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Sonntag, 20. April 2025

Die Globalisierung von Konflikten durch die Aktivierung von Traumen

In vielen Gebieten der Welt herrscht unermessliches Leid als Folgen von gewaltsamen und langwierigen Konflikten. Das berührt auch die anderen Mitglieder der Menschenfamilie und führt oft zu einem tiefen Mitgefühl für die Opfer dieser Konflikte.

Humane Katastrophen bringen die Menschen dazu, nach Erklärungen für die Auslöser zu suchen. Denn solche Ereignisse sollten nach Möglichkeit in Zukunft verhindert werden. Die richtige Erklärung sollte dazu helfen.  Die einfachste Erklärung besteht darin, einen Schuldigen zu finden, der dann ausgeschaltet oder bestrafen werden kann. Doch führen die einfachen Erklärungen meist in die Irre. Die menschlichen Angelegenheiten sind bekanntlich immer vielschichtig und komplex.

Allerdings werden diese Konflikte zu emotional aufgeladenen Themen vereinfacht und verbreiten sich weit über die Konfliktgebiete hinaus. Dort schaffen sie zusätzliche, sekundäre Konflikte, die weitere Opfer fordern. Denn das Leid von Menschen wird in Waffen für alle möglichen politischen Interessen umgeschmiedet. Aus schrecklichen Unmenschlichkeiten werden ideologische Konstrukte gefertigt, die nichts mehr mit dem Leid der Betroffene zu tun haben, sondern anderen Zwecken dienen. Ein wichtiger Aspekt solcher Konstrukte ist es, Unbeteiligte dazu zu bringen, sich in das ideologische Freund-Feind-Schema einzugliedern, um die eigene Position zu stärken und den eigenen Hass zu rechtfertigen. 

Der Nahostkonflikt in globaler Polarisierung

Eines dieser Themen ist der Nahostkonflikt – seit es ihn gibt. Der Terrorüberfall am 7. Oktober 2023 und die darauf folgende militärische Reaktion Israels haben dieses Thema in einem unglaublichen Ausmaß emotional aufgeladen und zu massiven Polarisierungen geführt, die sich gleichsam durch die ganze Welt ziehen. Die Frontlinien verlaufen ungefähr so: Wer für Israel Partei ergreift, wird von der anderen Seite als Unterstützer eines Genozids eingeschätzt; wer sich auf die Seite der Palästinenser stellt oder die Politik der israelischen Regierung kritisiert, wird als Antisemit gebrandmarkt. 

Je mehr emotionale Aufladung herrscht, desto schwerer wird es, differenziert zu argumentieren; es geht nur mehr um die Frage: Bist du für oder gegen mich/uns? Es gibt nur eine Wahrheit, wer sie teilt, ist ein Freund, wer sie bestreitet, ist ein Feind und muss bekämpft werden. Emotionale Aufladung bedeutet immer Stress; Stress bewirkt die Vereinfachung des Denkens und die Aktivierung des Freund-Feind-Schemas. 

Aktivierung von Traumen

Solche Themen werden oft von Menschen aufgegriffen, die direkt gar nichts damit zu tun haben, weil sie andere Interessen bedienen und politischen Erfolg mit einer Parteinahme erreichen wollen. Tiefer betrachtet, nutzen sie unbewusst solche Themen, um bei den Menschen in ihrer Zielgruppe Traumareaktionen auszulösen. Denn die Energien, mit denen solche Themen emotional aufgeladen und mit Wut und Hass belebt werden, stammen aus Traumen, in denen die Person das Opfer von übermächtiger Gewalt war und meint, sich jetzt gegen diese Gewalt wehren zu müssen, um nicht wieder in die ohnmächtige Opferrolle zu geraten. Das ist also eine unbewusste Dynamik, in der sich die individuelle Traumaerfahrung mit dem kollektiven Traumafeld verbindet.

Identifikation mit den Opfern

Im Nahostkonflikt gibt es auf beiden Seiten viele Opfer, aber das eigene Trauma bewirkt bei Unbeteiligten, sich mit einer Seite der Leidenden zu identifizieren und für diese Seite mit allen Mitteln zu kämpfen. Stellvertretend für das eigene erlittene Opfersein sollen die aktuellen Opfer aus ihrer bedrohlichen Position befreit werden und damit soll ein Sieg über das Böse, das ursprünglich die Schuld am eigenen Trauma getragen hat, erreicht werden. 

Als Folge dieser Ausbreitung der Konfliktfelder entstehen Konfliktgräben auf der ganzen Welt, und die Parteien mit all ihren Stellvertretern stehen sich wie zwei steinzeitliche Heerhaufen in mörderischer Absicht gegenüber – die einen drohen mit der Keule des Genozids, die anderen mit der Keule des Holocausts. Dazu kommt, dass alle, die da nicht mitmachen wollen, gezwungen werden sollen, Partei zu ergreifen, oft nach dem Motto: Bist du nicht bedingungslos für uns, dann bist du unser Feind. Damit wird weit abseits der Konfliktgebiete eine Debattenkultur erschaffen, die die Grausamkeit der realen Kriege in die ganze Welt trägt, von Aggressionen aufgeladen ist und mehr und mehr Menschen in ihren Bann zieht.

Natürlich gibt es die verschiedensten Interessensgruppen und Lobbys, die daran arbeiten, dass politische Konfliktthemen emotional aufmunitioniert werden. Sie wollen die Traumawunden für sich nutzen, die tief in der Psyche der meisten Menschen verankert sind. Die Propaganda dieser Gruppen ist schon geschult darin, die Sprache zu finden, mit denen die individuellen und kollektiven Traumen getriggert und aktiviert werden. Wenn dazu noch eine Lösung oder gar ein Erlöser präsentiert wird, gelingt es leicht, Anhänger zu finden und an die eigene Gruppierung zu binden. Einmal eingefangen, ist es für die Zielobjekte dieser Masche schwer, wieder zu einer eigenen Meinung und einer ausgewogenen Sichtweise zurückzufinden. 

Die sogenannten sozialen Medien tragen viel dazu bei, diese Rekrutierungsmanöver noch effektiver zu gestalten, denn ihre Algorithmen sind darauf eingestellt, die entsprechenden Traumaschleifen zu verstärken und zu vertiefen, wenn sie ihnen einmal durch das Nutzerverhalten auf die Spur gekommen sind. Sie verschärfen die Polarisierung und die Überzeugung, dass es überlebenswichtig ist, auf der einen Seite zu stehen und die andere zu verdammen.

Die Macht des Traumas in Verbindung mit den von der Propaganda angebotenen Abwehr- und Verlagerungsstrategien ist so dominant, dass das Feindbild zu einem Teil der eigenen Identität wird, ja werden muss, denn für das Unterbewusste sichert die Klarheit über die Gefahr und die „wirklichen“ Bösewichter das Überleben.

Schnell wird das Opfer-Täter-Retter-Dreieck vervollständigt: Zunächst findet die Identifikation mit dem Opfer statt, z.B. mit den Palästinensern im ausgebombten Gaza-Streifen oder mit israelischen Familien, die um das Leben einer Geisel bangen. Dann werden die Täter namhaft gemacht, und die Wut und der Hass aus der eigenen Traumawunde werden auf sie gerichtet. Schließlich bietet sich ein Retter an, z.B. ein Politiker, der kompromisslos und vehement für eine Seite des Konflikts engagiert ist, oder eine Partei, die die eigene Sichtweise auf die Opfer- und Täterrolle teilt.

Der Ausstieg aus solchen Dynamiken fällt enorm schwer und kann meist ohne Hilfe von außen nicht gelingen. Eine solche Hilfe ist nur dann wirksam, wenn sie auf die emotionale und nicht auf die rationale Ebene der Bindung an eine bestimmte Position in einem konfliktreichen Thema eingeht. Jemanden von seiner Überzeugung, die stark in die eigene Identität aufgenommen wurde, abzubringen, ist umso schwieriger, je stärker die emotionale Aufladung ist.  Die Identifikation mit der Opferseite und mit dem Hass auf die Täterseite dient der Abwehr des emotionalen Schmerzes, der mit dem erlittenen Trauma verbunden ist. Die Aggressionen, die auf die Täter in der aktuellen Thematik gerichtet werden, stammen aus den Kräften, die zum Überleben des Traumas beigetragen haben und müssen deshalb aufrechterhalten bleiben. Darin liegt der Grund, warum immer wieder nach neuen Quellen und Bestätigungen für die Wut- und Hassgefühle gesucht werden. Es darf keine Schwäche zugelassen werden, weil sie an das Ausgeliefertsein, an die Verletzlichkeit und an den Schmerz erinnern würde, an die schamerfüllte Ohnmacht in der ursprünglichen Traumaerfahrung.

Zum Weiterlesen:
Kollektive Traumen und ihre Folgen


Sonntag, 8. Oktober 2023

Der allgegenwärtige Narzissmus

Jede Gemeinschaft, in der es Narzissten gibt, ist von narzisstischen Strukturen durchzogen und durchtränkt. So wie die Narzisse vertrocknet, wenn sie zu wenig Wasser bekommt, so würde die Narzisstin verzweifeln und nach Hilfe suchen, wenn sie nicht Menschen hätte, die ihr Muster bestätigen und auf ihre Manipulationen hereinfallen. Die verbreitete Blindheit gegenüber narzisstischen Verhaltensweisen und Persönlichkeitszügen führt dazu, dass Narzissten immer wieder Bewunderer und Verehrer finden, sowie Leute, die sie in Führungspositionen hieven, auf Rednertribünen bringen und in Machtpositionen wählen. Menschen, deren narzisstischen Anteile versteckt sind, bestätigen die narzisstischen Muster der offenen Narzissten und verstärken damit die Verblendung in der Gesellschaft. 

Es erstaunt immer wieder, wie narzisstische Menschen mit Täuschungen und Verwirrtaktiken Medien und Gerichte an der Nase herumführen können und mit ihren Schamlosigkeiten ungestraft durchkommen. Sie haben ihre Helfer und Helfeshelfer überall im Publikum, die heimlich oder offen Beifall klatschen, wenn ein Narzisst seine Gegner und Kritiker fertigmacht oder die Gerichte beschimpft, die ihn zur Rechenschaft ziehen wollen. 

Der Narzissmus ist allgegenwärtig und kommt gewissermaßen in den besten Kreisen vor. Deshalb ist er allen in irgendeiner Weise bekannt und vertraut. Da wir alle über narzisstische Anteile verfügen, haben wir Affinitäten und Resonanzen zu den narzisstischen Phänomenen, sobald sie irgendwo auftauchen. Jede Unbewusstheit, die uns unterläuft, füttert diesen Narzissmus in uns selber und in der ganzen Gesellschaft. Das Gestörte wird zum Normalen.

