaltausübung. Der Willkür, die sich aus einer Überlegenheitsposition ableitet, kann nur Einhalt geboten werden, indem die Scham darüber erkannt wird. 

Wenn schon kleine Verletzungen, die im zwischenmenschlichen Alltag geschehen, zu Schamreaktionen führen, dann ist es klar, dass massive Verletzungen, wie sie in einem Krieg geschehen, ebenso massive Schamgefühle auslösen. Am aktuellen Beispiel der Ukraine bedeutet das, dass die Angreifer, die russische Föderation und die für den Angriff verantwortlichen Personen massiv mit Scham belastet sind. 

Krieg ist eine Schande 

Sergej Gandlewskij, ein angesehener russischer Dichter, hat einen Protestbrief verfasst, in dem er schreibt: „Der von Russland gegen die Ukraine entfachte Krieg ist eine Schande! Das ist unsere SCHANDE. Leider werden noch die Generation unserer Kinder und die heute noch gar nicht geborenen Russen die Verantwortung dafür übernehmen müssen!“ Den Brief haben bisher zehntausend russische Kulturschaffende unterzeichnet. (Quelle: Falter 10/22, S. 28) 

Das Phänomen hat den Kreml-Sprecher Peskow zu der Äußerung veranlasst: “Ein echter Russe schämt sich nie, ein Russe zu sein.” Wer sich dennoch schäme, wäre kein echter Russe. Das ist eine Formulierung aus einem blinden und autoritären Nationalismus: Über die eigene Nation darf man nichts kommen lassen, sonst gehört man nicht mehr dazu. Zur Nation zu gehören heißt bedingungslos deren Führern zu folgen und deren Handeln für richtig zu befinden. Die Scham wird verboten, weil sie dazu herausfordert, das eigene Handeln in Frage zu stellen und zu überprüfen. Eine schambefreite Nation ist zu allem fähig, gleich ob es gut oder böse ist: Right or wrong, it is your country. Vor solchen Nationen sollte man sich hüten. 

In dieselbe Kerbe schlägt die kategorische Aussage einer russischen Facebook-Posterin, dass Russen keine Zivilisten töten. Es ist, als ob die eigene Rechtschaffenheit und der Wunsch nach Menschlichkeit der ganzen Nation übergestülpt wird. Wer Russe ist, ist automatisch gut. Damit kann die Identifikation aufrechterhalten bleiben, die an das Ganze der Nation bindet. Der Umkehrschluss gilt dann auch gleich: Wer Zivilisten tötet, kann kein Russe sein. Alles Böse wird externalisiert, wird nach außen verbannt, und das Innere wird zwanghaft sauber gehalten. 

Generationenbelastung

Für alle aber, die nicht im Bann einer nationalistischen Ideologie stehen, ist jetzt schon klar zu sehen, dass verursachtes Leid Scham auslöst und Verantwortung einfordert. Wenn sie nicht gleich mit dem Geschehen einbekannt wird, überträgt sie sich auf die nächsten Generationen. Auch auf der Täterseite entsteht damit eine kollektive Traumatisierung, die im schlimmsten Fall weitere Aggressionen befeuert und im besseren Fall zu einer Abkehr von Gewalt und Militarismus führt, wie es z.B. in Deutschland und Japan, den beiden Aggressoren im 2. Weltkrieg, geschehen ist. 

Nur mit dem Annehmen und Einbekennen der Scham kann die eigene Seele ins Gleichgewicht kommen und nur so können die sozialen Beziehungen wiederhergestellt werden. Nur so kann Unmenschlichkeit durch Menschlichkeit ersetzt werden. Sich der Scham zu stellen und das angerichtete Unheil einzugestehen und dafür die Verantwortung zu übernehmen, führt zurück in die Würde und zum Respekt für die anderen, vor allem für die Opfer. Wenn das nicht geschieht, bleibt die Scham bestehen und legt sich wie eine Wolke über die eigene Person und über eine ganze Gesellschaft, eine Wolke, die alles Erleben eintrübt. 

