Mittwoch, 20. August 2025

Religion und Krieg

Religionen verkünden das Absolute. Sie wollen die Menschen dazu bewegen, ihre Alltagssorgen hinter sich zu lassen und dem Absoluten die Priorität im Leben zu geben. Da das Glauben an das Absolute keine reine Gefühlssache sein kann, appellieren sie an die höheren kognitiven Funktionen, mit denen die Menschen ihre Impulse und Gefühle kontrollieren können.  In komplexen Konfliktfeldern kann nur mit Hilfe dieser Funktionen das Ausbrechen von Kriegen verhindert werden, bzw. kann nur über diesen Weg Friede nach Kriegen geschlossen werden. 

Der Friede spielt deshalb eine wichtige Rolle in den Religionen und steht im Zentrum der Botschaften von Religionsstiftern und hohen Vertretern von Religionsgemeinschaften. Und doch kommt es immer wieder vor, dass die Religionen an Kriegen beteiligt sind oder solche sogar auslösen. 

Die Übersetzungsprobleme des Absoluten

Die Verkündigung des Absoluten stößt immer wieder auf Schwierigkeiten, weil das Absolute in die Sphäre der relativen menschlichen Sprache übersetzt werden muss. Deshalb ist die Verkündigungspraxis untrennbar mit den menschlichen Schwächen, ihren Impulsen und Gefühlen verbunden. Alle Religionsstifter, alle Heiligen und Propheten waren Menschen mit Stärken und Schwächen. Sie waren vom Absoluten begeistert und fühlten sich davon in einer grundlegenden Weise verändert und befreit. In diesem Zustand waren sie für viele andere, die an ihren Sorgen und Ängsten litten, ein leuchtendes Vorbild, dem sie nachfolgten, um auch in einen Zustand des Glücks und der Befreiung zu gelangen. Mit jeder relativen Vermittlung, also mit jeder Predigt oder jedem heiligen Text, wird die Botschaft des Absoluten verwässert und widersprüchlicher. Jeder nimmt sich aus der Verkündigung das, was er gerade für die eigene Bedürfnislage braucht. Und schon dient die Religion nicht mehr der Annäherung an das Absolute, sondern ordnet sich den Interessen der Menschen unter. 

Deshalb kann z.B. die russisch-orthodoxe Kirche den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine rechtfertigen. Das Oberhaupt dieser Kirche bezeichnet den Krieg als „metaphysischen Kampf“ zwischen Russland (als Verteidiger traditioneller Werte, vor allem des Patriarchalismus) und einem „dekadenten“ Westen. Diese Position hat nichts mit dem Absoluten zu tun, sondern nutzt den Anschein der göttlichen Nähe für politische und kulturkämpferische Propaganda. Die militärische Gewalt wird unter Missbrauch religiöser Formeln geheiligt.

Zwar bringt jede Religion Strömungen hervor, die das Absolute wieder ins Zentrum stellen wollen (z.B. die Ordensgründungen oder die Reformationen im Christentum oder der Sufismus im Islam), doch werden diese Versuche der Zurückführung auf die eigentliche Botschaft entweder selbst wieder institutionalisiert oder sie bleiben Randphänomene. Die Reformation hat z.B. evangelikale Kirchen hervorgebracht, die in den USA strikt nationalistisch auftreten und die aggressive Migrationspolitik der gegenwärtigen Regierung unterstützen. 

Religion und Angsterzeugung

Es ist den Religionen gelungen, mehr Ethik ins Volk zu bringen. Insbesondere monotheistische Religionen (Christentum, Islam) nutzen das Jenseits als ethisches Korrektiv für das Diesseits. Wer hier nach dem Guten strebt, wird dort mit ewiger Glückseligkeit belohnt. Anders im Hinduismus: Wer hier Gutes bewirkt, kann mit einer besseren Wiedergeburt rechnen; wer nur Gutes tut, wird sogar vom schicksalhaften Rad der Wiedergeburten befreit. Zugleich haben die Religionen aber neue Ängste geschürt: Wer nicht ihren Richtlinien folgt, muss mit ewiger Verdammnis oder mit grauslichen Widergeburten rechnen. Das Tun des Guten wird mit der Angst vor Bestrafung verbunden, und das eigentliche Ziel der Religion, Menschen dazu zu bringen, von sich aus das Gute zu  tun, wird verfehlt. 