Offensichtlich narzisstisch gestörten Personen wird besonderes Vertrauen entgegengebracht, weil sie ins eigene unbewusste Erwartungsbild passen. Im Witz sagt der Mann zur Frau, während im Fernsehen jemand redet: „Sicher ist er der Satan, der Fürst der Dunkelheit, der König der Hölle, der Meister der Lügen, der Verblender und Überbringer von Übel und Verführung, aber er fürchtet sich nicht, auszusprechen, was die Leute denken.“ Der offene Narzisst bedient die unbewussten Fantasien der verdeckten Narzissten. Sie haben ihre Gefühle unter Kontrolle und würden nie in Hassreden verfallen. Das erledigt die Identifikationsfigur für sie. Deshalb verehren sie diese Person und hassen alle ihre Gegner. Sie fühlen sich erkannt und verstanden, ohne dass sie sich selber zu ihrem Hass und zu ihrer Bosheit bekennen müssen. Sie können in der Deckung bleiben, während die narzisstische Identifikationsfigur ihre Aggressivität stellvertretend in der Öffentlichkeit auslebt. 

Diesen Identifikationen ist auch geschuldet, dass gerade mutige Aufdecker von narzisstischen Übergriffen und Machenschaften besonderen Hass von jenen ernten, die weder mit den Tätern etwas zu tun haben noch von deren Manipulationen profitieren. Dieser Hass dient dem Schutz vor der eigenen Scham, die sich zeigen würde, wenn offenbar wird, dass die eigene Bewunderung und Verehrung einer gestörten Persönlichkeit gegolten hat.

Die innere Leere

Ein Kennzeichen des Narzissmus besteht in der Ausblendung und Ausleerung der eigenen Innerlichkeit. Er erzeugt immer eine Wirklichkeitsverzerrung, denn die Wirklichkeit kann nur dann adäquat erfahren werden, wenn das Innere mit dem Äußeren in einer fließenden Wechselbeziehung steht. Beim Narzissmus ist die Verbindung zum Inneren unterbrochen, wodurch das Innere zur Leerstelle wird.

Damit gibt es erstens keine klare Unterscheidung zwischen Innen und Außen und zweitens erlebt die Narzisstin das Außen als das Innen, während in Wirklichkeit es das Innere ist, das im Außen auftaucht. Da aber das Innen für die Innenwahrnehmung leer ist, wird diese Verwechselung nicht bemerkt. Es entsteht eine verschwommene Zone zwischen Innen und Außen, in die dann ungeprüft einfließen kann, was immer das narzisstische Muster bekräftigt.

Da das Innere als leer erlebt wird, indem es eben nicht erlebt wird, gibt es keinen Zugang zu einer Wahrheit mehr, die über die Subjektivität hinausginge. Für den Narzissten bemisst sich der Wahrheitsgehalt von Informationen daran, wieweit sie nützlich sind, um die anderen Menschen zu kontrollieren. Sie müssen in Schach gehalten werden, damit sie nicht auf die Idee kommen, die innere Leere zu erkennen.

Die narzisstische Wirklichkeitsproduktion

Narzissten neigen besonders zu Informationsquellen, die keine klare Unterscheidung zwischen Subjektivität und Objektivität aufweisen. Umgekehrt gilt, dass Menschen, die solchen Informationsquellen den Vorzug geben, einer narzisstischen Störung unterliegen. Die vor allem in deutschsprechenden Gebieten verbreitete Wissenschaftsskepsis hat genau dort ihre psychologischen Wurzeln. 

Narzissten suchen Informationen, die zwischen Subjektivität und Objektivität schwanken, die also ihre Quellen nicht benennen oder auf unseriöse Quellen zurückgreifen. Die Verschleierung der Herkunft des Wissens soll die Überprüfbarkeit der behaupteten Wahrheit erschweren und damit das schummrige Halbdunkel, in dem die narzisstische Selbstbestätigung am besten gedeiht, aufrechterhalten. Für diese Ausrichtung eignen sich die sogenannten sozialen Medien ganz besonders. Sie sind geradezu dadurch gekennzeichnet, dass Fantasien und Fakten wild durcheinandergewirbelt werden und alle Unterschiede zwischen Meinung und Wahrheit eingeebnet sind. Jeder kann dort jedes behaupten. Die Überprüfung der Wahrheitsansprüche erfordert Mühe und wird dann wieder als subjektive Behauptung klassifiziert, die einem gefallen mag oder nicht. Diese Form der Medienkommunikation hat den narzisstischen Wahrnehmungsmustern einen riesigen Aufschwung beschert. 

Die Inhalte, um die es bei den diversen Debatten geht, kennen in der narzisstischen Sphäre ebenfalls keine klare Grenze zwischen Innen und Außen, also zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven. Subjektive, gefühlserzeugte Fantasien werden zu Fakten, ohne dass die Umwandlung bemerkt wird. Da das narzisstische Muster durch die Vermischung von Innen und Außen gekennzeichnet ist, werden solche Verwirrungen von allen, die eine narzisstisch geprägte Wahrnehmung aufweisen, als normal und sinnhaft empfunden. Wer dem nicht beipflichten kann, kann nicht normal sein. Und wer diese aus dem Narzissmus erzeugten Einsichten nicht teilt oder durchschaut, bedroht das fragile Selbstverständnis der narzisstischen Persönlichkeit und muss deshalb bekämpft werden.

Zum Weiterlesen:
Grandioser und verdeckter Narzissmus
Der elterliche Narzissmus und die Selbstfindung
Rollen von Kindern narzisstischer Eltern


Samstag, 28. Januar 2023

Über das Rat-Schlagen

Manchmal sind Ratschläge gesucht und willkommen. Wir sind als soziale Wesen auf Austausch untereinander angewiesen und wollen von den Erfahrungen anderer lernen. Wenn wir irgendwo nicht weiter wissen, sind wir auf den Erfahrungsvorsprung anderer angewiesen und suchen nach Rat. 

Manchmal befinden wir uns in der gegenteiligen Situation. Wir bekommen einen Rat, obwohl wir gar keinen wollen. Dann spricht man häufig von Rat-Schlägen, gewissermaßen von einem Gewaltakt, der uns angetan wird. Wir fühlen uns als inkompetent und unfähig abgewertet und beschämt. Es handelt sich dabei um einen Moment, in dem wir keine Lösung für unser Problem suchen, sondern Verständnis für das brauchen, was uns gerade stört und belastet. Wir wollen also emotionalen Beistand und wünschen uns empathisches Verständnis. 

In solchen Situationen erscheint uns jeder Rat als besserwisserisch oder überheblich oder als eine überflüssige Mitteilung über etwas, das wir sowieso schon wissen. Wir reagieren mit Abwehr und fühlen uns missverstanden.

Männer sind praktisch und Frauen sind emotional (?)

Solche Missverständnisse kommen häufig zwischen Männern und Frauen vor. Man sagt ja, dass Männer praktisch veranlagt und lösungsorientiert sind und sich auf der emotionalen Ebene nicht so gut auskennen, was natürlich Frauen gelten als kompetenter auf der emotionalen Ebene, während sie in logischen oder logistischen Fragen weniger fähig sind, was auch nicht immer zutrifft. Männer wollen häufig ein Problem durch eine Aktion aus der Welt schaffen, während Frauen Verständnis für ihre Problemerfahrung suchen, aus der heraus sie erst dann eine Lösung entwickeln. Auch wenn es sich hier um Stereotype handelt, die nicht in allen Fällen stimmen und bei denen es immer Ausnahmen und Mischformen gibt, haben wir es doch mit einer weit verbreiteten Prägung zu tun, die immer wieder wirksam wird und Sand in das Getriebe der zwischengeschlechtlichen Beziehungen streut.

In Konflikten, die sich aus diesen unterschiedlichen Erwartungen entwickeln, fühlen sich beide Seiten missverstanden und ungerecht behandelt: Die Männer, weil sie doch alles tun, um den Frauen zu helfen, und die Frauen, weil die Männer nicht auf sie und ihre Gefühle eingehen. 

Ratschläge der Eltern

Auch zwischen Eltern und Kindern kommt es zu solchen Formen der missverständlichen Kommunikation. Je kleiner die Kinder sind, desto stärker ist ihr Erleben von Emotionen geprägt und desto mehr brauchen sie es, auf dieser Ebene verstanden zu werden. Sie fühlen sich allein gelassen, wenn die Eltern mit Ratschlägen, Verbesserungsvorschlägen oder Kritik auf eine emotionale Not reagieren, und ziehen den Schluss, dass sie mit ihren Gefühlen falsch liegen. Wenn diese Art von Reaktion immer wieder vorkommt, bildet sich im Kind eine Spaltung zwischen den Gefühlen und dem Selbst, das sich mehr und mehr vom Spüren entfernt, weil es dafür kein oder zu wenig Verstärkung und Bestätigung bekommt. Es passt sich den Erwartungen der Eltern an und distanziert sich zugleich innerlich von ihnen. Es kann entweder seine Emotionen unterdrücken und immer weniger spüren, oder lernt nicht, die Gefühle zu regulieren, sodass sie immer wieder in übertriebenem Maß herausbrechen. In beiden Fällen kann das Kind sein Selbstgefühl nicht ausreichend entwickeln und der Selbstwert wird geschwächt.

Die Dynamik hinter dem Ratschlagen

Warum geben wir unwillkommene Ratschläge? Zum einen kann es immer sein, dass wir nicht erkennen und wissen, was die andere Person gerade braucht. Wir können nicht immer die Gefühle und Gedanken unserer Mitmenschen lesen. 

Zum anderen kommt aber immer wieder das subtile Spiel zum Tragen, das damit beginnt, dass sich der Zuhörer nicht vom Leid der klagenden Person abgrenzen kann. Er übernimmt es im Sinn von einem Mit-Leiden und kippt, vielleicht sogar, ohne es zu merken, in das Leid oder die Problematik der anderen Person hinein. 

Der Rat, der dann ausgesprochen wird, dient in solchen Situationen der eigenen Entlastung: Er bietet einen Ausweg aus dem Ohnmachtsgefühl, das uns in solchen Momenten der Identifikation mit fremdem Leid befällt. Indem wir einen Rat bereitstellen, erwarten wir, dass sich unsere eigene Belastung erleichtert und wir uns von dem Problem distanzieren können. 

Wir erteilen uns den Rat gewissermaßen selbst, um unserer eigenen Ohnmacht zu entkommen. Wir fühlen uns dabei besonders sozial und altruistisch, bemerken aber den Gewinn, den wir selber aus dem Ratschlag ziehen, nicht. 

Häufig reagieren wir verständnislos und ungehalten, wenn die andere Person den Rat nicht befolgt. Statt ihr die Verantwortung zu überlassen, kommt unsere Reaktion aus der Identifikation mit dem Problem, die weiterbesteht und sich für uns nur lösen kann, wenn die andere Person das tut, was wir ihr vorschlagen. Sobald sie sagt, sie wolle oder könne nicht, was wir für das Beste halten, geraten wir wieder in unsere Hilflosigkeit. Wir nehmen der anderen Person ihr Problem weg, heften eine Lösung dran, geben beides zurück und übernehmen das Problem gleich wieder, sobald sie nicht in unserem Sinn handelt. 