Schamabwehr 

Da diese Konsequenzen aus Leid, das anderen zugefügt wurde, unvermeidlich sind, aber zugleich mit äußerst unangenehmen Gefühlen verbunden sind, kennt die menschliche Seele eine Reihe von Abwehrformen, die scheinbar aus der Last der Scham herausführen. Die Hauptverantwortungsträger bei kollektiven Schambelastungen nutzen die einfachste Form der Schamabwehr, die Unverschämtheit, also die Weigerung, Scham zu spüren, und sie wird meist verbunden mit ideologischen Rechtfertigungen: Die Aggression gegen den Nachbarn war notwendig, um Unheil von ihm selber abzuwenden, um einen historischen Irrtum zu korrigieren, um das eigene Volk vor einer Bedrohung zu schützen usw.  

Es gibt immer Gründe für das eigene Handeln, ob sie nun aus der Realität oder aus der eigenen Fantasie, gespeist von kollektiven Traumen, abgeleitet sind. Aber diese Gründe reichen nicht aus als Rechtfertigung für das Leid, das verursacht wurde. Gründe und Motive finden sich genauso willkürlich wie die Taten selbst. Mit Gründen versucht sich der Täter herauszureden, damit er nicht die Verantwortung für seine Taten übernehmen muss. Er will sein Gewissen beruhigen und die Scham stilllegen. Nicht zugelassene Scham öffnet dann Tür und Tor für das Festhalten an der eigenen Praxis, daran, dass die aggressive Schiene zwanghaft weiterverfolgt werden muss. Je mehr wider die eigenen Schamregungen agiert wird, desto stärker ist der Impuls, das eigene Tun durch das Tun zu rechtfertigen. Denn es fehlt das Korrektiv, das die Destruktivität eingrenzen könnte. Das Eingestehen von Scham und Schuld gilt als Schwäche, die um jeden Preis vermieden werden muss – und wenn dafür auch andere Menschen mit ihrem Leben bezahlen müssen. 

Der Verlust der Scham bewirkt einen Verlust der Empathie. Gesprächspartner des russischen Präsidenten berichten, dass er, auf zivile Opfer angesprochen, keine Gefühlsregung zeige. Vergleichbar dem Weltgeist nach Georg Hegel, der unbesehen der Schlachtbänke der Menschheit, die immer wieder angerichtet werden, in seinem Gang weiterschreitet, fühlen sich manche Drahtzieher und Regisseure von Bluttaten als Vollstrecker historischer Notwendigkeiten, für deren Verwirklichung Menschenleben und Menschenleid nicht zählen. 

Scham auf der Täterseite 

Wer sich auf der Täterseite zur Scham bekennt, schert aus aus dem verschworenen und verordneten nationalen Einheitsdenken. Die Absage an die bedingungslose Identifikation mit der Nation und all ihren Angehörigen ermöglicht einen bewussten Umgang mit der kollektiven Scham und reduziert deren Macht. Es bleiben die Türen zu den Schamgefühlen offen, sie werden nicht gänzlich ins Unterbewusste verdrängt und bilden ein Gegenmittel zur vorherrschenden Schamlosigkeit. Jede Ent-Identifikation mit dem Nationalstolz und der Illusion von Gleichheit, die damit suggeriert wird, ermöglicht die differenzierte Wahrnehmung der Wirklichkeit. Jede Absplitterung vom monolithischen Block der schambefreiten Nation ersetzt Fantasie, Wunschdenken und Ideologie durch Realität.  

