Sonntag, 17. November 2019

Gier und Selbstzerstörung

„Willst du reich werden? Dann plage dich nicht damit, deine Güter zu vermehren, sondern deine Habgier zu verringern.“ (Epikur)  

Die Gier zählt zu den sieben Lastern im katholischen Christentum und zu den drei Geistesgiften im Buddhismus.  Sie ist von ihrem Wesen her ein ausgelebter Egoismus, dass sie aus der Sicht von Religionen der Mitmenschlichkeit angeprangert werden muss. Die Gier ist asozial: „Ich will nicht teilen, sondern nur für mich haben, viel, möglichst alles.“ Ich will einverleiben, damit ich spüren kann, dass es bei mir ist und damit es sicher bei mir bleibt und ich es nicht verlieren kann. Deshalb ist sie stark im Mund- und Kieferbereich, also im „oralen Segment“ (Wilhelm Reich) beheimatet. 

Wir können die Gier als Abkömmling der Wut verstehen. Aggression hat etwas mit Bemächtigung zu tun und Gier mit der Einverleibung des Bemächtigten. Aggressiv ist auch die Abgrenzung gegen die anderen, die als Konkurrenten um das von der Gier Begehrte erscheinen und notfalls mit Gewalt davon abgehalten werden müssen, etwas von der Beute zu bekommen. Und schließlich geht es auch um eine Selbstaggression: Die Reduktion der eigenen Seele auf die Objekte der Gier und die versteckte Selbstbestrafung, die z.B. in der Fressgier sichtbar wird, mit der sich der Gierige durch die aggressive Selbstschädigung sein eigenes Grab schaufelt.

Die Gier richtet sich üblicherweise auf materielle Dinge: Güter, Nahrung, Drogen, Geld usw. Wir können aber auch nach Erfolg, Macht, Sex, Unterhaltung und Anerkennung gierig sein. Alles, was eine innere Frustration lindern kann, alles, was der Befriedigung eines Bedürfnisses dient, kann zum Objekt der Gier werden.

Der ursprüngliche Sinn der Gier liegt darin, Ressourcen für das eigene Überleben anzuhäufen, damit für Notzeiten vorgesorgt ist. Da wir aber Gier auch dann empfinden können, wenn wir schon genug zum Überleben haben, spielt eine emotionale Prägung mit. Sie bewirkt, dass die Gier krankhaft und zwanghaft werden kann. Diese neurotische Form der Gier hat ihre Wurzeln in unserer frühen Lebensgeschichte und bezieht sich auf eine innere emotionale Leere, die durch die Objekte der Gier gefüllt werden soll. 

Die Gier ist prinzipiell unendlich, es gibt immer noch etwas, was sie nicht hat, auch wenn schon so viel zusammengerafft wurde. Manchmal erschöpft sie sich für kurze Zeit im Konsum des Angehäuften, bis der Hunger aufs Neue erwacht. Darauf bezieht sich der Begriff des Lasters, eine Dauerbelastung für die Seele.

Diese Unerschöpflichkeit der Gier kommt daher, dass sie aus Mängeln der eigenen Kindheit stammt und für Bedürfnisse, die damals nicht erfüllt wurden, herhalten muss, ohne die damals versäumte Befriedigung jemals stillen zu können. Sie will ein kindliches Größenselbst füttern, eine Verdrehung der kindlichen Fantasie, die das riesige Ausmaß der eigenen Hilflosigkeit in sein Gegenteil verkehrt. Das Kind, in seiner großen Not, vermeint, dass ihm als Ausgleich riesige Schätze zustünden, wie es in den Märchen erzählt wird. Deshalb kennt und akzeptiert die Gier keine Grenzen.


Gier und Scham

Die Gier stiftet zu einem sozial schädlichen Verhalten an: Nimm alles für dich, bevor es die anderen kriegen. Da meldet sich die Scham als Gegenstimme. Sie klagt die Sozialverträglichkeit ein und benennt den Egoismus der Gier. Deshalb zeigen wir uns lieber bescheiden und anspruchslos, großzügig und wohltätig als gierig. Denn die Gier ist für uns selber hässlich und beschämend. Also müssen die von der Gier motivierten Taten geheim und unsichtbar bleiben. Alle Spuren sollen verwischt werden. Für gieriges Verhalten bekommen wir keine Anerkennung, sondern ernten eher Verachtung und Abwertung. Wer will schon einen gierigen Menschen zum Freund?

Hier eine Geschichte, die den Zusammenhang von Scham und Gier recht anschaulich verdeutlicht: Es sitzt eine Runde von Personen zum gemeinsamen Abendessen um einen Tisch. Alle haben schon gegessen, und ein Schnitzel ist auf dem Servierteller in der Mitte des Tisches übriggeblieben. Die Gastgeberin fragt, ob nicht jemand das Schnitzel noch essen möchte, doch alle verneinen bescheiden. Plötzlich geht das Licht aus, und ein Schrei ertönt. Das Licht geht wieder an, und auf dem Schnitzel liegt eine Hand, in der die Gabeln der anderen Gäste stecken. 

Solange es hell ist, also solange jeder gesehen wird, zügelt die Scham die Gier. Niemand will das Schnitzel, alle zeigen sich zufrieden und genügsam. Kaum fällt die äußere Kontrolle weg, setzt sich sofort die unverschämte Gier durch. Das ist der heimliche Gang zum Kühlschrank in der Nacht, die versteckte Schnapsflasche, das fette Schwarzgeldkonto auf den Bahamas – die Gier scheut die Öffentlichkeit. Nur der Schamlose lebt seine Gier offen. 

Wir erkennen hier die eminent wichtige soziale Rolle der Scham: Sie hält die Gier in Schach, damit sie nicht überhand nimmt und in der Folge die Gesellschaft in selbstsüchtige Individuen zerfällt, die versuchen, alles auf Kosten der anderen an sich zu raffen. Die Scham zügelt den Egoismus und erinnert daran, wie notwendig die wechselseitige Rücksichtnahme und die Gemeinwohlorientierung sind. 


Frühkindlicher Mangel

Die Panik, zu kurz zu kommen, die die Gier antreibt, stammt aus früh erfahrenen emotionalen Mangelerfahrungen. Sie ist die Quelle für das Überspielen der Schamreaktion, nach dem Motto, dass das Überleben wichtiger ist als eine gute Presse. Es geht um das Zukurzgekommensein bei Zuwendung und Liebe und die durch solche Erfahrungen ausgelösten und durch häufige Wiederholungen chronifizierten Ängste. Solche Ängste können so stark werden, dass sie später über alle möglichen Schranken hinwegschwappen und extreme und exzessive Verhaltensweisen auslösen können: „Ich muss jetzt alles an mich reißen, sonst gehe ich unter“. 