Die Angstmache der Religionen rückt sie näher zur Sphäre der Gewalt. In vielen Religionen hat dagegen das Prinzip der Gewaltfreiheit einen wichtigen Platz. Der große Vertreter des gewaltfreien Widerstandes, Mahatma Gandhi, hat die Idee der Gewaltfreiheit aus dem Hinduismus übernommen („Ahimsa“) und von der bloßen Vermeidung von Gewalt zu einer aktiven Haltung des Mitgefühls auch gegenüber Gegnern erweitert.

Muhammad spricht in frühen Suren des Korans von Gewaltfreiheit und von der Einschränkung der Gewalt. Der umstrittene Begriff des „Dschihad“ (eigentlich: „Anstrengung auf dem Weg Gottes“) wird in der späteren Schriften im Zusammenhang mit kriegerischen Auseinandersetzungen, in die der Prophet verwickelt war, auch auf militärische Handlungen ausgeweitet. Zur Verteidigung und zur Ausbreitung des Glaubens ist Gewalt nach der Scharia gerechtfertigt. 

Auch das Christentum ist in seiner Geschichte sehr ambivalent mit dem Thema Gewalt verstrickt. Bekanntlich wurden die Kreuzzüge mit äußerster Brutalität geführt. In verschiedenen Kriegen haben Kirchenvertreter Waffen gesegnet und Kriege gutgeheißen, wenn nicht sogar angezettelt. Diese unrühmlichen Rollen wurden durch die Wiedererinnerung an die Friedensbotschaft des Christentums  in längeren Lernprozessen zumindest von Teilen der Amtskirchen verabschiedet.

Vermischung von Absolutem und Relativem

Religionen enthalten immer absolute und relative Wahrheiten. Sobald sich Religionsvertreter in weltliche Belange einmischen, laufen sie Gefahr, den Absolutheitsanspruch der religiösen Wahrheit auf die relativen Dinge zu übertragen. Das Absolute ist ungeeignet, gesellschaftliche Konflikte zu lösen, vielmehr werden Kompromisse verhindert, sobald absolute Ansprüche erhoben werden. 

Aus dieser Vermischung erwächst der Fanatismus, in dessen Namen schon viele Gewalttaten begangen wurden. Im Gefühl der Rechtschaffenheit und Gottesfürchtigkeit wird Böses begangen, ohne Einsicht und Reue, sondern mit der Überzeugung, dem Guten nur auf diese Weise zum Durchbruch verhelfen zu können.

Höchste Erlaubnis für Gewalttätigkeit

Die von den Religionen in der Geschichte bis heute immer wieder entfachte Wucht an Aggressivität wurzelt darin, dass religiös geprägte Religionsvertreter aus missverstandener Treue an das Absolute Gewalt rechtfertigen und dazu ermutigen. Sie nutzen die Autorität des Absoluten, um ihren Anhängern einen Freibrief zu geben, ihre Wut an anderen Menschen auszulassen. Viele Menschen haben große Mengen an Wut in sich aufgestaut, gespeist aus den verschiedensten Quellen der eigenen Lebensgeschichte. Mit einem Heiligenschein versehen, darf sich die Wut an unschuldigen Opfern austoben, scheinbar als Dienst am Absoluten. In Wahrheit sind es Machtinteressen von verblendeten Menschen, die aus solchen angezettelten Blutvergießen ihren Nutzen ziehen. Die Vollstrecker der Gewalt dienen als nützliche Idioten der Anstifter, und diese hängen sich den Mantel des Absoluten um, um ungeschoren davon zu kommen und ihre Schäfchen ins Trockene bringen zu können.