In dieser Realität gibt es Gutes und Böses überall, bei den Eigenen und bei den Feinden. Die Nation ist ein Konstrukt, das besonders in Krisenzeiten herbeibeschworen wird, um die Leute unter einem Banner zu scharen und in einen Krieg schicken zu können. Dieses Konstrukt hat die Verdrängung der Scham als einen wichtigen Zweck. Deshalb sind in seinem Namen unzählige Grausamkeiten und Skrupellosigkeiten begangen worden, eigentlich genug, sollte man nach 240 Jahren Erfahrung mit diesem blutgetränkten Begriff meinen, endlich Zeit, das Gemeinsame, das Übernationale über das Nationale zu stellen und den Mut aufzubringen, zum moralischen Versagen der Vergangenheit und der Gegenwart stehen zu können und dafür die Verantwortung zu übernehmen. Nur so gibt es einen Weg in eine friedvollere Zukunft, in der die Menschenwürde an höchster Stelle steht. 

Zum Weiterlesen:
Krieg - Braucht es einen Krieg?
Kriegsverbrechen und Schamverdrängung
Krieg und Scham
Kollektive Traumen und ihre Folgen
Kollektive Traumen hinter dem Angriff auf die Ukraine


 

Montag, 7. März 2022

Aufrüstung als Folge der Ukraine-Invasion: Der Zwang zur Regression

Die kriegerischen Ereignisse in der Ukraine konfrontieren uns mit urtümlichen Formen der Konfliktlösung, nämlich mit der Vorstellung, mittels Gewalt und überlegener militärischer Stärke einen Gegner zu unterwerfen und ihm die eigenen Wünsche aufzuzwingen. Das Recht des Stärkeren war schon weitgehend aus der zivilisierten Welt verschwunden, überwunden durch Rechtssysteme auf staatlicher Ebene und durch internationale Verträge und übernationale Organisationen auf weltweiter Ebene. Doch nicht alle Spieler halten sich an die Regeln, und wenn einer der mächtigen ausschert und die Regeln verletzt, gerät das gesamte System aus den Fugen und muss sich neu aufstellen.

Die logische Konsequenz ist dann, dass die anderen Mitspieler auf das primitivere Niveau regredieren müssen, um dort wieder ein Gleichgewicht herzustellen. Ein Staat setzt aktuell seine Waffengewalt ein, um die eigenen Grenzen zu erweitern und ein anderes Land zu unterwerfen. Das ist eine Form der Machtpolitik, die seit dem 2. Weltkrieg weltweit geächtet ist, weil jeder vernünftig denkende Mensch aus den massiven Zerstörungen dieses Krieges lernen kann, dass Gewalt keine Probleme löst, sondern sie vermehrt. Auch sollte aus der historischen Erfahrung klar sein, dass Angriffskriege zur Eskalation und zum Engagement anderer Mächte führen und langfristig keinen Gewinn bringen. Wenn sich aber ein Staat primitiverer Mittel bedient, um die eigenen Interessen durchzusetzen, müssen die anderen Staaten auf dieser Ebene Gegenwehr leisten, ob sie es wollen oder nicht. Wenn sie es nicht machen, geraten sie selber unter die Räder der Angriffsmaschinerie. 

Also muss überall aufgerüstet werden. Geldmittel, die für die Weiterentwicklung des Sozial- und Gesundheitssystems, für Bildung und für die Entwicklung neuer Technologien gegen den Klimawandel eingesetzt werden könnten, müssen in die Rüstung gesteckt werden, wo sie keinen anderen Zweck erfüllen als den der Abschreckung. Waffen werden unter Einsatz von viel Intelligenz und Rohstoffen entwickelt und gebaut, im besten Fall dafür, dann im Lauf der Zeit zu verrosten. Das gilt solange, bis eine stabilere Weltordnung mit effektiven Kontrollmechanismen implementiert ist und zugleich überall demokratische Mechanismen installiert sind, die verhindern, dass größenwahnsinnige und paranoide Personen in politische Führungspositionen gelangen können.