Je größer das emotionale Loch ist, das jemand aus seiner Kindheit mitgenommen hat, und je schwächer die moderierende Einwirkung der Scham ausgeprägt ist, desto hemmungsloser und blinder kann die Gier das Kommando übernehmen. Diese Dynamik kann Menschen dazu bringen, dass sie für die Erreichung ihrer von einer maßlosen Gier ersonnenen Ziele bereit sind, sprichwörtlich über Leichen zu gehen.  

Die innere Leere ist immer die Folge einer missglückten Affektregulation in der Kindheit. Sie führt zur chronifizierten Angst vor dem Mangel, die wiederum die Bereitschaft zur Gier aktiviert und die von der Scham errichteten Hemmungen überwindet. In der Gier äußert sich die Forderung nach einem Ausgleich, nach einer Entschädigung für die erlebten Frustrationen. Manche gierige Menschen verhalten sich aus diesem Grund so ungeniert, weil sie meinen, sie hätten einen Rechtsanspruch auf alle materiellen und immateriellen Güter, auf alle Objekte des Begehrens.

Klarerweise kann die Gier nie zu einer dauerhaften Befriedigung führen, weil sie nach etwas lechzt, was unwiederbringlich versäumt wurde. Die fehlende Mutterliebe kann durch keine Luxusvilla, aber auch durch keinen Liebes- oder Sexpartner ersetzt werden. Deshalb mündet jede Gier in einer tendenziell unendlichen Schleife, sich nie zufrieden geben zu können, sondern immer mehr fordern zu müssen.  

Fürsorgliche Personen, denen es von früh an gelingt, die Bedürfnisse ihrer Kinder zu erkennen und angemessen zu erfüllen, legen die Basis für eine solide Selbstzufriedenheit und emotionale Erfüllung. Gelingt es außerdem, das Kind zu einem gut balancierten Schamerleben zu führen, so wird die Ausbildung einer zwanghaften Gier im späteren Leben überflüssig und die Neigung zu exzessivem Verhalten eingedämmt. 

Prägungen der Gier 

Manche Menschen haben eine ausgeprägte Gier nach Geld, andere nach Macht.
Die Geldgier hat ein anonymeres, unpersönlicheres Objekt. Geld ist eine abstrakte Größe, eine Zahl auf einem Kontoauszug. Wenn die Geldmenge am Konto wächst, gibt es niemandem, dem es weggenommen wurde. Die Geldgier kann als Antwort auf eine Form der emotionalen Vernachlässigung verstanden werden, die atmosphärisch gewirkt hat, also nicht an einzelnen traumatisierenden Momenten festgemacht werden kann, sondern sich aus tagtäglichen Missachtungen zusammensetzt. Geld als universal einsetzbares Mittel zur Absicherung gegen jede Art von Bedrohung dient dann als Gegenstand der Anhäufung. Massenhaftes Geld am Konto  verheißt die Sicherheit, nie mehr wieder einen Mangel erleiden zu müssen, der die eigene Kindheit geprägt hat. Die Falle dieser Form der Gier ist offensichtlich: Zahlen können keine Sicherheit garantieren. Eine Klientin, die bei ihrer Scheidung 10 Millionen Euro bekommen hatte und dazu eine stattliche Summe für die fortlaufende Lebensführung, bekam massive Existenzängste, als sich ihr Vermögen im Zug der Finanzkrise um eine Million verringerte. 

Die Gier nach Macht ist anders gestrickt. Sie muss sich mehr der Konkurrenz aussetzen und braucht mehr Aggression, um an ihr Ziel zu kommen. Macht muss anderen weggenommen werden, damit man sie haben kann. Die machtgierige Person braucht einen höheren Grad an Unverschämtheit. Die Machtgier kann als Antwort auf eine direkte Unterdrückung durch eine autoritäre Elternperson verstanden werden, die die Entwicklung der Eigenmacht des Kindes unterbunden oder stark eingeschränkt hat. So dient die Strategie der Machtgier der Sicherstellung der eigenen Autonomie gegenüber der Bedrohung durch andere Menschen. Die Gier soll den Autonomiemangel ausgleichen, der schmerzhaft in der Kindheit erlitten wurde. 

Machtgier und Geldgier stellen zwar unterschiedliche Strategien dar, doch sind sie in der Realität häufig eng miteinander verflochten. Machtgierige Menschen sichern sich die Macht, um in ihrem Schatten Geld anhäufen zu können. Geldgierige Menschen wollen reich werden, weil sie wissen, dass die Macht käuflich ist. Ein Sicherungssystem sichert das jeweils andere, ein Giersystem kurbelt das andere an. Die neurotische Sucht nach Sicherung der Sicherheit potenziert die destruktiven Kreisläufe, die von der Gier angestachelt werden.

In dieser Dynamik gedeiht das weite und hartnäckige Feld der Korruption – Einzelne oder Netzwerke, die sich öffentliche Güter für private Nutzung aneignen. Den Antrieb liefert die Gier, die wiederum von den nagenden Gefühlen des inneren Mangels gefüttert wird.

Alle Gierstrategien dienen einem Ziel, dem Inneren, der Seele Sicherheit zu bieten, eine Sicherheit, die freilich im Außen vergeblich gesucht wird. Das ist die Tragik der Gier und aller von ihr angetriebenen Handlungen: sie führen nie zu mehr Sinn und Glück, vielmehr richten sie großen Schaden in den Seelen der von ihr Getriebenen und im Leben der Betroffenen an. 

Das Missverständnis, im Außen eine Erfüllung zu suchen, die nur im Inneren gefunden werden kann, ist verständlich, denn der Mangel an Zuwendung und Fürsorge, der hinter der Gier steckt, war ursprünglich vom Außen, von den nahestehenden Menschen geschuldet. Die innere Verarmung ist die Folge einer fehlenden Unterstützung durch andere. Dennoch bedeutet Erwachsensein, die Verantwortung für die eigenen Bedürftigkeiten zu tragen. Solange das nicht gelingt, was immer der Fall ist, wenn die Gier aktiv ist, führt das unersättliche innere Kind die Regie und nimmt den Erwachsenen in Geiselhaft. Diese Rollenumkehr  kann in allen Zusammenhängen des erwachsenen Lebens von Liebesbeziehungen bis zu den Staats- und Weltgeschäften zu nichts anderem als zu katastrophalen Auswirkungen führen. 

Gierökonomie und Gierkultur 

Kultur und individuelle Entwicklung wirken immer zusammen. Diese Verflechtung ist besonders auffällig bei der Gier. Seit der Kapitalismus die Regulierung der Güterproduktion übernommen hat, hat die Gier eine riesige Spielwiese erhalten. Das nahezu unendliche Angebot an Dingen, die mit allen Tricks angepriesen werden, konfrontiert mit Glücksversprechen der unterschiedlichsten Art und entfesselt die Bemächtigungsgefühle, die im Inneren der frustrierten Menschen schlummern. Der hemmungslose Konsum wurde im Prozess der Zivilisation aus der Sphäre des Sündhaften und damit der Scham herausgelöst (der Protestantismus hat die Verdammung der Habgier nicht übernommen, sondern im Gegenteil Rechtfertigungen für die kapitalistische Bereicherung eingeführt) und zur Norm erklärt. 