Klare Grenzen als Voraussetzung für die Humanität

Dort, wo es gelingt, eine klare Grenze zwischen den absoluten und den relativen Wahrheiten zu ziehen, wird dem Kaiser gelassen, was des Kaisers ist, und Gott das, was Gottes ist. Die Kirche bleibt im Dorf, und die Heiligen versuchen nicht, auf mächtige Politiker zu spielen. Dann macht sich die Religion keine Finger mit den hässlichen Geschäften um Krieg und Gewalt schmutzig, sondern besinnt sich auf ihre eigentliche Rolle, die im Übersetzen des Absoluten in die relative Welt der Menschen besteht. 

In vielen Kulturräumen der Welt ist diese Grenzziehung noch immer verschwommen, und dadurch entsteht viel Unheil. Gewalttaten und Kriege werden im Namen und mit Billigung der Religion ausgeführt, scheinbar bewaffnet mit dem Segen Gottes und besessen von der Unerbittlichkeit des Absoluten. Die verführerische Macht absoluter Aussagen bringt noch immer viele Menschen dazu, an sie zu glauben und ihr ohne Kritik zu folgen. Unmenschliche Taten werden mit der Aussicht auf himmlischen Lohn verherrlicht, während sich die religiöse Botschaft gerade selbst ins Absurde dreht, gegen sich selbst gerichtet. Eher über lang als über kurz graben sich die Religionen in ihrem Machtrausch den Boden ab, auf dem sie entstanden sind. Sie merken nicht, dass sie sich mit den Kräften verbündet haben, die sie in ihren Predigten als den Teufel brandmarken. 

Menschen, die sich nicht von Absolutheitsansprüchen verführen und blenden lassen, wenden sich mit Abscheu von der Heuchelei und Verlogenheit von Religionen ab, die Wasser predigen und Blut trinken. Aufrechte und würdebewusste Menschen können nur glauben, was glaubhaft ist, was also von ethischer Integrität getragen ist. 

Gesellschaftlicher Bedeutungsverlust und spiritueller Gewinn

Die Krise des Christentums in den aufgeklärten Ländern West- und Nordeuropas hat mit den inneren Widersprüchen zu tun, die aus der Vermischung relativer Machtansprüche mit der absoluten Botschaft entstanden sind.  In der Rückbesinnung auf den ursprünglichen Verkündigungsauftrag haben sich diese Kirchen einerseits mehr der Mystik, also der direkten Erfahrung des Absoluten, und andererseits der Caritas, der Vermenschlichung des Absoluten im Einsatz für die Hilfsbedürftigen und Schwachen der Gesellschaft zugewandt und sind dadurch wieder glaubhaft geworden.

Der Deutungs- und Bedeutungsverlust der Religionen als Folge der Religionskritik der Aufklärung ist ein Prozess, der für die Vermenschlichung der Gesellschaften unabdingbar ist. Es handelt sich um eine Art der Gesundschrumpfung. Erst dann, wenn sich die Religionen auf ihren von ihren Stiftern vorgegebenen Weg der Liebe und Demut zurückbegeben, können sie den Menschen eine Orientierung anbieten, die sie aus der Gewaltbereitschaft zur Friedfertigkeit führt.

Die Religionen haben nur eine Zukunft, wenn sie sich bedingungslos auf die Seite der Friedensstifter stellen und in Kriegen nie auf der Täter-, sondern immer auf der Opferseite stehen. Indem sie auf alle Machtansprüche verzichten, können sie ihre Kräfte dem Dienst an den leidenden Menschen widmen. Sie gewinnen dadurch die ethische Integrität, mit der sie gegen alle destruktiven Strömungen auftreten können. Sie werden zu Vertretern der menschlichen Vernunft und unterstützen die Projekte der Vermenschlichung gegen die Egoismen. 

Zum Weiterlesen:
Braucht es einen Krieg? Wer braucht einen Krieg?
Kriege entstehen in den Köpfen
Krieg und Scham
Pazifismus in der Krise?

 

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