Der Wiederholungszwang

Was jetzt gerade passiert, ist alles schon in ähnlicher Form geschehen, mitten in Europa und anderswo auf der Welt. Es müsste nicht noch einmal wiederholt werden, was schon mehrfach in der Geschichte mit all den tragischen Folgen geschehen ist. Wir wissen schon, wie es ausgeht. Doch wenn die Vergangenheit nicht verarbeitet ist und verstanden wurde, führt sie die Regie und nicht die scheinrationalen Kalkulationen, mit denen Kosten und Nutzen von Aggressionen abgewogen werden.

Wir wissen aus der Traumapsychologie, dass nicht aufgearbeitete Traumen zur Wiederholung und Wiederinszenierung drängen, und das gilt auch für kollektive Traumen. Wir sind also Zeugen eines gigantischen kollektiven Wiederholungszwangs, seiner destruktiven Wucht und seiner Zwanghaftigkeit. Wie das allgegenwärtige Vergleichsobjekt Adolf Hitler zeigt, gibt es auf dieser Schiene kein Zurück, es gibt nur den Endsieg oder die Endniederlage.

Die Logik der Evolution 

Das Leben schreitet fort von einer Entwicklungsstufe zur nächsten. Die späteren Stufen schließen die Errungenschaften der früheren mit ein und organisieren sie zu neuen Strukturen mit neuen Qualitäten. Das ist der Lauf der Dinge und der jedem Leben inhärente Drang zum Wachsen, oder, in der Sprache der Physik, die Erzeugung von Ordnung aus Chaos (Negentropie). Am deutlichsten sichtbar sind solche Entwicklungsschritte bei Kindern und Jugendlichen. Sie zeigen sich z.B. bei der Geburt oder während der Adoleszenz.

Ähnlich verhält es sich mit Gesellschaften und der Menschheit insgesamt. Auch sie bewegen sich von einer Ebene zur nächsten, um neue Herausforderungen besser meistern zu können. Das Modell der Bewusstseinsevolution beschreibt die Entwicklung dieser aufeinanderfolgenden Organisationsmodelle und ihre inneren Zusammenhänge. Dabei kommt es zu Fortschritten in der Komplexität und Differenziertheit. Im günstigen Fall verlaufen diese Prozesse organisch. 

Regression und Instabilität

Es kann aber auch zu Störungen kommen, wenn es um das Fortschreiten in eine neue Stufe geht, sodass der Prozess steckenbleibt. Die bewahrenden und die weiterdrängenden Elemente geraten in Konflikt. Wenn die konservierenden Kräfte die Überhand bekommen, kommt es zu Regressionen, also zum Rückfall auf frühere Ebenen der Entwicklung. Wenn wir uns das Modell der Bewusstseinsentwicklung anschauen, wirkt es manchmal so, als geschehe der Rückfall gleich um mehrere Stufen. Es ist so, als müssten wir plötzlich neue Prioritäten setzen, solche, die uns schon lange fremd sind und die überholt und primitiv wirken. Wir merken, dass wir auf einmal selber zurückfallen, in den Gefühlen und im Denken. Wir sind dem Einfluss von kollektiven Traumatisierungen verfallen. Wir verlieren die Stabilität der Entwicklungsstufe, die wir schon erreicht haben.

Traumatisierungen und Stressüberlastung führen zur Regression. Nehmen wir das Beispiel von Erkrankungen: Wenn z.B. durch Viren oder Bakterien Entzündungen im Körper entstehen, wechselt er in den Notfallsmodus, und wir regredieren und werden schwach und hilflos wie kleine Kinder. Die Regression dient der Sicherung des Überlebens mit einfacheren Mitteln. Alle Ressourcen werden aufgewendet, um die Gefahr zu bannen und den Körper wieder zur gesunden Selbstregulation zurückzuführen. 