Wir können aus dieser Dynamik nur aussteigen, wenn wir das Problem dort belassen, wo es ist, und wo es allein gelöst werden kann: Bei unserem Mitmenschen. Statt uns in seine Problemlösung einzumischen, können wir ihm alles Gute wünschen und Verständnis für seine emotionale Belastung ausdrücken.

Zum Weiterlesen:
Mitgefühl und Mitleid - eine wichtige Unterscheidung


 

Samstag, 12. November 2022

Kollektive Traumen und ihre missglückte Bewältigung

Kollektive Traumatisierungen führen zu kollektiven Reaktionsbildungen. Es handelt sich dabei um Versuche des Unbewussten, den Schaden, der durch die Traumatisierung entstanden ist, durch die Umkehr ins Gegenteil wettzumachen. Der aus der Psychologie und Psychoanalyse geläufige Abwehrmechanismus tritt nicht nur bei Individuen auf, sondern zeigt sich auch in kollektiven Bewegungen. 

Reaktionsbildung im Patriarchalismus 

Hier ein Beispiel zur kollektiven Traumatisierung durch den Patriarchalismus. Eine Frau aus Skandinavien berichtet, dass in ihren Ländern schon früh die Gleichberechtigung der Geschlechter ausgerufen wurde und zu entsprechenden gesetzlichen Veränderungen geführt hat. Doch die Reaktion der Frauen war es nicht, sich mehr ihrer Weiblichkeit bewusst zu werden, sondern mit den Männern in deren bisherigen Dämonen in Konkurrenz zu treten und dort „ihren Mann“ zu stehen. Sie begannen, sich männlicher zu kleiden, bevorzugten den Kurzhaarschnitt und kamen in vielen beruflichen Bereichen weiter, die früher Männern vorbehalten waren. Erst langsam wurde der Frau bewusst, wie sehr sie sich in diesem Trend, der sich so selbstverständlich etabliert hatte, immer mehr dem männlichen Rollenbild annäherte, so als wäre es das Ideal, dem es nachzueifern gelte. Im Prozess der langjährigen Selbsterforschung entdeckte sie mehr und mehr ihre eigene Weiblichkeit und konnte sie zunehmend in ihr Selbstbild übernehmen und in ihrem Leben verwirklichen.

Die Erzählung zeigt also, dass ein unmittelbarer Ausweg aus einer traumatisierenden Situation darin besteht, sich mit den Tätern zu identifizieren und sie nachzuahmen, mit der unbewussten Annahme, dass dadurch ein Schutz vor neuerlicher Traumatisierung gewährleistet sei. Das Motto lautet: Bin ich so stark oder mächtig wie die, die mich unterdrücken, kann mich nie jemand mehr unterdrücken. Ich bin sicher, wenn ich mich so verhalte wie die Täter, die mich in die Opferrolle gebracht haben. Die Identifikation mit dem Aggressor oder dem Unterdrücker bietet einen Ausweg aus der Opferrolle. Die Kraft, die daraus gewonnen wird, ist nicht die eigene, vielmehr ist sie geborgt von der Täterperson, bzw. von der Fantasie über diese Person. Geht es um kollektive Traumatisierungen, so sind es Tätergruppen oder –schichten, mit denen die Identifikation gesucht wird. Die scheinbare Umkehr ins Gegenteil entpuppt sich als Vermehrung des Gleichen. Der scheinbare Ausweg aus der Traumafalle wird zu ihrer Bestätigung.

Die 68er-Bewegung und die Gewalt

Ein weiteres Beispiel für diesen Zusammenhang liefert die sogenannte 68er-Bewegung, die auch als Studentenrevolte bezeichnet wird. Wir können sie als Reaktion auf die unbewältigte Nazi- und Kriegszeit verstehen. Die massive Traumabelastung der Generation der Mittäter und Mitläufer drängte in einer Generation an die Oberfläche, die in Sicherheit und Wohlstand aufgewachsen war. Sie konnte es sich erlauben, das Verdrängte zu einem Teil hochkommen zu lassen. Es wurde die vorige Generation für ihre Fehler und ihr moralisches Versagen angeklagt und ihren Mängeln eine Utopie entgegengestellt, in der Gewalt, Unterdrückung und Ungerechtigkeit verschwunden sein sollten. 

Das bestehende Herrschaftssystem wurde in wesentlichen Elementen als das Weiterbestehen von nationalsozialistischen oder faschistischen Herrschaftsformen betrachtet, ausgerüstet mit einem hohen Maß an struktureller Gewalt. Daraus wurde von manchen Vertretern der Studentenbewegung die Schlussfolgerung gezogen, dass ein Gewaltapparat nur mit Gewalt beseitigt werden könnte. In der Folge kam es zu linksradikalen Terroranschlägen und Attentaten. 

Die harmlosere Version dieser Reaktion aus dem verdrängten kollektiven Trauma äußerte sich in der theoretischen Beschäftigung mit dem Marxismus, der als Universalschlüssel zum Sturz des kapitalistischen Systems betrachtet wurde. Dieser Ansatz enthält neben vielen Einsichten in die Funktionsweise des Kapitalismus auch Gewaltelemente, mit der Auffassung, dass der Weg vom Kapitalismus zum Kommunismus nur über eine gewaltsame Revolution möglich wäre.

Die unbearbeiteten Gewalterfahrungen der Elterngeneration, sowohl als Täter wie als Opfer, werden auf die nächste Generation übertragen und von ihr übernommen. Sie macht sich zwar die ursprünglichen Gewaltzusammenhänge bewusst, aber nicht die eigene Reaktion darauf und deren Implikationen. So verwundert es nicht, dass andere Formen von Gewalt gerechtfertigt werden. Beides wird aus Ohnmachtserfahrungen der Opferrolle gespeist: Die Ohnmacht der Eltern gegen ein unterdrückerisches Herrschaftssystem und die Ohnmacht gegen ein strukturell gewaltsames Wirtschaftssystem. Scheinbar erlaubt die Opferrolle, sich in die Täterrolle zu begeben oder erzwingt diesen Schritt geradezu, mit dem Anspruch auf eine kollektive Befreiung. Der Täter fühlt sich einer gerechten Sache verpflichtet und ist stolz, nicht, wie die Eltern, für faschistische Werte, sondern für das Wohl der ganzen Menschheit zu kämpfen. 

Gewalt wird weitergegeben, solange die Traumen nicht aufgelöst sind.

So lange die Ängste, Schmerzen und Schamgefühle aus der Traumaerfahrung individuell und kollektiv nicht aufgearbeitet sind, entstehen nur neuerliche Auflagen der früheren Gewalterfahrungen. Es ändern sich die Vorzeichen, aber nicht die Prozesse und Abläufe.  

Die Sackgasse linksradikaler Gewalt ist mittlerweile verstanden worden, die Hoffnungen auf eine Revolution im marxistischen Sinn sind insbesondere nach dem Zusammenbruch des “real existierenden Sozialismus” in Osteuropa geschwunden. 

Verharmlosung der Traumalast

Einfacher sind die Zusammenhänge bei der gewaltbereiten rechtsradikalen Szene, die immer wieder Zulauf erhält und in vielen Ländern aktiv ist. Auch hier kommt es zur Identifikation mit dem Aggressor, der als Vorbild genommen wird. Die Problemlösung mittels Gewalt wird von aktuellen oder früheren Regimen bruchlos übernommen. Auch hier wird der Wechsel in die Täterrolle aus der Erfahrung der Opferrolle in einer ungerechten oder unmenschlichen Gesellschaft gerechtfertigt. Die kollektive Traumabelastung wird nicht reflektiert, sondern verharmlost oder verherrlicht. Auf diese Weise wird ein Selbstverständnis aufgebaut, das der Gewalt einen notwendigen Platz einräumt und die zurechtgebogene Vergangenheit als Rechtfertigung nutzt. Es wird nichts ins Gegenteil verkehrt, sondern das Handeln erfolgt aus der scheinbaren Vollstreckung des generationalen Erbes. Die Traumalast kann deshalb so ungehindert weitergegeben werden, weil sie in voller Verdrängung verschlossen bleibt und von dort aus ungehindert wirken kann.

Individuelle und kollektive Traumalösung

Wie diese Beispiele zeigen, kann die Kette der Weitergabe von Traumatisierungen von Generation zu Generation nicht durchbrochen werden, wenn die Triebkräfte und Dynamiken nur zum Teil bewusst gemacht werden, ohne dass die Wirkungen auf die eigene Person erkannt werden. Die fragmentarische Anerkennung eines kollektiven Traumas führt zu seiner Wiederholung, ähnlich wie bei seiner völligen Leugnung oder Verdrängung, mit dem Unterschied, dass es leichter geht, von einer fragmentarischen zu einer umfassenden Anerkennung zu gelangen als von seiner konsequenten Verleugnung.

Die Lösung aus den Fesseln von kollektiven Traumatisierungen und die Überwindung von den reaktiven Erlebens- und Verhaltensweisen, die davon ausgehen, gelingt auf der individuellen Ebene nur durch das Aufarbeiten aller Angst-, Schmerz- und Schamgefühle, die mit den Traumen abgespeichert sind. Auf der kollektiven Ebene ist die sorgfältige und ideologiefreie Aufarbeitung und Rekonstruktion der historischen Vorgänge wichtig. Sie bildet die Basis dafür, dass das Anerkennen dessen, was an Schlimmem und Grausamem passiert ist, in der Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen wird. Auf diese Weise kommt immer mehr Licht in die Zusammenhänge und wirkt auch auf die allgemeine Wahrnehmung und auf die schulischen Bildungsprozesse. Ideologien werden durch reflektiertes Wissen und abwehrbefreites Schauen auf das Schreckliche und Traurige der Vergangenheit ersetzt. Auf diese Weise löst sich der Bann historischer Traumatisierungen, die bisher im Kollektiv verdrängt waren.

Zum Weiterlesen:
Kollektive Traumen und ihre Folgen
Kollektive Traumen hinter dem Angriff auf die Ukraine
Die kollektiven Traumatisierungen durch den Kapitalismus
Rechtsextremismus und die Täter-Opfer-Umkehr

Mittwoch, 31. August 2022

Die Wohlfühlscham

Auf der internationalen Atemkonferenz vor ein paar Wochen haben auch Ukrainer und Ukrainerinnen teilgenommen. Einige von ihnen haben berichtet, dass sie sich schämen, hier zu sein, umgeben von Freunden in einer fröhlichen und liebevollen Atmosphäre, während die Freunde und Angehörigen zuhause unter dem Krieg zu leiden haben. Sie schämten sich dafür, dass es ihnen hier gutginge, während in der Heimat so viel Leid herrscht.