Im Zug der Demokratisierung wurde der Luxus, der vorher den Adelshöfen vorbehalten war, von der breiten Masse eingefordert und in der modernen Konsumwelt und Verbraucherökonomie zur Realität. Gier wird geil. Die Menschen sollen arbeiten, um zu konsumieren. Dem Imperativ des permanenten Wachstums der Wirtschaft steht die unersättliche Gier der Marktteilnehmer nach mehr und noch mehr Gütern zur Seite. Die Räder von Produktion und Konsum sollen sich immer schneller drehen, gemäß dem sich permanent beschleunigenden Rhythmus der Gier, ohne Rücksicht auf Verluste.

Die Gierkultur ist ein Stadium der kulturellen Evolution der Menschheit und zugleich eine Sackgasse. Die Entwicklung der Menschheit auf diesem Planeten kann nur weitergehen, wenn die Gier entscheidend eingedämmt wird, sowohl individuell als auch institutionell. Der Kollaps des Finanzsystems 2008 ist ein Mahnmal für diese Forderung; der immer sichtbarer werdenden Kollaps des Klimasystems ein weiteres Indiz für die destruktive Kraft der Gier und der von ihr gesteuerten Wirtschaft und Kultur. Im Grund sind es kindliche Ängste, zu wenig Aufmerksamkeit und Zuwendung zu bekommen, die mit dem Treibstoff Gier die Prozesse der überhitzten Güterproduktion und -konsumation in Gang halten – fast lächerliche Ursachen im Vergleich zu den ungeheuren Wirkungen, die dadurch entfesselt werden.

Die hemmungslose Ausbeutung der Natur, und darunter fällt auch die Körperlichkeit der Menschen, spiegelt die Selbstaggression, die in der Gier enthalten ist: Das letztliche Ziel der Gier liegt in der Selbstzerstörung. Das ist eines der frappierndsten Widersprüche der Menschen: Die Gier, mit der wir uns die Unsterblichkeit durch das Anhäufen von Gütern sichern wollen, führt pfeilgerade und schnurstracks in den individuellen und kollektiven Tod.

Die jungen Leute, die sich für Fridays for Future engagieren, haben den Wahnsinn dieses Selbstzerstörungszwangs schon durchschaut und weigern sich, mitzuspielen.

Zum Weiterlesen:
Reich und arm, Demut und Würde
Krankhafter Konsum
Das Giersystem im Kapitalismus
Konsum und Gier
Konsumscham und Schamkonsum

Donnerstag, 7. November 2019

Bescheidenheit als Tugend

Ist Bescheidenheit eine Tugend, fragt „Hanzi Freinacht“ in einem facebook-Posting. Er meint, dass die Bescheidenheit als Norm nicht taugt, weil sie dann als etwas Besseres ausgegeben wird als etwas anderes, Arroganz beispielsweise. Damit wird der Bescheidene zum überheblichen Besserwisser. „Die Bescheidenheit zu ehren und die Arroganz zu verachten, ist selbst ein Hochverrat an der Bescheidenheit,“ so Freinacht. 

Natürlich wird die Bescheidenheit zur Waffe, wenn wir sie gegen andere Haltungen von Menschen in Stellung bringen und Vergleiche anstellen. Bescheidenheit an sich ist weder besser noch schlechter als Arroganz. Beide Haltungen haben ihren Sinn und ihren Schatten. Eine gesunde Arroganz können wir mit gesundem Stolz gleichsetzen und eine falsche Bescheidenheit geht leicht mit Heuchelei einher. Die Tatsache jedoch, dass wir die Bescheidenheit für Machtzwecke nutzen können und uns damit selbst widersprechen, bedeutet nicht, dass sie nicht als Tugend taugen würde. Denn das gleiche gilt für jede andere Tugend auch. Die Nächstenliebe können wir für egoistische Handlungen missbrauchen, die Tapferkeit zur Gewaltrechtfertigung, die Weisheit zur Manipulation, die Geduld zur Verzögerung, die Ehrlichkeit zur Rücksichtslosigkeit usw. 

Tugenden und Laster

Was verstehen wir eigentlich unter dem etwas antiquiert wirkenden Begriff Tugend? Sie ist eine innere Einstellung und ethische Haltung, die erworben und gepflegt werden muss, die also nicht einfach unseren ursprünglichen Impulsen und Trieben entspringt, sondern im Zug des Hineinwachsens in die Gesellschaft angenommen wird. Sie besteht im Überwinden von egoistischen Antrieben und Gewohnheiten, von Bequemlichkeiten und Ängsten. Sie ist an einem überpersönlichen Guten orientiert, das prinzipiell allen Menschen dient.

Jede Tugend hat eine Seite, die als Vorbild und Richtschnur für ein gutes Leben dient, und eine Schlagseite, die zum Missbrauch verleitet. Unser Ego will immer mitschneiden, wenn wir einen inneren Fortschritt machen, indem es dafür z.B. Bewunderung oder materielle Vorteile erheischen möchte. Schon haben wir den dünnen Grat, auf dem die Tugend wandelt, verlassen und sind im Laster gelandet. 

Prediger der Bescheidenheit

Anderen Tugenden zu predigen, ist immer eine heikle Angelegenheit und funktioniert solange, als Hierarchien im Spiel sind. Früher war es die Aufgabe von Priestern, Missionaren, Kirchenlehrern und anderen Autoritäten, die dem einfachen Volk mores lehrten, also das, was als gut und böse zu gelten hat. Die Aufklärung hat mit der Demontage dieser Autoritäten begonnen. Seither muss sich jede Stimme, die Tugenden öffentlich anpreist, einer Rechtfertigung unterziehen und unterliegt der Prüfung im kritischen Diskurs. 

Jeder darf sich selber auf den Weg machen, die eigene Tugendhaftigkeit auszuformen und dafür die Verantwortung zu übernehmen, am besten im Rahmen der Bescheidenheit. Denn unsere eigenen Errungenschaften sind auch unsere kostbarsten Geschenke: Was wir in uns entwickeln können, verdanken wir immer auch anderen Quellen – darauf weist uns die Haltung der Bescheidenheit hin.

Bescheidenheit bedeutet, die eigenen Ansprüche und Erwartungen zurückzuschrauben. Sie umfasst die Fähigkeit, sich ohne schmerzhaften Verzicht, sondern aus Einsicht mit weniger zufriedenzugeben und die Quellen des Glücks im Inneren statt im Äußeren zu suchen. Sie beinhaltet ein erwachsenes Bedürfnismanagement: Die Unterscheidungsfähigkeit zwischen aktuellen, realen Bedürfnissen und illusionären oder eingebildeten Wünschen und Sehnsüchten sowie die Unterscheidungsfähigkeit zwischen unerfüllten Glücksansprüchen aus der Kindheit und den Notwendigkeiten der Erwachsenenwelt.