Gesellschaften reagieren ebenfalls mit dem Rückfall auf frühere Stufen der Stress- und Konfliktbewältigung, wenn es zu massiven Bedrohungen kommt, die mit den bestehenden Mitteln nicht oder scheinbar nicht gemeistert werden können. Im aktuellen Fall können wir sehen, dass es gar nicht realer Bedrohungen bedarf, um primitive Reaktionsmuster zu aktivieren. Es  genügen schon fantasierte Bedrohungen, wie sie als Traumafolgen bekannt sind. Diktatoren und autoritäre Führer neigen dazu, die Wirklichkeit zu verzerren und die Grenzen zwischen Fantasie und Realität zu verwischen, in ihrer Propaganda und in ihrem Weltbild. Die Ängste, die durch solche Vermischungen mobilisiert werden  sollen, stammen aus der Vergangenheit, aus dem Feld kollektiver Traumen.

Erzwungene Regression

Die Regression, in die sich die Staaten des Westens bewegen, ist erzwungen, sie kann aber wieder rückgängig gemacht werden, wenn sie mit Bewusstheit und nicht als Traumareaktion vollzogen ist. Gesellschaften, die ausreichend auf der Ebene des systemischen Bewusstseins verankert sind, können im Notfall sogar bestimmte Grundrechte aussetzen und dann zur Normalität zurückkehren, sobald der Notfall vorbei ist. Fortgeschrittenere Systeme sind flexibler, regressive Systeme sind starrer. 

Die Aufrüstung ergibt sich als Systemzwang, der im Ganzen gesehen sinnlos ist, aber notwendig geworden ist, damit der Aggressor von der Fortsetzung des Wiederhoungszwanges abgeschreckt wird. Das Perfide an der gegenwärtigen Situation ist also, dass die Politik gar nicht anders kann, als die Streitkräfte zu stärken, alles andere wäre verantwortungslos und Wasser auf die Mühlen der Kriegstreiber. Die Beschwichtigungspolitik der dreißiger Jahre hat Deutschland motiviert, den 2. Weltkrieg loszutreten. Diese Erfahrung darf nicht wiederholt werden.

Die Macht der kollektiven Traumen brechen

Wir entkommen dem Sog des Wiederholungszwanges nur, wenn wir die Macht der kollektiven Traumatisierungen wahrnehmen und ihnen ins Angesicht blicken. All die Gefühle, die in diesen Feldern gespeichert sind, müssen angenommen und durchgespürt werden. Auf der rationalen Ebene ist es wichtig, dass es keine kognitiven Verzerrungen und andere Einsprengseln der Traumaenergie gibt. Das Geschichtsbild löst sich dabei von Schuldzuweisungen und moralischen Bewertungen und bewegt sich hin zu einem vertieften Verständnis der Zusammenhänge zwischen Akteuren, Systemen und Mentalitätsmustern. Die Erkenntnisse der Geschichtswissenschaften bilden den Maßstab für eine rationale und ausgewogene Bewertung historischer Vorgänge. Dazu dienen z.B. Forscherkommissionen, die von Historikern aus den Ländern beschickt sind, zwischen denen ein Konflikt bestanden hat oder besteht, oder Museen, in denen unterschiedliche Sichtweisen auf die Geschichte präsentiert werden.

Solange die Vergangenheit die Gegenwart regiert, ist kein freies Verhältnis zu den aktuellen Wirklichkeiten möglich. Damit ist auch die Auflösung von aktuellen Konflikten erschwert oder unmöglich gemacht. Jede nachhaltige Friedenssicherung beruht auf der Aufarbeitung der kollektiven Traumen. Der Friede mit der eigenen Vergangenheit ist die unabdingbare Voraussetzung für den Frieden in und mit der Gegenwart (das gilt auf der individuellen wie auf der kollektiven Ebene). Friede im Jetzt ist die Basis für Handlungsfähigkeit in konstruktiver und kreativer Weise zur menschengerechten Gestaltung der Zukunft.

Zum Weiterlesen:
Kollektive Traumen und ihre Folgen
Kollektive Traumen hinter dem Ukraine-Angriff