Wenn es in einer Gemeinschaft vielen schlecht geht, entsteht bei jenen, denen es gut geht, ein Schamgefühl. Es ist die Empfindung, dass es einem nicht gut gehen darf, wenn andere leiden, so, als würde man sich von ihnen und ihrem Schicksal abschneiden, wenn man nicht gleichermaßen leidet. Das Gutgehen steht einem nicht zu, wo es doch den anderen so schlecht geht. Die Scham signalisiert jedes Ungleichgewicht im sozialen Netzwerk. Wie bei der Wohlstandsscham, bei der es um ein Mehr im materiellen Besitz geht, wird bei der Wohlfühlscham die eigene Besserstellung im Gefühlsbereich als ungerechtfertigt erlebt.

Überidentifikation 

Eine Komponente dieser Scham besteht in der Meinung, dass die leidende Person noch zusätzlich belastet wird, wenn sie merkt, dass man selber glücklich ist. Also will man sie vor dem eigenen Glücksgefühl schützen, damit sie das nicht weiter nach unten zieht. Als Folge schwindet das eigene Wohlfühlen und macht der Scham Platz. 

Diese Schamform kann so weit gehen, dass man sich jedes Wohlgefühl verbietet, weil es doch irgendwo gerade jemanden gibt, der leidet. Wie kann es Freude geben, wenn anderswo Leid herrscht? Das Mitgefühl nimmt überhand und kommt nicht zur Ruhe, solange nicht alle glücklich sind. Diese Haltung scheint von grenzenloser Menschlichkeit getragen; angesichts ihrer praktischen Machtlosigkeit in Bezug auf die Milliarden von Leidenden auf dieser Erde leidet sie selber an Überidentifikation und mangelndem Realitätssinn. Das Mitgefühl verliert sich im Allgemeinen, während es in der Wirklichkeit nur auf konkrete Menschen angewendet Sinn macht

Die Wohlfühlschamform tritt z.B. bei Flüchtlingen und Migranten auf, die es in ein Land geschafft haben, in dem es ihnen besser geht als denjenigen, die sie im Heimatland zurückgelassen haben. Sie sind in Sicherheit, während die Angehörigen von Bürgerkrieg oder Verfolgung bedroht sind. Sie können aber ihr besseres Leben nicht genießen, weil sie am Leid und an der Angst ihrer Familienmitglieder und Freunde leiden. 

Doch spielt diese Schamform auch in bevorzugten Lebenszusammenhängen eine wichtige Rolle. Wer in einem westlichen Land in einer mittleren Schicht geboren wurde, befindet sich schon, weltweit betrachtet, in einer privilegierten Situation, was den Zugang zu Ressourcen verschiedenster Art anbetrifft. Diese Besserstellung wird jungen Menschen schamvoll bewusst, sobald sie erkennen, wie weit das Elend auf der Welt verbreitet ist und wieviel Mangel dort in der Deckung der einfachsten Grundbedürfnisse besteht. Oft führt diese Einsicht zum Engagement für Randgruppen, Notleidende oder auch für die missachtete Natur. 

Mitleid vermehrt das Leid, Mitgefühl verringert es. 

Natürlich haben die Leidenden nichts davon, wenn sich andere Menschen für ihr Nicht-Leiden schämen. Das Mit-Leiden verstärkt das Leiden – statt einem leiden zwei; das Mitgefühl stärkt und hilft mit, das Leiden besser zu ertragen. Das Mit-Leiden enthält, spirituell betrachtet, eine Anmaßung: Die Verweigerung, das Gute, das einem geschenkt wurde und wird, in Demut anzunehmen und aus ihm heraus Gutes weiterzugeben. 

Das Beste aus dem eigenen Leben zu machen

Der Ausweg aus der Wohlfühlscham besteht in der Einsicht, dass die eigene Lebenssituation dazu da ist, um das Beste daraus zu machen. Je besser man sich fühlt, desto mehr kann man beitragen und anderen geben. Es verbessert das Los derer, die es schlechter haben, um keinen Deut, wenn man sich selber schlechter fühlt. Das Annehmen des eigenen Schicksals beinhaltet auch das Annehmen der guten Seiten, die mit Dankbarkeit quittiert werden können. Bessergestellt zu sein ist dazu da, aus diesen Vorteilen den Nutzen zu ziehen, der für die Allgemeinheit die bestmöglichen Folgen hat. Unser Wohlgefühl macht uns kreativ, konstruktiv und produktiv, mit ihm können wir anderen das Leben leichter machen und ihnen den Mut und die Kraft geben, ihr Schicksal zu tragen. 

Zum Weiterlesen:
Die Wohlstandsscham


Mittwoch, 27. April 2022

"Vater Staat" und die kollektiven Traumatisierungen

Wir neigen dazu, den Staat als moralisches Subjekt zu sehen, indem wir auf ihn unsere Erwartungen von Gut und Böse projizieren: Der Staat  A ist eine Diktatur, also ist er böse. Der Staat B hat eine gut funktionierende Demokratie, also ist er gut. Der Staat A nimmt Flüchtlinge auf, also ist er gut oder böse, je nach eigener Werthaltung usw. Der ehemalige US-Präsident Bush jun. hat eine Liste von Schurkenstaaten publiziert, um seine Vorstellungen von guten und bösen Staaten in die Welt zu posaunen. Aber auch in unseren Köpfen finden sich solche Listen, mit denen wir uns in der Staatenwelt orientieren. Dabei tun wir so, als wären Staaten menschliche Subjekte mit viel oder mit mangelhafter Moral.

Moralverfehlungen sind subjektiv

Fehlende Moralität können wir allerdings nur einzelnen Menschen vorwerfen. Selbst bei Menschengruppen ist es schon schwierig, einen gemeinsamen Bewertungsmaßstab anzulegen – sofort wird sich jemand aus einer Gruppe melden, der wir Unachtsamkeit vorwerfen, der sich nicht davon betroffen fühlt und sich über das ungerechtfertigte Verurteiltwerden beschwert. Die Frage einer Kollektivschuld wurde zwar nach dem 2. Weltkrieg diskutiert, wurde aber weitgehend abgelehnt. Im Strafrecht gibt es nur das Verschulden von Einzelpersonen.

Wir haben die Angewohnheit, die Geschichte als Prozess der Auseinandersetzung von verschiedenen Staatsgebilden zu verstehen, z.B. der Staat A führt Krieg gegen den Staat B. Wir nehmen Staaten als handelnde Subjekte wahr, was auch nicht so verwunderlich ist, weil die Machthaber in verschiedenen Staaten anstreben, ihre Staatsbürger geschlossen hinter sich zu vergattern. Die Botschaft lautet: Wir führen jetzt Krieg, weil wir das Böse bekämpfen, das der andere Staat repräsentiert. Alle müssen mitkämpfen, da sonst das Böse obsiegt. Wer nicht mitkämpft oder unseren Standpunkt teilt, ist selber böse, gehört aus dem Ganzen des Staates ausgeschlossen und muss ebenfalls bekämpft werden.

Einerseits treten Staaten als handelnde Subjekte auf (z.B. der Staat A erklärt dem Staat B den Krieg), andererseits ist dieses Handeln nichts anderes als die Summe von Einzelaktionen von Einzelpersonen (Kriege ordnen Politiker an und führen Soldaten durch). Jede staatliche Aktion geht ebenfalls auf Einzelpersonen zurück, z.B. dekrediert ein Präsident, berät eine Regierung oder beschließt ein Parlament bestimmte Maßnahmen. Als gut oder böse können nur die Handlungen von diesen Personen bewertet werden. Ein eindeutigeres Beispiel: Seit George Bush jun. haben eine Folge von 9/11 alle US-Präsidenten Drohnenangriffe auf tatsächliche oder vermeintliche Terroristen auf der ganzen Welt angeordnet, die rechtlich gesehen Mordtaten darstellen, für die die Präsidenten persönlich verantwortlich sind und die nie geahndet wurden. 

Es wird zwar jeder dieser Präsidenten behaupten, seine Entscheidungen für den Staat und für das Wohl seiner Staatsbürger getroffen zu haben. Doch die Last der moralischen Verantwortung bleibt bestehen, für jeden dieser Präsidenten und für jeden auf diese Weise angeordneten Mord. 

Identifikation mit "Vater Staat"

Jedes Staatswesen enthält in sich ein kollektives Traumafeld, das aus den unmoralischen Handlungen in der Vergangenheit, die in seinem Namen begangen wurden, entstanden ist. Aus dieser Gemeinsamkeit, die auf unbewusste Weise die Staatsangehörigen zusammenschließt, erwachsen die Projektionen auf den „Vater Staat“. Er fungiert als die Verkörperung des guten wie des schlechten Vaters. Stolz- und Schamgefühle in Hinblick auf den eigenen Staat werden durch diese Identifikation erzeugt. Das geteilte Traumafeld schmiedet das Band, solange es unbewusst wirkt. Es ist die eingeschworene Gemeinschaft derer, die Traumatisierungserfahrungen teilen, welche diese Identifikation festlegt und unauflösbar machen, indem die Wurzeln im Dunkeln liegen. Denn Traumen üben eine starke Macht aus, weil und solange sie unbewusst sind. 

Ideologische Einebnungen

Die Gemeinsamkeit der traumatisierenden Erfahrung ist der Kitt, der das Staatsvolk zusammenhält. Politiker nutzen diese Gemeinsamkeit, um das Volk den eigenen Interessen und Vorhaben gemäß formen zu können. Der Kitt wird allerdings für ideologische Konstruktionen instrumentalisiert, d.h. es wird als einheitlich und geschlossen dargestellt, was nicht einheitlich und geschlossen ist. In der Realität sind alle Staatswesen heterogen und nie so monolithisch. wie es vor allem die Nationalisten suggeriert wollen. 

In Österreich z.B. gibt es ein weitgehend geteiltes kollektives Traumafeld durch den Nationalsozialismus und den 2. Weltkrieg, das bis heute wirkmächtig ist. Es betrifft die Individuen aber unterschiedlich: Wenn die eigenen Vorfahren Mittäter oder Mitläufer der NS-Diktatur waren, ist die innere Belastung eine andere als wenn sie zu einer Oppositionsgruppe gehörten. Beide sind von den Kriegsereignissen betroffen, aber es macht wieder einen Unterschied, ob Vorfahren als Soldaten gekämpft und gemordet haben und/oder ob sie durch den Krieg zu Tode gekommen sind. Die einen sehen die Nazidiktatur als das schlimmste Übel, die anderen den Krieg und wieder andere das Kriegsende und die folgende Besatzungszeit.

Es gibt also in jedem Traumafeld Gemeinsames sowie Risse und Unebenheiten. Gerade deshalb tauchen immer wieder intensive ideologische Versuche auf, die das geteilte Feld einebnen wollen. Ideologien tendieren stets zur Vereinfachung, das Diverse taugt nicht für die Propaganda und ist schwieriger zu beherrschen. Am Beispiel Österreich erfolgte diese ideologische Einebnung dadurch, dass gleich nach dem Krieg begonnen wurde, eine Kultur des Vergessens und Verdrängens aufzubauen und Österreich als erstes Opfer des Nationalsozialismus zu idealisieren.