Die Bescheidenheit taugt nicht zum Vergleichen („Ich habe mehr davon als andere“) oder zum Verordnen („Du musst endlich bescheidener werden“) und auch nicht zur Selbstbeweihräucherung („Seht her, wie bescheiden ich bin“). Vielmehr muss sie selbst gefunden und entwickelt werden, eine persönliche Errungenschaft sein, damit sie in den eigenen Lebensstil inkorporiert werden kann. Sicher ist es sinnvoll, sich an Vorbildern zu orientieren. Es gibt eine Untersuchung, die festgestellt hat, dass Menschen dann aufs Fliegen verzichten (aus Gründen der Rücksichtnahme auf die Umwelt, also aus einer Haltung der Bescheidenheit), wenn sie Menschen kennengelernt haben, die diesen Schritt gemacht haben und damit gut leben können.

Die falsche Bescheidenheit

Die Bezeichnung „falsche Bescheidenheit“ weist auf einen der verschiedenen Missbräuche der Tugend hin. Sie besteht beispielsweise darin, ernst gemeintes Lob oder Anerkennung abzulehnen, das eigene Licht unter den Scheffel zu stellen. Auch die Zurückweisung eines Gefallens, den einen jemand erweisen möchte, zählt dazu, oder das Sich-Zieren, eine Beförderung oder Auszeichnung anzunehmen. Es handelt sich um eine Anmaßung im Kleid der Bescheidenheit: Ein Bedürfnis, als außergewöhnlich bescheiden von den anderen angesehen zu werden und damit einen besonderen moralischen Status zu bekommen. „Falsch“ ist diese Bescheidenheit auch deshalb, weil mit ihr andere Menschen getäuscht werden sollen.

Privilegien und Bescheidenheit

Wir leben mit einem hohen Grad von Luxus, als Mitglieder einer dünnen Oberschicht der Weltbevölkerung. Wir können diese privilegierte Stellung mit der Demut derer, denen ein besonderes Los ohne Verdienst zugeteilt wurde, einnehmen. Dann liegt uns die Bescheidenheit näher als Machtstreben, Überheblichkeit und Raffgier. Mit dem von der Gier angetriebenen Zwang zur Güteranhäufung machen wir uns von einem Habenmodus abhängig, der uns in die Selbstausbeutung führt. Üben wir uns statt dessen in der Tugend der Bescheidenheit, so können wir sehr viel, wenn nicht sogar Entscheidendes zur Balancierung der Ungleichheiten innerhalb der Weltgesellschaft und im Verhältnis zwischen Menschheit und Natur beitragen. Zugleich kommt auch unser Inneres zu mehr Ausgleich und Frieden, weil es nicht mehr vom Habenwollen in Geiselhaft genommen ist. 

Die Bescheidenheit beinhaltet die Wertschätzung des Kleinen, Unscheinbaren, Unspektakulären. Die kleinen Dinge schaffen kleine Freuden, doch summieren sich diese Freuden beständig. Wenn das, was sonst übersehen wird, gesehen und wertgeschätzt wird, wächst das Ausmaß an Schönheit in dieser Welt.

Mittwoch, 23. Oktober 2019

Wie Scham zu Selbstgesprächen führt

Das Selbstgespräch, das oft auch die Form von Gedankenschleifen hat, dreht sich häufig um Schamthemen. Denn Peinlichkeiten, die uns passiert sind, Fehler, für die wir uns abwerten, persönliche Mängel, für die wir uns geißeln, haben alle mit Scham zu tun. 

Scheinbar erfüllen solche inneren Dialoge die Funktion, Situationen aus der Vergangenheit, die uns beschämt haben, wieder ins Lot zu bringen. Wir wollen im Gedanken ausbessern, was uns in der Realität misslungen ist. Deshalb dreht sich das Denken oft so hartnäckig und gleichzeitig so erfolglos um diese Themen herum und hindert uns daran, uns einfach nachsichtig zu verzeihen, dass wir nicht besser waren als wir eben waren. Statt dessen arbeiten wir an unserer fantasierten Optimierung, die uns die Demütigung erspart hätte, die uns widerfahren ist. Wir wollen wiedergutmachen, was schiefgegangen ist, wir wollen die Niederlage in einen Sieg verwandeln. Jetzt endlich haben wir den treffenden Satz, die schlagfertige Antwort hingekriegt, mit der wir den Opponenten oder die Kritikerin sofort mundtot gemacht hätten – wenn sie uns eben rechtzeitig eingefallen wäre. Freilich, statt der Wirklichkeit haben wir nur den nachträglichen Konjunktiv, und sobald wir merken, wie wir uns fruchtlos in uns selber abmühen, ist die Scham schon wieder da und hat noch ein Schäufelchen draufgelegt.

In abgespeckter Form meinen wir zumindest, dass wir mit dieser aufwändigen gedanklichen Zurüstung zumindest die nächste derartige Gelegenheit bravurös bestehen würden, ohne uns klar zu machen, dass das nächste Mal immer anders und neu ist im Vergleich zum vorigen Mal. Das Leben wiederholt sich nicht wie eine hängengebliebene Schallplatte, sondern verändert sich fortwährend und stellt immer wieder neue Konstellationen zusammen, mit denen es unsere Lernbereitschaft herausfordert.

Wir unterliegen dabei dem durchaus populären und scheinbar intuitiv überzeugenden Aberglauben, dass Gedanken eine direkte kausale Wirkung auf die Realität haben – tatsächlich beeinflussen sie nur einen kleinen Teil der Realität, nämlich unsere innere Erlebniswelt, und auch diese nicht in dem kausal erwünschten Sinn. Wir können nicht Szenen aus der Vergangenheit herausschneiden wie bei einem Film und durch eine bessere Version ersetzen. Die Wirkung auf etwas, das schon geschehen und vergangen ist, kann höchstens indirekt erfolgen, nämlich auf die Weise, wie wir unsere Geschichte bewerten, welchen Kontext wir ihr verpassen. Die nachträglichen Selbstgespräche folgen zwar der Absicht, die Geschichte umzuschreiben, was natürlich nie gelingen kann. Aber sie geben uns zumindest ein Stück Macht und Selbstachtung zurück, die wir in der beschämenden Situation gänzlich verloren haben.

Dieser Wiederaufbau der Selbstbeziehung im inneren Dialog ist ein antreibender Faktor bei dieser – von außen betrachtet – so sinnlosen Tätigkeit. In der beschämenden Situation findet ein inneres Auseinanderdriften statt: Ein Teil bemerkt, dass etwas Unpassendes geschehen ist, ein anderer möchte verschwinden und vom Erdboden verschluckt werden. Beim Selbstgespräch reden diese Persönlichkeitsanteile wieder miteinander und damit sind wir nicht mehr ganz allein und verlassen wie in der Schamsituation. 

