Die kriegerischen Ereignisse in der Ukraine konfrontieren uns mit urtümlichen Formen der Konfliktlösung, nämlich mit der Vorstellung, mittels Gewalt und überlegener militärischer Stärke einen Gegner zu unterwerfen und ihm die eigenen Wünsche aufzuzwingen. Das Recht des Stärkeren war schon weitgehend aus der zivilisierten Welt verschwunden, überwunden durch Rechtssysteme auf staatlicher Ebene und durch internationale Verträge und übernationale Organisationen auf weltweiter Ebene. Doch nicht alle Spieler halten sich an die Regeln, und wenn einer der mächtigen ausschert und die Regeln verletzt, gerät das gesamte System aus den Fugen und muss sich neu aufstellen.
Die logische Konsequenz ist dann, dass die anderen Mitspieler auf das primitivere Niveau regredieren müssen, um dort wieder ein Gleichgewicht herzustellen. Ein Staat setzt aktuell seine Waffengewalt ein, um die eigenen Grenzen zu erweitern und ein anderes Land zu unterwerfen. Das ist eine Form der Machtpolitik, die seit dem 2. Weltkrieg weltweit geächtet ist, weil jeder vernünftig denkende Mensch aus den massiven Zerstörungen dieses Krieges lernen kann, dass Gewalt keine Probleme löst, sondern sie vermehrt. Auch sollte aus der historischen Erfahrung klar sein, dass Angriffskriege zur Eskalation und zum Engagement anderer Mächte führen und langfristig keinen Gewinn bringen. Wenn sich aber ein Staat primitiverer Mittel bedient, um die eigenen Interessen durchzusetzen, müssen die anderen Staaten auf dieser Ebene Gegenwehr leisten, ob sie es wollen oder nicht. Wenn sie es nicht machen, geraten sie selber unter die Räder der Angriffsmaschinerie.
Also muss überall aufgerüstet werden. Geldmittel, die für die Weiterentwicklung des Sozial- und Gesundheitssystems, für Bildung und für die Entwicklung neuer Technologien gegen den Klimawandel eingesetzt werden könnten, müssen in die Rüstung gesteckt werden, wo sie keinen anderen Zweck erfüllen als den der Abschreckung. Waffen werden unter Einsatz von viel Intelligenz und Rohstoffen entwickelt und gebaut, im besten Fall dafür, dann im Lauf der Zeit zu verrosten. Das gilt solange, bis eine stabilere Weltordnung mit effektiven Kontrollmechanismen implementiert ist und zugleich überall demokratische Mechanismen installiert sind, die verhindern, dass größenwahnsinnige und paranoide Personen in politische Führungspositionen gelangen können.
Der Wiederholungszwang
Was jetzt gerade passiert, ist alles schon in ähnlicher Form geschehen, mitten in Europa und anderswo auf der Welt. Es müsste nicht noch einmal wiederholt werden, was schon mehrfach in der Geschichte mit all den tragischen Folgen geschehen ist. Wir wissen schon, wie es ausgeht. Doch wenn die Vergangenheit nicht verarbeitet ist und verstanden wurde, führt sie die Regie und nicht die scheinrationalen Kalkulationen, mit denen Kosten und Nutzen von Aggressionen abgewogen werden.
Wir wissen aus der Traumapsychologie, dass nicht aufgearbeitete Traumen zur Wiederholung und Wiederinszenierung drängen, und das gilt auch für kollektive Traumen. Wir sind also Zeugen eines gigantischen kollektiven Wiederholungszwangs, seiner destruktiven Wucht und seiner Zwanghaftigkeit. Wie das allgegenwärtige Vergleichsobjekt Adolf Hitler zeigt, gibt es auf dieser Schiene kein Zurück, es gibt nur den Endsieg oder die Endniederlage.
Die Logik der Evolution
Das Leben schreitet fort von einer Entwicklungsstufe zur nächsten. Die späteren Stufen schließen die Errungenschaften der früheren mit ein und organisieren sie zu neuen Strukturen mit neuen Qualitäten. Das ist der Lauf der Dinge und der jedem Leben inhärente Drang zum Wachsen, oder, in der Sprache der Physik, die Erzeugung von Ordnung aus Chaos (Negentropie). Am deutlichsten sichtbar sind solche Entwicklungsschritte bei Kindern und Jugendlichen. Sie zeigen sich z.B. bei der Geburt oder während der Adoleszenz.
Ähnlich verhält es sich mit Gesellschaften und der Menschheit insgesamt. Auch sie bewegen sich von einer Ebene zur nächsten, um neue Herausforderungen besser meistern zu können. Das Modell der Bewusstseinsevolution beschreibt die Entwicklung dieser aufeinanderfolgenden Organisationsmodelle und ihre inneren Zusammenhänge. Dabei kommt es zu Fortschritten in der Komplexität und Differenziertheit. Im günstigen Fall verlaufen diese Prozesse organisch.