Ideologien als Pfleger der Verdrängung kollektiver Traumen

Die unbewusst gesteuerte Teilhaberschaft eines auf solche Weise eingeebneten Staatsvolkes verführt dazu, den Staat als Subjekt zu erleben, nicht als komplexes Zusammenwirken unterschiedlicher politischer Kräfte und Verwaltungseinrichtungen. Selbst wenn ein Staatsbürger dem Staat gegenüber negativ eingestellt ist, enttäuscht und frustriert von dem, was ein Staat macht, ist er nach wie mit ihm als Subjekt identifiziert. Erst wenn deutlich wird, dass der Staat kein Subjekt ist, sondern ein Zusammenwirken verschiedener Akteure und Interessengruppen, wird erkannt, dass es nur um die Amts- und Verantwortungsträger geht, denen gegenüber Kritik angebracht ist.

Nach dem Modell der Bewusstseinsevolution wird mit der Subjektivierung des Staates die personalistische Ebene in die systemische Ebene hineinvermengt. Zwar hat der Staat schon eine vor-systemische Wurzel, weil die ersten Staatsgründungen auf der hierarchischen, stark von Abhängigkeiten geprägten Ebene entstanden sind – viel mit Gewalt verknüpft, auf Kriegen begründet, durch die die Sklaverei zu einer tragenden Säule vieler Staatsgebilde und der staatlich geleiteten Wirtschaft wurde. Aber die Modernisierung des Staatswesens hat es mit sich gebracht, dass die Staatsverwaltungen zu Vorreitern des systemischen Bewusstseins wurden. Der Zwang zur Rationalisierung der Prozesse, der durch die Konkurrenz zwischen den Staaten entstanden ist, führte dazu, dass der Preis des Verzichts auf Modernisierung mit Rückschlägen in dieser Konkurrenz verbunden waren, was im Besonderen dann bei Kriegen zu schmerzlichen Erfahrungen führte. Die Staaten mit effizienterer Verwaltung waren zumeist auch jene, die kriegerisch erfolgreich waren und dadurch ihre Gebiete und ihren Einfluss vergrößern konnten.

Entideologisierung

Wenn wir einen Staat wollen, der sich aus der Klammer der ideologischen Vereinnahmungen und Zurechtbiegungen befreit, müssen wir die kollektiven Traumatisierungen bewusst machen, reflektieren und verstehen. Auf diesem Weg gelingt es, die Identifikation mit dem Staatswesen, in dem wir leben, aufzulösen und eine kritische Distanz einzunehmen, die es erlaubt, die Prozesse dort mitzugestalten, wo sie uns betreffen und rational abgewogene Haltungen zu den Themen einzunehmen, die sich im Zug der Weiterentwicklung des Staates stellen.


Donnerstag, 29. November 2018

Fremdschämen - ein eigentümliches Gefühl

Wenn Kinder sich daneben benehmen, können sich Eltern für sie schämen, vielleicht weil sie meinen, dass sie schlechte Eltern sind und die Mitmenschen mit verstecktem Zeigefinger auf sie zeigen. Wenn Kinder sich für ihre Eltern schämen (meist erst in der Pubertät), dann meinen sie vielleicht, dass ihre Eltern verzopft und altmodisch sind und bei ihren Freunden als uncool ankommen. Beim Fremdschämen sind wir mit den betreffenden Personen über-identifiziert oder von ihnen mangelhaft abgegrenzt.

Das Phänomen des Fremdschämens hat deshalb eine ganz besondere Stellung, weil es das einzige Gefühl ist, das wir für jemand anderen, also stellvertretend empfinden. Wir sind nicht für jemand anderen traurig, wütend oder eifersüchtig; das geht nur bei der Scham, auch ein Grund, warum sie ein derartig komplexes Gefühl ist. Dazu kommt, dass wir das Gefühl für vollkommen fremde Personen empfinden können, z.B. für jemandem im Fernsehen, dem ein blödes Missgeschick passiert oder der bei einer gestellten Aufgabe versagt oder während der Sendung völlig den Faden verliert. Forscher haben außerdem herausgefunden, dass das Gefühl des Fremdschämens genauso stark sein kann, wenn der peinliche Fehler absichtlich oder unabsichtlich passiert und unabhängig davon, ob die Person überhaupt bemerkt, was geschieht.

Laut Gehirnstudien werden bei dieser Art der Scham die gleichen Areale aktiviert, die bei körperlichem Schmerz und beim Beobachten von schmerzhaften Situationen von Mitmenschen (Spiegelneurone) reagieren. Es tut also buchstäblich weh, jemand anderen in einer peinlichen Situation zu beobachten. Es geht, genauer gesagt, um den vorderen zingulären Kortex und die anteriore Insula. Das sind die Gehirnareale, die aktiv sind, wenn man Mitleid mit Menschen hat, die eine körperliche Verletzung erlitten haben, und dabei den Schmerz des anderen in sich selber spürt.

Die Forschungen haben auch gezeigt, dass es individuelle Unterschiede beim Ausmaß des Fremdschämens gibt. Es reagieren nicht alle Menschen gleich stark und gleich oft. Offenbar gibt es einen Zusammenhang mit der Fähigkeit zur Empathie, die unter den Menschen verschieden ausgeprägt ist. Das könnte der Grund sein, warum diese Form der Scham bei Frauen stärker ausgeprägt ist als bei Männer, denn Frauen sind durchschnittlich besser in der empathischen Kommunikation als Männer. Autisten dagegen, die sich mit Empathie schwer tun, haben auch schwächere Tendenzen zum Schämen für andere. 

Empathie sollte in diesem Zusammenhang allerdings klar von der Identifikation unterschieden werden, die eine wichtige Rolle beim Fremdschämen spielt. Empathie ist die Fähigkeit, die Gefühle anderer Menschen „lesen“ zu können und dafür Verständnis aufzubringen. Identifikation, ein Abwehrmechanismus in der Theorie der Psychoanalyse, geschieht dagegen, wenn die Gefühle eines anderen Menschen zu den eigenen werden und nicht mehr davon unterschieden werden können. Diese Unterscheidung wird weiter unten noch genauer besprochen.

Ähnlich wie die Scham von kulturellen Trends und Standards abhängig ist, gilt das auch für das Fremdschämen. Kleidungsstile, die vor einigen Jahrzehnten peinlich und unmöglich empfunden wurden, können heutzutage Teil der Mode sein, an der sich niemand stößt. Es scheint so, als würde die Schamabhängigkeit der Kunden vom Modemarketing ausgenutzt, um sie davon zu überzeugen, die Garderobe regelmäßig zu erneuern, nach dem Motto: „Sie wollen doch nicht das Objekt des Fremdschämens Ihrer Mitmenschen werden, also ziehen Sie an, was gerade die Mode diktiert!“


Fremdschämen fürs Kollektiv


Die Kultur, in der wir leben, prägt nicht nur die Schamthemen, sondern bietet auch reichlich den Anlass für den Aufbau von Identifikationen bei ihren Mitgliedern. Wenn andere Mitglieder aus dem kulturellen Konsens ausscheren, meldet sich schnell das Fremdschämen. Im Jahr 2014 gewann die österreichische Sängerin Conchita Wurst den Europäischen Songcontest, und vielen ihrer Landsleute war es äußerst peinlich, bis hinauf zum damaligen Vizekanzler, auf eine transsexuelle Kunstfigur und einen besonderen Menschen wegen einer ausgezeichneten künstlerischen Leistung stolz sein zu sollen.

Ein anderes Fremdschäm-Thema liefert in vielen Ländern der Sport, insbesondere der Fußball: Die Nationalmannschaft des eigenen Landes hat eine blamable Vorstellung abgegeben und das wichtige Spiel kläglich verloren – wie konnte „uns“ das nur passieren? Wie stehen „wir“ jetzt da vor allen anderen, die uns ab jetzt nur mehr abschätzig bemitleiden? Die Identifikation mit der Nation über das Vehikel Sport spielt eine zentrale Rolle im Seelenleben vieler Menschen.

Auch andere, vom Mainstream abweichende Kulturproduktionen können Fremdschäm-Reaktionen hervorrufen – abstrakte Denkmäler, atonale Musikstücke, unkonventionelle Inszenierungen, provokante Filme usw. bieten Anlass für peinliches Berührtsein bei Menschen, die nur Äußerlichkeiten oder Nebensächlichkeiten wahrnehmen und den Kontext und die künstlerische Aussage nicht verstehen. Um solche Schamreaktionen zu vermeiden, tendieren autoritäre Staaten dazu, solche Werke einfach zu verbieten und aus der Öffentlichkeit zu verbannen, vgl. die  Bücherverbrennungen und die Brandmarkung von „entarteter Kunst“ im Nationalsozialismus.


Die psychologischen Hintergründe 


Wir vollziehen die Schamreaktion an der Stelle der anderen Person, wir nehmen ihr gewissermaßen ab, was sein soll, damit die soziale Ordnung nach der Störung wieder ins Gleichgewicht kommt. Es ist etwas Blamables geschehen, das muss mit Scham zur Kenntnis genommen und entschuldigt werden und dann kann das Leben nach den gewohnten Regeln weitergehen. Wir wollen für die andere Person ausbessern, was durch deren Fehlverhalten, Unachtsamkeit oder Missgeschick aus dem Lot geraten ist. 

Solche stellvertretende Manöver, die ja vom Unbewussten unseres Seelenlebens gesteuert sind, wirken ein wenig schräg und tragen zu dem zwiespältigen Bild bei, das wir vom Fremdschämen haben. Einesteils trägt es den Anschein des Altruismus, einfühlend mit einer Person in einer Notlage zu sympathisieren und ihr ein Stück der Last abnehmen zu wollen. Allerdings passiert das Ganze nur in der Vorstellungs- und Gefühlswelt der nichtbeteiligten Person. Die vom Fremdschämen betroffene Person hat nichts davon, im Gegenteil, es kann ihre Notlage sogar noch verstärken. Jemand stolpert vor laufenden Kameras auf die Bühne; sofort meldet sich die eigene Scham, aber das Wissen, dass alle sehen, was geschehen ist, und dass sich alle für einen schämen, erschwert die Situation zusätzlich. Die Peinlichkeit erleichtern würde es, wenn alle Zuseher einfach über das Missgeschick hinwegsähen und nicht davon Kenntnis nähmen, geschweige denn selber beschämt wären. Jeder Akt des Fremdschämens belastet die eigene Scham zusätzlich.