Die Crux bei der Sache ist, dass wir, im Kreisdenken geübt, schwer wieder herausfinden und bemerken werden, dass die Angelegenheit immer wieder im Kopf herumzuspuken beginnt. Frieden finden können wir erst, wenn wir uns wirklich mit uns selber versöhnen und barmherzig unsere Unvollkommenheit und Fehleranfälligkeit akzeptieren. Dann können wir die Vergangenheit Vergangenheit sein lassen und milde über uns selber lachen. Dann haben wir eingesehen, dass wir immer nur zu dem in der Lage sind, wozu wir gerade in der Lage sind, sei es im Handeln oder Nichthandeln, im Reden oder im Schweigen, im Denken oder im Fühlen.

Samstag, 19. Oktober 2019

In Sachen Zigarettenstummel

Ich leiste mir den Luxus und das Vergnügen, immer wieder mal auf Wegen, die ich häufig gehe, weggeworfenen Müll einzusammeln und ihn im nächstgelegenen Müllkübel zu entsorgen. Dabei fällt mir erstens auf, dass unter diesen Abfällen leere (manchmal sogar volle) Zigarettenpackungen oder nur die Plastikumhüllung derselben den größten Teil des herumliegenden Unrats ausmachen. Zweitens sehe ich auch die Unmengen an weggeworfenen Zigarettenstummeln, die sich über die Jahre an Gehsteigrändern ansammeln und die alle aufzupicken mir zu mühsam ist.

Es drängt sich der Eindruck auf, dass Raucher eine spezielle Sorglosigkeit und Achtlosigkeit an den Tag legen, wenn es um die Folgen ihres Tuns geht. Jeder mag der Sucht frönen, die er oder sie nicht lassen kann. Da die Nikotinsucht legal ist, steht es jedem frei, auf diesem Weg ein bisschen Genuss zu gewinnen und die eigene Gesundheit zu gefährden. Aber für die Folgen des eigenen Tuns, soweit sie andere betreffen, hat jede Person die Verantwortung und sollte sie auch in erwachsener Form übernehmen. Dazu gehört die Obsorge über die Abfälle der eigenen Konsumhandlungen im öffentlichen Bereich. 
Wir wissen, dass Plastikteile Hunderte von Jahren brauchen, um zu verrotten. Also jedes noch so kleine Stück Plastikfolie verbleibt in der Umwelt, zerfällt langsam zu Mikroplastik und gelangt allzu leicht in die Mägen von Tieren und von dort wieder in die Umwelt, bis schließlich irgendwo solche Partikel über die Nahrung auch in unserem Körper landen.

Bei Zigarettenstummeln geht es nicht nur um Plastik.  Wir sollten wissen, dass mit jedem Glimmstängel-Rest beträchtliche Mengen an Giften in die Böden und von dort in die Gewässer gelangen. Die WHO hat 2017 in einer Studie nachgewiesen, dass pro Jahr etwa 680 000 Tonnen Zigarettenstummel in der Umwelt landen. Das sind 30 bis 40 Prozent der Abfälle, die aus dem Meer gefischt oder von städtischen Müllentsorgungen aufgesammelt werden müssen – also 680 000 Tonnen Giftmüll. Eine Zigarette besteht nicht nur aus Tabak und Papier, sondern auch aus bis zu 4.000 verschiedenen Chemikalien, darunter Blausäure, Dioxine, Schwermetalle (Cadmium, Arsen, Quecksilber). Selbst radioaktives Polonium 210ist darunter. Diese werden zum Teil verbrannt und entweichen in die Luft, viele davon verbleiben aber im Zigarettenfilter, der dann achtlos weggeworfen wird –  5000 Tonnen Zigarettenstummeln pro Jahr in Österreich; das ist eine Menge, die nicht mehr unter Minikatastrophe fällt.

Ein Experiment der Universität San Diego hat gezeigt, dass ein Zigarettenstummel, aufgelöst in einem Liter Wasser, alles Leben in diesem Wasser umbringt – nach vier Tagen waren die ersten Fische tot. Außerdem wissen wir aus dieser Studie, dass die Gifte über das Grundwasser in die Nahrungskette gelangen. Mindestens 50 der Stoffe aus einem Stummel stehen im Verdacht, Krebs zu erregen.

Bewusstseinsbildung und gesetzliche Regelungen


Es braucht offenbar eine Bewusstseinsbildung und gesetzliche Regelungen, dass das gewohnheitsmäßige Wegwerfen von fertiggerauchten Zigaretten eine schlechte und schädliche Gewohnheit ist, die geändert gehört. In einigen Städten steht jedes Ablegen von Müll im öffentlichen Raum unter Strafe. Vor einigen Jahren hatten Hundebesitzer die Gewohnheit, die Gackerl ihrer Tierchen ohne jede Verantwortung im öffentlichen Raum zu belassen; das hat sich mittlerweile verändert und viele Hundebesitzer befolgen die neuen Regeln. Wir sollten auch nicht unbeteiligt wegschauen, wenn Raucher ihre Kippen wegwerfen, denn Achtlosigkeiten, die jemand anderer bemerkt, werden zur Kenntnis genommen und können das Verhalten ändern. Solange die Raucher denken, dass es niemanden stört, dass sie, statt einen Müllkübel zu suchen, die fertiggerauchte Zigarette dort fallen lassen, wo sie nicht mehr gebraucht wird. Wir müssen uns nicht zu Hilfssheriffs aufspielen, haben aber das Recht als Angehörige der Zivilgesellschaft, unzivilisiertes Verhalten zu bemerken und gelegentlich anzusprechen.

Ich höre schon das Gejammer und die Opferbeschwörungen der Raucher und Raucherinnen und deren politischer Vertreter, über die sowieso weit überhöhten Zigarettenpreise und die Diskriminierung in Lokalen und die Lustfeindlichkeit, die mehr und mehr einem Trend zu öffentlicher Unterdrückung führt. Und jetzt soll man sich noch kleinlichst um irgendwelche Abfälle kümmern, wo doch der öffentliche Raum allen gehört und für dessen Reinigung genug an Steuergeldern bezahlt wird. Wenn man nicht einmal mehr einen Zigarettenstummel wegwerfen darf, ist die Diktatur nicht mehr weit, wie in Ostasien. Der Terror und die gnadenlose Verfolgung gegen die armen Raucher durch alle tugendhaften Lustfeinde rüsten zur nächsten Runde der Freiheitseinschränkung. Und so weiter.