Regression und Instabilität
Es kann aber auch zu Störungen kommen, wenn es um das Fortschreiten in eine neue Stufe geht, sodass der Prozess steckenbleibt. Die bewahrenden und die weiterdrängenden Elemente geraten in Konflikt. Wenn die konservierenden Kräfte die Überhand bekommen, kommt es zu Regressionen, also zum Rückfall auf frühere Ebenen der Entwicklung. Wenn wir uns das Modell der Bewusstseinsentwicklung anschauen, wirkt es manchmal so, als geschehe der Rückfall gleich um mehrere Stufen. Es ist so, als müssten wir plötzlich neue Prioritäten setzen, solche, die uns schon lange fremd sind und die überholt und primitiv wirken. Wir merken, dass wir auf einmal selber zurückfallen, in den Gefühlen und im Denken. Wir sind dem Einfluss von kollektiven Traumatisierungen verfallen. Wir verlieren die Stabilität der Entwicklungsstufe, die wir schon erreicht haben.
Traumatisierungen und Stressüberlastung führen zur Regression. Nehmen wir das Beispiel von Erkrankungen: Wenn z.B. durch Viren oder Bakterien Entzündungen im Körper entstehen, wechselt er in den Notfallsmodus, und wir regredieren und werden schwach und hilflos wie kleine Kinder. Die Regression dient der Sicherung des Überlebens mit einfacheren Mitteln. Alle Ressourcen werden aufgewendet, um die Gefahr zu bannen und den Körper wieder zur gesunden Selbstregulation zurückzuführen.
Gesellschaften reagieren ebenfalls mit dem Rückfall auf frühere Stufen der Stress- und Konfliktbewältigung, wenn es zu massiven Bedrohungen kommt, die mit den bestehenden Mitteln nicht oder scheinbar nicht gemeistert werden können. Im aktuellen Fall können wir sehen, dass es gar nicht realer Bedrohungen bedarf, um primitive Reaktionsmuster zu aktivieren. Es genügen schon fantasierte Bedrohungen, wie sie als Traumafolgen bekannt sind. Diktatoren und autoritäre Führer neigen dazu, die Wirklichkeit zu verzerren und die Grenzen zwischen Fantasie und Realität zu verwischen, in ihrer Propaganda und in ihrem Weltbild. Die Ängste, die durch solche Vermischungen mobilisiert werden sollen, stammen aus der Vergangenheit, aus dem Feld kollektiver Traumen.
Erzwungene Regression
Die Regression, in die sich die Staaten des Westens bewegen, ist erzwungen, sie kann aber wieder rückgängig gemacht werden, wenn sie mit Bewusstheit und nicht als Traumareaktion vollzogen ist. Gesellschaften, die ausreichend auf der Ebene des systemischen Bewusstseins verankert sind, können im Notfall sogar bestimmte Grundrechte aussetzen und dann zur Normalität zurückkehren, sobald der Notfall vorbei ist. Fortgeschrittenere Systeme sind flexibler, regressive Systeme sind starrer.
Die Aufrüstung ergibt sich als Systemzwang, der im Ganzen gesehen sinnlos ist, aber notwendig geworden ist, damit der Aggressor von der Fortsetzung des Wiederhoungszwanges abgeschreckt wird. Das Perfide an der gegenwärtigen Situation ist also, dass die Politik gar nicht anders kann, als die Streitkräfte zu stärken, alles andere wäre verantwortungslos und Wasser auf die Mühlen der Kriegstreiber. Die Beschwichtigungspolitik der dreißiger Jahre hat Deutschland motiviert, den 2. Weltkrieg loszutreten. Diese Erfahrung darf nicht wiederholt werden.
Die Macht der kollektiven Traumen brechen
Wir entkommen dem Sog des Wiederholungszwanges nur, wenn wir die Macht der kollektiven Traumatisierungen wahrnehmen und ihnen ins Angesicht blicken. All die Gefühle, die in diesen Feldern gespeichert sind, müssen angenommen und durchgespürt werden. Auf der rationalen Ebene ist es wichtig, dass es keine kognitiven Verzerrungen und andere Einsprengseln der Traumaenergie gibt. Das Geschichtsbild löst sich dabei von Schuldzuweisungen und moralischen Bewertungen und bewegt sich hin zu einem vertieften Verständnis der Zusammenhänge zwischen Akteuren, Systemen und Mentalitätsmustern. Die Erkenntnisse der Geschichtswissenschaften bilden den Maßstab für eine rationale und ausgewogene Bewertung historischer Vorgänge. Dazu dienen z.B. Forscherkommissionen, die von Historikern aus den Ländern beschickt sind, zwischen denen ein Konflikt bestanden hat oder besteht, oder Museen, in denen unterschiedliche Sichtweisen auf die Geschichte präsentiert werden.
Solange die Vergangenheit die Gegenwart regiert, ist kein freies Verhältnis zu den aktuellen Wirklichkeiten möglich. Damit ist auch die Auflösung von aktuellen Konflikten erschwert oder unmöglich gemacht. Jede nachhaltige Friedenssicherung beruht auf der Aufarbeitung der kollektiven Traumen. Der Friede mit der eigenen Vergangenheit ist die unabdingbare Voraussetzung für den Frieden in und mit der Gegenwart (das gilt auf der individuellen wie auf der kollektiven Ebene). Friede im Jetzt ist die Basis für Handlungsfähigkeit in konstruktiver und kreativer Weise zur menschengerechten Gestaltung der Zukunft.
Zum Weiterlesen:
Kollektive Traumen und ihre Folgen
Kollektive Traumen hinter dem Ukraine-Angriff
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