Und das ist die andere Seite: Je stärker das Fremdschämen wirkt, desto wirksamer sind wir mit der Person, für die wir uns schämen, identifiziert. Wir schaffen es nicht, ihr zuzutrauen, aus dem Schlamassel herauszufinden und die Situation aus eigenen Kräften zu meistern. Wir nehmen ihr einen Teil der Verantwortung ab, ohne Rücksicht darauf, ob sie den nicht ohnehin selber tragen könnte. Dazu kommt: Wir nutzen unsere sichere Position des Außenstehenden, um uns ein Stück besser zu fühlen als die in ihrer Peinlichkeit bloßgestellte Person. Denn unsere Fremdscham tut uns zwar weh, aber wir spüren diesen Schamschmerz im Rahmen einer moralischen Rechtschaffenheit, dem Objekt unseres Schämens scheinbar das Leben zu erleichtern und nach dem Fehltritt die Rückkehr in die Gesellschaft der Normalos zu beschleunigen.

Die Identifikation liefert uns die Brücke: Wären wir selber in der Situation, würden wir uns schämen. Wir versetzen uns in die Person und in deren peinliche Situation, leiden mit, aber genießen zugleich die Gewissheit, tatsächlich auf der sicheren, unbetroffenen Seite zu sein, ähnlich wie wir uns mit dem Opfer eines Verbrechens in einem Krimi identifizieren, aber immer auch wissen, dass uns nichts geschehen kann, weil wir sicher im Lehnstuhl vor dem Fernseher sitzen.

Darin liegt offenbar der Gewinn beim Fremdschämen: Wir fühlen uns als Mensch, der Gutes geleistet hat und sozial eingestellt ist, als jemand, der sich um andere kümmert und stets bereit ist, ihnen eine Last abzunehmen. Dafür verdienen wir Anerkennung und Wertschätzung. Wir nehmen das Schicksal anderer Menschen ernst und bleiben deshalb im sozialen Netz verbunden. Ob die Form des Ernstnehmens und Gutes Tuns beim Fremdschämen tatsächlich hilfreich ist, ist allerdings zweifelhaft.

Die Spiegelneuronen sind der Schlüssel zur Fremdscham. Studien konnten zeigen, dass das bloße Beobachten von jemandem, der gerade in einer peinlichen Situation feststeckt, in unserem Hirn die gleichen Areale anspringen lässt, als wenn wir selbst in der Situation wären. Dafür ist es aber nötig, dass der andere sich auch selbst darüber bewusst ist, dass er sich gerade die Blöße gibt.

Ist dem nicht der Fall, können wir uns natürlich trotzdem fremdschämen. Nur spiegeln wir jetzt eben nicht die Scham des anderen, sondern schämen uns an seiner statt – dafür vielleicht manchmal auch doppelt so stark.


Die Schadenfreude


Die Schadenfreude ist gewissermaßen das Gegenteil des Fremdschämens. Statt den anderen Menschen, der sich gerade eine Blöße gegeben hat (manchmal sogar im wörtlichen Sinn), zu verstehen und ihm helfen zu wollen, vergönnen wir ihm das Problem. Schadenfreude ist eine Form der Rache und setzt voraus, dass uns die andere Person bereits Böses angetan hat. Wir mögen z.B. bestimmte politische Parteien nicht, weil wir den Eindruck haben, dass sie mit ihrer Politik uns und uns nahestehenden Menschen Lebenschancen beschneiden und Möglichkeiten einschränken. Wenn solchen Parteien oder deren Protagonisten Missgeschicke (schlechte Wahlergebnisse, imageschädigende Korruptionsfälle, Gerichtsverurteilungen usw.) widerfahren, freuen wir uns, weil wir hoffen, dass damit die Bedrohung für uns und unsere Ziele und Ideale verringert wird. 

Bei der Schadenfreude geben wir uns nicht den Anschein der altruistischen Menschenliebe wie beim Fremdschämen, sondern überlassen unserem Egoismus das Feld. Wir fühlen uns als Sieger in einem Kampf, zumindest auf Zeit, und können unsere Racheimpulse befriedigen. 


Empathie oder Identifikation?


Das Fremdschämen ist ein ambivalentes Gefühl. Es hängt auch mit der eigenen Beschämungsgeschichte zusammen, denn in ihr liegt der Schlüssel, ob wir dazu neigen, Empathie und Identifikation zu vermischen oder klar unterscheiden zu können. Identifikation ist in der Psychoanalyse der reifste der Abwehrmechanismen, der bis zu einem gewissen Grad notwendig für eine gesunde seelische Entwicklung ist (kleine Kinder identifizieren sich mit ihren Eltern, um deren Fähigkeiten, Einstellungen und Werte zu übernehmen und darauf die eigene Identität aufzubauen). Aber unbewusst wirkende Identifikationsvorgänge hindern die eigene Entwicklung, vor allem, wenn sie auf Scham gegründet sind.

Um also erkennen zu können, dass wir uns in einer Identifikation und nicht in der Empathie befinden, müssen wir in der Kindheit gelernt haben, klar zwischen eigenen und fremden Gefühlen zu unterscheiden. Wenn die eigenen Eltern keine oder zu wenig Verantwortung für die eigenen Gefühle übernommen haben, also den Kindern ihre Gefühlsreaktionen unbefragt und unreflektiert überstülpen, dann lernen die Kinder, sich vorrangig mit den Gefühlen der Eltern zu identifizieren statt selber zu spüren, was in ihnen vorgeht. Es kommt dann leicht zur Vermengung von eigenen Gefühlen und den Gefühlen der anderen, die oft auch nur vermutet werden. Auf dieser Basis steigt die Empfänglichkeit für das Fremdschämen.

Eine zweite Grundlage für eine verstärkte Ausprägung der Neigung zum Fremdschämen liegt in der eigenen Kindheitsgeschichte mit ihrem Ausmaß an Beschämungen. Eltern oder später andere Autoritäten, die besonders erpicht auf Ungeschicklichkeiten, Fehler und Peinlichkeiten der Kinder sind, sorgen dafür, dass die Kinder ein spezielles Sensorium für beschämende und peinliche Situationen entwickeln. In der Folge bildet sich eine starke Neigung zum Selbst- wie zum Fremdschämen. Hier kann auch der Grund dafür liegen, warum Millionen Menschen Youtube-Videos anschauen, in denen alle möglichen Peinlichkeiten dargestellt werden, von Prominenten wie von Normalsterblichen.  


Vertrauen statt Fremdscham


Welche Möglichkeiten haben wir, um unsere Tendenzen zum Fremdschämen zu verringern?
  • Bei sich selber bleiben und die Identifikation unterbrechen: Dieser ganz einfache Satz kann oft Wunder wirken: „Ich hier, du dort.“ „Ich bin in meiner Situation, du in einer anderen. Ich bin im Zuschauerraum, du auf der Bühne.“ 
  • Mitgefühl für den Menschen entwickeln, der gerade in einer peinlichen Situation steckt: „Es tut mir leid für dich, dass du in diese Situation geraten bist, ich kann nachvollziehen, wie es dir geht.“ 
  • Entscheiden über den Handlungsspielraum: „Kann ich in irgendeiner Weise hilfreich eingreifen oder nicht? Wenn ja, was ist zu tun?“ Wenn nein, geht es darum, sich herauszuhalten und auf Distanz zu gehen. Es genügt, beim Mitgefühl zu bleiben, das sich mit dem Vertrauen verbinden kann, dass es immer einen guten Ausweg aus einer misslichen Situation gibt.
  • Die Verantwortung bei der Person lassen: Wo es nichts zu tun gibt, besteht auch keine Verantwortung. Die Person muss und wird die blamable Situation bewältigen und überwinden.
  • Auf positive Eigenschaften fokussieren: Meist ist die peinliche Angelegenheit nur eine Kleinigkeit im Vergleich zu dem, was alles an der Person, die in die Situation kam, anerkennens- und bewundernswert ist, was sie gut kann und was sie als Mensch wert ist.

Zum Weiterlesen:
Empathie

P.S. in eigener Sache: Diese Blogseite hat dieser Tage den 200 000sten Aufruf zu verzeichnen.

Donnerstag, 16. Juni 2016

Das kleine Fenster des Nationalismus

Neulich erzählte mir eine „Ungarin“ von ihren genealogischen Forschungen. Sie hat Vorfahren aus Polen, Russland, Türkei und Armenien, und der Familienname ihrer Mutter soll aus dem Himalaya-Gebiet abstammen, ohne dass es ein Wissen darüber gibt, wie er nach Europa gelangt ist.

Das wird für die meisten Menschen gelten: Wenn sie in ihre Vergangenheit auf ihre Abstammungslinien schauen, wird deutlich werden, dass die unterschiedlichsten Wurzeln zusammen ihre heutige Person ergeben. Die Nationalität, die wir aufgrund der letzten Entwicklungen für uns behaupten, gibt davon nur einen winzig kleinen, recht willkürlich ausgewählten Ausschnitt wieder. 


Die Nationalität ist also nicht mehr als eine Selbstbehauptung. Aus der Fülle der historischen Fäden, die sich in der eigenen Person überkreuzen, wird ein Strang herausgezogen und mit einem Glorienschein umgeben. Das bildet die Grundlage für eine Zugehörigkeit, auf die man stolz sein kann und die man zur Abwertung anderer Nationen benutzen kann. Sie wird in die eigene Identität eingebaut und mit deftigen Emotionen versetzt: Du bist mein Heimatland, dir bin ich treu. Im Extremfall fordert das Heimatland die Treue ein und versteht darunter, für es das eigene Leben zu geben. Das ist der Moment, den wir immer wieder beobachten können, in dem die Nationalität zur Bestie wird.


Nationalismus im Zeitfenster


Der Nationalismus hat seinen Referenzpunkt in einem relativ schmalen Zeitfenster zwischen einer Vergangenheit, der der Begriff der Nation fremd war, weil er nicht benötigt wurde, und einer Zukunft, die ihn als Relikt aus einer barbarischen Zeit abtun wird. Wir stammen aus vielfältigen Ahnenlinien ab, die sich nicht an irgendwelche politisch definierte Grenzen halten, und wir gehen in eine globalisierte Zukunft, in der die Menschen über die Kontinente, Religions- und Rassengrenzen hinweg mobil sind und ihre Zugehörigkeiten laufend neu definieren müssen.

Dieses Zeitfenster hat die Ideologie des Nationalismus weidlich genutzt - einerseits zum Schutz von Traditionen, Sprachgruppen und Gemeinschaften, andererseits zur Aggression gegen andere Nationen. Vom 19. über das 20. Jahrhundert bis in unsere Tage können wir die Auswüchse und Verwirrungen des Nationalismus beobachten. Während sich die Wirtschaft längst über alle Grenzen hinwegsetzt, greift erst langsam das Bewusstsein, dass wir in erster Linie Weltbürger sind und irgendwann nachgeordnet Angehörige einer bestimmten Nation oder Volksgruppe.


Die Heimat und die DNA


Richtig gruselig oder aufregend wird es erst, wenn wir einen Blick in die DNA werfen, in der die Spuren unserer Herkunft ablesbar sind.