Wir alle müssen Gewohnheiten verändern und Bequemlichkeiten aufgeben, wenn wir wollen, dass unsere natürliche Umgebung in einer Form weiterbesteht, die uns das Überleben ermöglicht. Die aktuelle Problemlage mit all den Verschmutzungen der Meere, Gewässer, Wälder und der Atmosphäre ist Folge von Nachlässigkeiten und Unachtsamkeiten der Menschheit, und zur Veränderung von Verhalten gibt es nur zwei Wege: der eine, der über die Einsicht zur Verantwortungsübernahme führt, der andere, der über die politische Willensbildung gesetzliche Regelungen mit Strafandrohungen einsetzt. Beides ist dringend erforderlich. Und für beides braucht es eine öffentliche Debatte, über die die Menschen ihre Einstellungen ändern und ihr Verhalten anpassen. Diese Debatte sollte scheinbare Kleinigkeiten wie Zigarettenstummel ebenso umfassen wie alle anderen Konsum- und Mobilitätsgewohnheiten und Urlaubswünsche. Wir können auf diese Weise lernen, die Nachhaltigkeit als wichtigen Faktor in all unsere Entscheidungen einzubinden.

Quellenverweis:
Web.de
Global2000



Freitag, 4. Oktober 2019

Das individuelle Glück und die Ungeheuerlichkeit des Leids

Alle streben wir nach mehr Glück im Leben. Alle wollen wir Schmerzen und Ängste vermeiden und verringern. Alle wollen wir uns wohlfühlen, mit uns, mit unseren Mitmenschen, mit der Welt insgesamt.

Die Welt um uns herum hingegen enthält eine Unmenge an Leid. Die Natur der Erde ächzt unter den Klimaveränderungen, Tierarten sterben aus oder müssen sich neue Lebensräume suchen, die Meere werden immer mehr mit Plastik und Kunststoffen verdreckt; die Menschheit verstrickt sich immer wieder in blutige Konflikte, Hass wird gepredigt, Menschenverachtung und Ausbeutung ist überall präsent.  Wir können nicht einmal abschätzen, ob sich das Leid in Summe verringert infolge all der Fortschritte an Humanität, Krankheitsbekämpfung und Hungereindämmung. Denn andere Form des Leids werden laufend produziert, neue Formen der Grausamkeit oder der subtilen Unterdrückung entstehen, neue Ansätze zum Ressourcenverschleiß, unvorhersehbare Folgen der Rohstoff- und Trinkwasserverknappung tauchen auf usw. Selbst in den Ländern, in denen die Gewinne aus all den Ausbeutungsvorgängen gehortet werden und das Luxusleben mit höchstem Energieverbrauch, leiden die Menschen an Stressbelastung, instabilen Beziehungen und inneren Unausgeglichenheit. 


Das Webwerk des Leidens


Ist es also einfach unredlich und verlogen, sich in irgendein Lebensglück zu versenken, während ringsum das Grauen vorherrscht, Menschen in Bürgerkriegen oder Hungerzonen dem Verrecken preisgegeben sind, Kinder geschlagen und emotional misshandelt, Tiere zum Dahinvegetieren gehalten und ganze Arten ausgerottet werden und so weiter, wir wissen vieles davon und wissen auch, dass es noch viel mehr von diesem Elend jenseits unseres Wissens gibt.

Theodor W. Adorno hat gemeint, dass nach Auschwitz keine Gedichte mehr geschrieben werden können. Ein Grauen kann nicht in eine lyrische Form übersetzt werden. Natürlich sind viele Gedichte nach 1945 geschrieben worden, aber der Mahnruf hat seine Berechtigung. Denn es gibt kein einfaches Hinüberwechseln in die Tagesordnung der Abläufe der gesättigten Konsumwelt und einlullenden Medienlandschaft, wenn so vieles im Argen liegt.   

Andererseits ist niemand gezwungen, sich der negativen Dialektik Adornos anzuschließen, die kategorisch ein richtiges Leben im falschen ausschließt. Die Öffnung für die Glücksmomente im Leben entspannt und erweitert die Sicht auf die vielfältigen Facetten des Lebens. Das Glück ist eine Innenerfahrung, die sich zeigen kann, gleich welche Umstände im Außen herrschen. Es gibt Menschen, die im Gefängnis zur Erleuchtung gefunden haben, andere, die in schwerer Krankheit eine tiefe innere Zufriedenheit erleben konnten – und viele andere, denen solche Erfahrungen nie geschenkt wurden.


Die Lebenskunst, das Ganze zu umarmen



Die Kunst im Leben besteht nicht darin, die üblen Aspekte der Menschheit auszublenden und zu ignorieren, auch nicht darin, sie zu beklagen und zu bejammern. Die Lösung liegt weiters nicht darin, das eigene Glück gegen das Unglück anderer aufzurechnen und sich zu verbieten, solange so viel Unglück herrscht.Die Kunst im Leben besteht eher darin, beides halten zu können: Das innere Glück, so es sich zeigt, und die äußeren Missstände, als ob unsere beiden Hände beides tragen oder als ob zwei Kinder auf unserem Schoß sitzen: Das Glück und das Unglück. Beides darf sein und hat seinen Platz. Beides gehört zur Gesamtheit der Wirklichkeit, die sich in uns selber wiederspiegelt. So wird es Zeiten geben, wo uns all die Missstände und all die Leiden traurig machen, und gleichzeitig eine tiefe Zufriedenheit in uns selber spürbar ist oder andere Zeiten, in denen wir uns an der Schönheit des Außen erfreuen, während unser Inneres unter einem Problem ächzt. 

Wir wollen das Glück mehren, in uns und um uns herum, und das ist auch gut und notwendig so. Schließlich ist das eine unserer wichtigsten Aufgaben in unserem Leben. Zugleich müssen wir damit leben, dass uns das immer wieder misslingen kann, soviel wir uns auch bemühen. Wir sollten auch erkennen, dass das, was wir zu tun vermögen, nicht mehr als der berühmte Tropfen auf einem riesigen heißen Stein ist. Unendlich viel wäre noch zu tun, verschwindend und kümmerlich ist unser Beitrag. Und doch ist es unser Beitrag, etwas, das nur wir selber beitragen können, um die Welt menschlicher zu machen. Diesen Beitrag kann niemand anderer als wir selber leisten, es liegt ganz bei uns, ob er geschieht oder nicht. Leid zu lindern und Freude zu schaffen, wo es geht, bei uns selber und bei den Menschen, den Näheren und den Ferneren, und bei allem, was das Universum ausmacht, ist unsere vordringliche Lebensaufgabe, der wir gemäß dem Vermögen, das wir von diesem Universum mitbekommen haben, verpflichtet sind. Da haben die einen mehr und die anderen weniger erhalten, und das ist auch wichtig anzuerkennen, statt auf die anderen zu zeigen, die angeblich weniger tun als wir selber. 