Als Illustration ein Video: Man sieht man Personen, die voller Stolz von ihren Herkunftsländern schwärmen und Vorurteile gegen andere Länder hegen. Dann kriegen sie das Resultat über die Herkunft ihrer DNA, und als sie erkennen, dass sie eine Mischkulanz aus verschiedensten Völkerschaften sind, dass ihre Vorfahren die unterschiedlichsten Sprachen gesprochen und in allen möglichen Teilen dieser Welt gelebt haben, passiert ein Aha-Erlebnis: Ich bin viel mehr als diese Nation, die ich mein Eigen genannt habe und mit der ich mich so stark identifiziert habe. Ich habe viel mehr Identitäten als nur eine, und ich habe viel mehr gemeinsam mit jenen, die ich mit Misstrauen oder Überheblichkeit ablehne.

Genetiker haben festgestellt, dass es hohe Grade an Verwandtschaft der Menschen untereinander gibt. Die "brotherhood of man", von der John Lennon singt, ist also keine visionäre Träumerei, sondern umschreibt eine genetische Realität. Weitschichtig betrachtet, können wir unter den Menschen keine wirklich Fremden finden, sondern nur entferntere Verwandte. Der finnische Genetiker Svante Pääbo beschreibt in einem Interview als wichtigste Einsicht seines Faches, „dass die genetischen Unterschiede zwischen uns alles andere als tiefgreifend sind.“


Erkenntnis macht frei


Erkenntnis entkoppelt, und Entkoppelung macht frei. Identitäten, an denen wir festhalten, schränken uns ein. Der Vorgang der Entidentifizierung erlaubt uns, mit etwas in uns in Beziehung zu treten, das wir vorher gar nicht von uns  selbst unterscheiden konnten. Die Distanz erlaubt uns, die Beziehung zu gestalten. Wir sind nicht mehr von ihr beherrscht, sondern können ihre Bedeutung für uns selbst festlegen.

Dann können wir das Gemeinsame im Fremden erkennen und über das Trennende stellen. Wo wir Verbindung erkennen, finden wir den Weg vom Misstrauen zum Vertrauen, von der Angst zur Entspannung, vom Hass zur Liebe.


Vgl. "Helden"
Mitgefühl hat keine Grenzen

Freitag, 23. Januar 2015

Religiöse Gefühle und Humor in der offenen Gesellschaft

Ein Leser dieser Blogseiten hat mir dankenswerter Weise den Hinweis auf eine Stellungnahme des Papstes zu den Themen Meinungsfreiheit und religiöse Gefühle geschickt.

Meinungsfreiheit hat nach Ansicht von Papst Franziskus Grenzen - dann, wenn sie religiöse Gefühle anderer verletzt. „Viele Menschen ziehen über Religion her, das kann passieren, hat aber Grenzen. Jede Religion hat eine Würde, und man kann sich darüber nicht lustig machen“, sagte der Papst mit Blick auf die Terroranschläge auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ auf dem Flug zur die philippinische Hauptstadt Manila.
Er fügte hinzu: „Wenn Dr. Gasbarri (der Reiseorganisator des Papstes), mein lieber Freund, meine Mama beleidigt, erwartet ihn ein Faustschlag. Denn man kann den Glauben der anderen nicht herausfordern, beleidigen oder lächerlich machen“, zitierte die Nachrichtenagentur Ansa am Donnerstag das Oberhaupt der Katholiken weiter. Gleichzeitig betonte der Papst, dass man im Namen Gottes nicht töten dürfe.
Soweit der Bericht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Nicht überraschend ist die traditionelle Sichtweise eines Religionsvertreters zur Ablehnung von religiösen Gefühlsverletzungen. Überraschend, seltsam, lustig oder interessant, je nachdem, kann man das Beispiel finden, das dem Papst dazu einfällt. Es geht mir im folgenden nicht darum, am Papst und seinen vielleicht nicht voll durchdachten Interviewäußerungen herumzukritisieren oder in sie hineinzuinterpretieren, sondern sie zum Anlass zu nehmen, weitere Aspekte des Themas näher zu beleuchten.

Jede Religion hat eine Würde, auch wenn in ihrem Namen Verbrechen begangen werden. Jeder Mensch hat eine Würde, auch wenn er Verbrechen begeht. Das sollte im Sinn eines Grundkonsenses von Menschen- und Bürgerrechte außer Zweifel stehen. Klar sollte auch sein, dass die Würde eines Einzelnen oder einer Institution nicht durch andere Menschen und deren Aktionen außer Kraft gesetzt werden kann. Sie besteht einfach weiter, was auch immer einem Menschen oder einer Institution angetan wird: Ob ihre Angehörigen vertrieben und verfolgt werden, oder ob sich jemand über sie lustig macht. Die nächste Frage ist, wie jemand reagieren soll, wenn jemand anderer die eigene Würde oder die einer für wichtig erachteten Institution "angreift" oder "verletzt".

Die deutsche Bild-Zeitung bezeichnet die Aussage von Papst Franziskus als scherzhaft. Sicher wollte er der Presse nicht mitteilen, dass er schnell mit Faustschlägen bei der Hand ist, wenn ihm etwas nicht passt. Und das Scherzen sollte auch in diesen Fragen erlaubt sein. Zugleich sollte es erlaubt sein, scherzhafte Stellungnahmen ernsthaft zu betrachten, nämlich in Hinblick darauf, was mit ihnen zum Ausdruck gebracht werden soll. Denn das Scherzen enthebt nicht der Aufgabe, auf der gedanklichen Ebene klar zu bleiben und die Rolle der involvierten Emotionen zu reflektieren.


Selbstverständlichkeiten?


Da erstaunt erstens die Selbstverständlichkeit, mit der das katholische Kirchenoberhaupt mitteilt, dass Beleidigungen der eigenen Mutter sofort geahndet werden müssen/können/sollen. Wenn eine Beleidigung boshaft und gemein ist, kann man sie auch anders zurückweisen und nicht weiter wichtig nehmen. Wenn eine Aussage über die eigene Mutter (oder über sonst wen, der einem wichtig ist), zwar scharf formuliert ist, aber z.B. eine Unvollkommenheit dieser Person anspricht, kann das wichtige Informationen enthalten, die überlegt und genauer erörtert werden könnten.

Jedenfalls ist die gewalttätige Reaktion (Faustschlag) auf eine Beleidigung keine Selbstverständlichkeit, weil es auch noch eine Reihe anderer Reaktionsmöglichkeiten gibt, die uns vielleicht nicht alle in jeder Situation verfügbar sind, insbesondere dann nicht, wenn in uns starke Emotionen ausgelöst werden. Doch wenn wir aus der Distanz über Fragen wie die Meinungsfreiheit reden, sollten wir neben den schwächsten, impulsgesteuerten Reaktionsmöglichkeiten auch die im Sinn der Vernunft stärkeren Möglichkeiten ebenfalls zur Diskussion stellen.

Insoferne sind die Aussagen des Papstes in diesem Punkt nicht nur mangelhaft, sondern auch erstaunlich kurzschlüssig. Sie konterkarieren zudem in ganz eigentümlicher Weise eine Dynamik in den Vorfällen, die diese Fragen wieder in die öffentliche Diskussion gebracht haben.


Der Scherz und die Satire


Jemand macht einen Scherz in der Öffentlichkeit, geht also unter Verwendung von Humor mit einem heiklen Thema um. Satire wäre in diesem Fall zu viel gesagt. Aber die Verwendung von satirischen Mitteln in der Karikatur sind ja genau der Gegenstand des Hasses vieler Menschen vor allem in der moslemischen Welt. Über Religion zu scherzen, bringt bekanntlich Menschen dazu, extrem gewalttätig zu werden.

Satire heißt, mit künstlerischen Mitteln menschliche Schwächen zu übertreiben und lächerlich zu machen. Andere Menschen sollen also über die Schwächen von Menschen und ihren Institutionen lachen, damit sollen diese ihre Schwächen einsehen und wenn möglich verbessern. Z.B. eine Kirche, die sich in ihrer Würde selbst zu wichtig nimmt, kann den Spott der Menschen auf sich ziehen, und gerade dieser Papst hat nicht nur in Worten erklärt, dass es ihm um nicht um eine Kirche der Selbstüberheblichkeit, sondern der Bescheidenheit geht.

Der Scherz ist ein gutmütigeres und schwächeres Mittel des Humors. Humor empfinden wir als gut, solange er nicht die eigenen Themen berührt. Ich darf mich lustig machen, mich und andere auf die Schaufel nehmen. Bei heiklen Themen hört sich der Spaß auf. Wo aber und wann ist dieser Punkt erreicht ? Hier gibt es keine objektiven Kriterien, sondern die Grenze setzt der individuell bzw. kulturell definierte Spielraum der Toleranz. Verletzt sind Menschen dort, wo etwas in Frage gestellt wird, was sie zu ihrer persönlichen oder sozialen Identität rechnen.

Offenbar wollte der Papst mit jener scherzhaften Aussage um Verständnis für eine menschliche Reaktionsweise werben: Beleidigung hat "spontane" Gewalt zur Folge. Wie oben gesagt, erschreckt die Selbstverständlichkeit, mit der diese primitive Reaktionsweise einfach stehengelassen wird. Der Schreck lässt leicht den Scherz vergessen.


Humor und Gewalt


Nächstes Element: Die Anspielung auf Gewalt im Scherz. Die prototypische antiwestliche Argumentation aus islamischer Sicht lautet: Beleidigung der Religion und ihrer Repräsentation ist eine gegen alle Gläubigen gerichtete Gewalt, und niemand dürfe sich wundern oder beklagen, wenn Gewalt dann mit Gewalt beantwortet wird.

Im Scherz des Papstes folgt die gewalttätige Reaktion auf die Beleidigung; das Scherzhafte daran ist, dass sich niemand den Papst als Schlägertypen vorstellen kann, noch dazu gegen einen Freund. Unterstellt wird aber, dass die Reaktion mit der Faust selber weder unverständlich noch moralisch anfechtbar ist. "Das versteht doch jeder: Wenn die Mutter beleidigt wird, muss man auszucken." Der Sprung zu selbsternannten Killern im Namen des großen Gottes ist natürlich groß, die Analogie ist aber nicht allzu weit hergeholt, weil es bei der Gewalt gegen Körper eine Kontinuität gibt: vom Faustschlag bis zur Tötung. Denn das ist es, was die Gewalt in jeder Form letztendlich anstrebt: Dass solches nie mehr passiert, dass jemand für immer mund-tot gemacht wird. Das Nie-mehr und Für-immer ist das Ziel, das sich Menschen setzen, die Gewalt als Mittel wählen.

Worte hingegen, so beleidigend auch immer sie sein können, führen nicht zu körperlichen Schäden und deshalb auch nicht zum Tod. Selbst auf die schlimmsten Worte lassen sich andere schlimme Worte finden. Es wird also mit stärkerer Munition zurückgeschossen, als der Angriff beinhaltete, wenn auf Worte die Faust folgt. Damit wird eine Eskalation der Gewalt in Kauf genommen , die dort ihren entscheidenden Anfang nimmt, wo die verbale Auseinandersetzung zur körperlichen wird. Das ist genau der Vorgang, den wir mit Besorgnis beobachten. 


Körper und Geist


Was wird in dem Beispiel über das Verhältnis von Körper und Geist ausgesagt? Jemand, der zu Aggressionen neigt, kann leicht so reagieren: Wenn jemand etwas oder jemanden beleidigt, der oder das mir wichtig ist, dann kriegt er eine drauf. Eine verbale Beleidigung, nicht einmal gegen die eigene Person, verglichen mit Körperverletzung - was wiegt mehr?

Es zeigt vielleicht, dass manche Kirchenvertreter in guter alter Tradition den Geist höher stellen als "das Fleisch". Wer den Geist verletzt, hat dann mehr angerichtet, als jemand, der den Körper verletzt. Die Gotteslästerung als Herabwürdigung des höchsten geistigen Prinzips ist dann das Schlimmste überhaupt, was Menschen anrichten können, viel ärger als Massenmord. Im Mittelalter haben deshalb Ketzer eine besonders grausame Form der Todesstrafe erhalten. In Saudi-Arabien z.B. werden Andersgläubige und Andersdenkende grausam bestraft. Davon sollten wir aber in unserem Moral- und Rechtsempfinden schon weit entfernt sein.

Wie schon in einem früheren Beitrag ausgeführt, ist es übertrieben und irreführend, Beleidigung als Gewaltausübung zu verstehen, weil das zu einer willkürlichen Verallgemeinerung des Gewaltbegriffes führt und die Selbstverantwortung für die eigenen Gefühle außer Acht lässt. Es gibt keine automatische Beleidigung, vielmehr wird die Beleidigung vom Beleidigten zu einer solchen gemacht. Bei einer anderen Person in der gleichen Situation würde die Beleidigung u.U. unter die Kategorie "Lappalie" fallen.

Niemand kann über die eigene Person hinaus schließen, was Gefühle verletzt, weil jeder Mensch über ein anderes Maß dafür verfügt. Jemand kann sich schon verletzt fühlen, wenn jemand anderer die Nase über ein religiöses Symbol rümpft, oder einen Witz über Petrus an der Himmelstür macht. Jemand anderer, genauso gläubig, aber charakterlich weiter entwickelt, kann die bissigste Religionskritik gelassen von sich weisen. 


Immer wieder in die gleiche Kerbe


Wenn schon bekannt ist, was Menschen verletzt, sollte man aus Gründen der Menschlichkeit und Rücksichtnahme aufhören, in die schon bekannte Kerbe zu schlagen. So wird jetzt öfter argumentiert, wenn es um islamkritische Publikationen im Westen geht. Wir vermeiden das ja auch in unseren persönlichen Beziehungen. Wenn wir wissen, was jemand anderen, der uns wichtig ist, verletzt und ärgert, dann reiten wir nicht darauf herum oder bohren noch tiefer in die Wunde.

Auf der Ebene der gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Auseinandersetzungen gelten andere Gesichtspunkte. Hier werden, wie schon erwähnt, bei religionskritischen Fragen im allgemeinen nicht einzelne Menschen angegriffen, sondern Glaubenslehren, Glaubensinhalte und historische Repräsentanten der Religion. Wie oben gesagt, geht es in der Kritik darum, blinde Flecken in der öffentlichen Darstellung der Religionen aufzuzeigen, wie z.B. Überheblichkeiten oder inhaltliche Widersprüche, Gegensätze zwischen Theorie und Praxis usw. Die Dynamik der Auseinandersetzung in einer offenen Öffentlichkeit bewirkt, dass sie nur dann aufhört, wenn sich der Gegenstand der Kritik so ändert, dass die Kritik nicht mehr trifft, oder wenn sie unterbunden, unterdrückt und verboten wird. Dann ist allerdings die Öffentlichkeit nicht mehr offen, sondern lädiert. Und das ist für eine post-aufklärerische Gesellschaft wichtiger als die Folgen von tatsächlichen oder vermeintlichen Beleidigungen und Kränkungen.

Übertreibungen und Unverschämtheiten, unfaire und haltlose Kritiken sowie inhaltsleere Polemiken fallen der Selbstkorrektur einer offenen Öffentlichkeit anheim. Sie weist mit argumentativen Mitteln alles zurecht, was anmaßend gegen Anmaßung und hinterhältig gegen Hinterhältigkeiten vorgehen will.


Persönliche Betroffenheit und Identifikation


Es ist zwar selbstverständlich, dass das Oberhaupt der Katholiken für die Würde der Religionen eintritt und Herabwürdigungen deshalb nicht gutheißen kann. Aber jede persönliche Betroffenheit, wie sie im Beispiel der Beleidigung der eigenen Mutter ausgedrückt wird, zeugt von einer persönlichen Identifikation, die schon an anderer Stelle genauer beleuchtet wurde. Nicht einmal das Oberhaupt einer Kirche muss in der Weise mit der eigenen Institution identifiziert sein, dass eine Kritik an ihr zu einer persönlichen Verletzung führt. Wenn die Unterscheidung zwischen der Institution und der eigenen Person klar ist, kann die Reaktion auf eine Grenzüberschreitung flexibler und menschenwürdiger ausfallen, als sie ein Faustschlag darstellt. 


Die Selbstverständlichkeit des Glaubens


Glaube und Religion haben im Westen die Aufklärung durchlaufen oder durchlitten, je nachdem. Durch diese Geistesströmung, die auch eine Weiterentwicklung des Bewusstseins mit sich brachte, hat sich der Anspruch der Religionen auf alleinige oder letztgültige Welt- und Daseinserklärung relativiert. Andere Instanzen wie z.B. die Wissenschaften sind als Konkurrenten aufgetaucht. Die Glaubensinhalte und Glaubensgemeinschaften haben in den nach-aufklärerischen Gesellschaften ihre Selbstverständlichkeit verloren. Sie mussten sich von geschlossenen zu offenen Systemen weiterentwickeln. Auf diesem neu gewonnenen Boden der Grundfreiheiten gedieh auch eine neue Form der radikalen Religionskritik, wie sie z.B. im 19. Jahrhundert bei Feuerbach, Marx und Nietzsche nachgelesen werden kann. Die pluralistische Welt der Moderne ist gekennzeichnet durch ein Nebeneinander unterschiedlicher Sinnangebote, die sich gegeneinander durch kritische Auseinandersetzung abgrenzen.

Die Kirchen mussten ihren Platz in der Gesellschaft neu definieren. Wie schon ausgeführt, konnten sie in der „Verletzung religiöser Gefühle“ als strafrechtlichem Tatbestand in einigen Staaten eine Sonderstellung aus der vormodernen Epoche herüberretten.

Die Länder des nahen, mittleren und fernen Ostens sowie Nordafrikas, also die Länder, in denen der Islam vorherrscht, haben die Geistesströmung der Aufklärung nur ansatzweise und oft kontrovers durchlaufen. Aufklärung wurde in vielen Fällen mit Kolonialismus zusammengebracht und deshalb abgelehnt. Die große Mehrheit der dortigen Gesellschaften ist von der voraufklärerischen Einstellung zur Religion gekennzeichnet: Religion ist ein selbstverständlicher unhinterfragbarer Teil des Lebens. Die Inhalte des Glaubens gelten selbstverständlich. Wer sie in Frage stellt, stellt sich außerhalb der Selbstverständlichkeiten und muss deshalb ausgegrenzt werden. Wer die Selbstverständlichkeiten von außen kritisiert, muss zum Schweigen gebracht werden.

Im Interview des Papstes kommt diese Selbstverständlichkeit ebenfalls vor: Die Mutter muss in jedem Fall vor Beleidigung geschützt werden. Das vierte Gebot schreibt vor, Vater und Mutter zu ehren, also in ihrer Würde zu achten. So wie dieses Gebot ganz grundsätzlich gilt (es sorgt ja dafür, dass es uns „wohlergehe auf Erden“), gilt auch die Einstellung Gott gegenüber grundsätzlich, wie sie in den ersten drei Geboten angeordnet wird. Es geht dabei nicht um den Inhalt: Kinder sollen ihre Eltern ehren und würdigen.

Die Form der absoluten Geltung ist das aus der nach-aufklärerischen Sicht problematische: Schon was die Eltern anbetrifft, sagen Kinder, die auf eine Geschichte von Missbrauch und Vernachlässigung zurückblicken, dass sie keinen Grund sehen, ihre Eltern zu ehren. Diesen Menschen ergeht es nicht wohl, weil sie von ihren Eltern nicht geehrt wurden, und nicht, weil es ihnen an Wertschätzung für sie gemangelt hätte. Wir können verstehen und nachvollziehen, dass nur Eltern die Ehre verdienen, die auch Ehre geben können.

Wir können deshalb aus der modernen Sicht den Respekt der Kinder ihren Eltern gegenüber nicht einfordern oder als unverrückbare Notwendigkeit darstellen. Vielmehr sehen wir, dass dieser Respekt ganz von selber entsteht, wenn die Eltern den Kindern geben, was diese zum Aufwachsen benötigen, und dass er dann nicht gedeihen kann, wenn die Eltern, aus welchen Gründen auch immer, den Kindern die Eltern schuldig bleiben.

Die Gleichsetzung der Würdigung der Mutter mit der Würdigung der Religion fußt offensichtlich auf dieser Selbstverständlichkeit der Geltung. So wie die Mutter geehrt und vor Beleidigung geschützt werden muss, so muss die Religion gegen entehrende Angriffe verteidigt werden. Beides kann das nach-aufklärerische Denken nicht mehr als Selbstverständlichkeit hinnehmen, sondern als Maxime, die in jedem Fall überprüft werden muss und aus unterschiedlichen Blickpunkten unterschiedlich bewertet werden kann.


In Kommunikation bleiben


Dann können die Brücken der Kommunikation und des Dialogs aufrecht bleiben. Der, der sich beleidigt fühlt, kann mit der Person, die das ausgelöst hat, in Kontakt und im Austausch bleiben. Auf diese Weise entsteht ein Verständnis, das es dem Kritiker ermöglicht, das Objekt der Kritik mehrdimensionaler und offener wahrzunehmen. Der Kritisierte vermag, differenzierter mit der Kritik umzugehen und für sich zu entscheiden, was an der Kritik berechtigt und deshalb hilfreich und was an ihr unfair ist oder aus Missverständnissen oder Vorurteilen stammt. So kann eine Geschichte nach dem Muster: Beleidigung gefolgt von gewalttätiger Reaktion zu einer Geschichte des Lernens und Reifens für alle Beteiligte werden. Wo sich Lernfelder öffnen, wird die Welt weiter und vielfältiger, wo Gewalt angewendet wird, wird sie enger und düsterer.


Vgl. Meinungsfreiheit und religiöse Gefühle 
Die Freiheit der Kunst und religiöse Gefühle 
Was heißt: Ein religiöses Gefühl verletzen? 
Religiöse Gefühle versus Meinungsfreiheit