In dieser Ambivalenz der menschlichen Existenz, die durch uns hindurch wirkt und erschüttert, ob wir es wollen oder nicht, spiegelt sich die Ambivalenz des Universums, das große “stirb und werde”. Wir Menschen sind mit einer einzigartigen Leidensfähigkeit ausgestattet, die uns nicht ruhen lassen kann, solange es Leiden gibt. Wir sind auch mit der Kraft der Verantwortung und vielfältigen Kompetenzen zum praktischen Handeln zugunsten der Minderung des Unglücks und der Mehrung des Glücks ausgestattet. Wir verfügen über Wachstumschancen in den verschiedenen Bereichen unseres Wesens, kognitiv, emotional, sozial und spirituell. Mit jedem Lernschritt in einer dieser Dimensionen erschließen wir mehr Glücksmöglichkeiten in uns und finden Ideen und Energien für die Erweiterung von Glücksmöglichkeiten in der Welt um uns. 

Wir alle haben Fähigkeiten und Potenziale dafür, das Ganze mit all seinen Facetten und in seiner Spannbreite in unser Bewusstsein aufzunehmen. Wir alle verfügen über ein ausreichendes Maß an Empathie und einen Sinn für weltweite Solidarität. Wir alle wissen um unsere individuelle und kollektive Verantwortung. Es geht darum, den Fokus auf diese Verantwortung zu halten und ihn wiederzugewinnen, wenn er uns abhandenkommt. Und es geht darum, Verständnis für uns und alle um uns zu haben, wann und wo auch immer der Fokus verlorengeht und dadurch Leiden entsteht. Je mehr wir unsere Glücksfähigkeit aktivieren, desto mehr können wir beitragen, um mehr Entspannung in die Welt zu bringen. 

Glück ist ansteckend, ähnlich wie Unglück. Wir können die Stimmungen anderer aufhellen, wenn wir ein freundliches Gesicht zeigen oder nette Worte sagen, humorvoll reagieren und eine gelassene Atmosphäre verbreiten. Wir fühlen uns unternehmungslustiger und motivierter. Wir sind aufnahmefähiger und interessierter an allem, was uns umgibt. Also: Je mehr glückliche Menschen es gibt, umso mehr Glück gibt es auf der Erde; das Ausmaß des Leidens und Unglücks vermindert sich mit jedem Stück erlebter Glückseligkeit und Freude. 

Mit sich zufriedene Menschen können mehr zur Weiterentwicklung der Menschheit für mehr Freiheit, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und geteilten Wohlstand beitragen, als an ihrer Gier, Angst und ihrem Hass leidenden Zeitgenossen. Denn die belastenden Gefühlsmuster werfen uns auf uns selber zurück, während die freudvollen Gefühle unsere Empathie und Hilfsbereitschaft steigern. 

Zum Weiterlesen:
Tiefe, eine Dimension des Menschlichen  
Durch Ambivalenzen wachsen
Das Mitgefühl zwischen Helfersyndrom und Gleichgültigkeit
Die Bescheidenheit als Überlebensnotwendigkeit

Dienstag, 1. Oktober 2019

Metamoderismus - eine Übersicht

Mit Metamoderismus wird eine Stufe der Gesellschaftsentwicklung bezeichnet, die nach der Moderne und Postmoderne erreicht wird.  der Begriff bedeutet so viel wie dass die Menschen durch die Moderne hindurchsehen können, als auch, dass sie über sie hinaus und jenseits von ihr blicken können.
Drei miteinander verschränkte Versionen des Begriffs Metamodernismus müssen berücksichtigt werden:

Eine kulturelle Phase

Die erste Bedeutung von Metamoderismus meint, dass es eine kulturelle Phase gibt, die sich als Zeitgeist durch alle Sphären der Kultur zieht, ähnlich wie in der Romantik oder Barockzeit. Es gab Zeitalter in der Geschichte, die von einer vorherrschenden Stimmung, Schwingung und kulturellen Logik geprägt waren, die auf die Umstände und Ereignisse der jeweiligen Zeit reagierten.

Eine Entwicklungsstufe

Mit diesem Ausdruck wird auf die Verortung des Metamoderismus in einer Entwicklungslogik Bezug genommen. Damit ist gemeint, dass  es qualitative Umschwünge zwischen den einzelnen Stufen gibt, wobei spätere Stufen auf den vorigen aufbauen, aber nicht umgekehrt. Damit weisen spätere Phasen einen höheren Komplexitätsgrad auf als frühere. Vergleichbar der menschlichen Entwicklung, bei der die Jugendzeit auf der Kindheit und den dort erworbenen Fähigkeiten aufbaut, beruhen die Fortschritte der Postmoderne auf den Errungenschaften der Moderne und nicht umgekehrt.

Ein philosophisches Paradigma

Unter einem Paradigma wird eine grundlegende Weltsicht verstanden, die eigene Formen von Wissenschaft, Politik, Ökonomie, Kultur und Selbstwissen umfasst, ähnlich wie die Aufklärung des 18. Jahrhunderts mit der liberalen Demokratie, dem Kapitalismus, der Person als Individuum und den modernen Wissenschaften verbunden war.

Um eine vage Idee der metamodernen Weltsicht zu bekommen, habe ich die langen Listen aus dem Anhang des Hanzi-Freinacht-Buches „The Listening Society“ übersetzt; jeder einzelner der Punkte müsste natürlich näher erläutert und diskutiert werden, und dazu dient eben das Buch. Also lieber Leser, liebe Leserin: Durchtauchen, ohne den Anspruch, alles und jedes zu verstehen, geschweigedenn für richtig oder gut zu befinden!

Die metamoderne Haltung zum Leben


·        Außerordentliche Ironie und Ernsthaftigkeit, zugleich
·        Extremer Idealismus und extremer Machiavellismus.
·        Gott ist tot und der Humanismus stirbt, d.h. die Bedeutungsgebung muss jeder selbst vornehmen.
·        Die intellektuelle Einsicht und das intuitive Spüren der inneren wechselseitigen Verbundenheit von allem: „Das Universum in einem Sandkorn“.
·        Die paradoxe, selbstwidersprüchliche, immer unvollkommene und gebrochene Natur der Gesellschaft, Kultur und der Wirklichkeit selbst zu akzeptieren und damit zu gedeihen.
·         Eine allgemeine Sowohl-als auch-Perspektive
o   sowohl die politische Linke als auch die politische Rechte
o   Sowohl historische Individuen als auch soziale Strukturen
o   Sowohl Verwaltung und Regierung von oben nach unten als auch von unten nach oben.
o   Sowohl objektive Wissenschaft als auch subjektive Erfahrung.
o   Sowohl Kooperation als auch Konkurrenz.
o   Sowohl extremer Säkularismus als auch ernsthafte Spiritualität.
·        Sowohl eine systematische Philosophie (wie Platon und die Naturwissenschaften) als auch eine prozessorientierte Philosophie mit offenem Ende (wie Nietzsche oder die kritischen Sozialwissenschaften)
·        Die Erkenntnis der Unbeständigkeit aller Dinge, dass das Leben und die Existenz immer im Fluss sind, ein Prozess des Werdens, der Emergenz, der Immanenz und des immerpräsenten Todes.
·        Die Sicht auf das normale bürgerliche Leben und seine assoziierte Normalität und professionelle Identität als ungenügende Manifestationen der Größe und Schönheit der Existenz.
·        Die Übernahme einer spielerischen Haltung zum Leben und zur Existenz, eine Leichtigkeit, die von uns die tiefste Ernsthaftigkeit erfordert, in Hinblick auf die stets verfügbaren Potenziale von unvorstellbarem Leiden und Glücklichsein.

Die metamoderne Sicht der Wissenschaft

  •  Die Anerkennung der Wissenschaft als unverzichtbare Form des Wissens.
  •  Die Sichtweise, dass die Wissenschaften immer kontextual und die Wahrheit immer vorläufig ist – dass die Wirklichkeit immer noch tiefere Wahrheiten beinhaltet.
  •  Das Verständnis, dass unterschiedliche Wissenschaften und Paradigmen gleichzeitig wahr sind; das viele ihrer Widersprüche oberflächlich sind und auf Fehlwahrnehmungen oder Übersetzungsfehlern beruhen.
  •  Die Erkenntnis, dass es grundlegende Einsichten und relevantes Wissen in allen Stufen der menschlichen Entwicklung gegeben hat, darunter das tribale Leben, der Vielgötterglaube, die traditionelle Theologie, die moderne Industrialisierung und die postmoderne Kritik.
  •  Die Verkörperung der Nichtlinearität in allen nichtmechanischen Zusammenhängen wie Gesellschaft und Kultur. Nichtlinearität heißt, dass sich der Output eines Systems nicht proportional zum Input verhält.
  •  Das Hochhalten einer fallsensitiven Skepsis gegen mechanische Modelle und lineare Kausalbeziehungen.
  •  Eine systemische Lebenssicht mit der Erkenntnis, dass alle Dinge Teil von selbstorganisierenden Systemen von unten nach oben sind: von subatomaren Einheiten zu Atompartikeln zu Molekülen zu Zellen zu Organismen.
  •  Die Einsicht, dass Dinge lebendig und selbstorganisierend sind, weil sie auseinanderfallen – dass das Leben immer ein Wirbelwind der Zerstörung ist: Der einzige Weg zur Erschaffung und Aufrechterhaltung eines geordneten Musters besteht darin, eine entsprechende Unordnung zu erschaffen. Das sind die Prinzipien der Autopoiesis: Entropie (Dinge zerfallen) und negative Entropie (das Auseinanderfallen macht das Leben möglich).
  •  Die Akzeptanz einer verbindenden, übergreifenden Weltsicht, die alle Menschen und andere Organismen haben, eine tolle Geschichte oder eine überragende Erzählung; deshalb die Akzeptanz der Notwendigkeit einer die ganze Welt übergreifenden Geschichte. Wer eine solche Geschichte erzählt, sollte das leicht halten, denn sie kann nie frei von Fiktion sein.
  •  Das Wichtignehmen von ontologischen Fragen, d.h. die Frage sollte in Wissenschaft und Politik leitend sein, „was wirklich wirklich ist.“

Die metamoderne Sicht der Wirklichkeit

  • Die Einsicht in die fraktale Natur der Wirklichkeit und der Entwicklung und Anwendung von Ideen, dass alles Verstehen darin besteht, dass wiederverwendete Elemente von anderen Formen des Verstehens übernommen werden.
  • Eine antiessentielle Position einnehmen: Kein Glaube an „ultimative Wesenheiten“ wie Materie, Bewusstsein, das Gute, das Böse, Männlichkeit, Weiblichkeit oder ähnliches – sondern dass all diese Themen kontextual sind und Interpretationen, die aus Beziehungen und Vergleichen bezogen werden.  Auch die vielgepriesene „Bezogenheit“ ist kein Wesen des Universums.
  • Die Aufgabe des Glaubens an ein atomistisches und mechanistisches Universum, in dem die letztliche Sache die Materie ist, sondern vielmehr die Sichtweise, dass die letztliche Natur der Realität eine große Unbekannte ist, die wir metaphorisch durch unsere Symbole, Wörter und Geschichten einfangen müssen. Darin kann die Welt so gesehen werden, dass sie wieder und wieder neu geboren wird.
  • Die Erkenntnis, dass die Welt radikal, unbeugsam und vollständig sozial konstruiert ist, immer relativ und kontextgebunden.
  • Die Erkenntnis, dass die Welt durch komplexe Interaktionen seiner Teile emergiert und dass unser intuitives Verstehen meistens viel zu statisch und monokausal abläuft. Diese Komplexität ist das fundamentale Prinzip nicht nur der Meteorologie, sondern auch der Sozialpsychologie.
  • Die Akzeptanz der Notwendigkeit von Entwicklungshierarchien – mit der kritischen Vorsicht in Bezug auf die Art der Beschreibung und Verwendung. Diese Hierarchien müssen empirisch studiert und nicht willkürlich vermutet werden.
  • Die Erkenntnis, dass die Sprache und damit all unsere Weltbilder durch einen viel größeren Raum von möglichen, nie konzeptualisierten Welten reisen; dass sich die Sprache entwickelt.
  • Die holistische Weltsicht, in der Dinge wie wissenschaftliche Fakten, Perspektiven, Kulturen und Emotionen interagieren.
  • Die Erkenntnis, dass Information und Informationsverarbeitung fundamental für alle Aspekte der Realität und der Gesellschaft ist: von den Genen zu Memen zu Geldsystemen, Wissenschaft und politischen Revolutionen.
  • Die Akzeptanz einer informationellen darwinistischen Sichtweise, bei der sowohl die Gene (Organismen) als auch die Memes (die Kulturmuster) um das Überleben in einem Prozess der Entwicklungsevolution konkurrieren, der die negative Auslese beinhaltet (dass schlechter angepasste Gene und Meme aussterben, aber als Möglichkeiten erhalten bleiben).
  • Die Erkenntnis, dass die darwinistische Evolution gleichermaßen von wechselseitiger Kooperation und Konkurrenz abhängt und beide immer miteinander verwoben sind.
  • Die Erkenntnis des dynamischen Wechselspiels zwischen dem Universalen und Partikularen, in dem z.B. Menschen in komplexeren Gesellschaften individualistischer werden, was wiederum zur Entwicklung von komplexeren Gesellschaften führt, in denen die Menschen unabhängiger werden und universellere Werte benötigt werden, um einen Zusammenbruch zu vermeiden.
  • Die Erkenntnis, dass die Welt nach einer dialektischen Logik funktioniert, in der die Dinge immer gebrochen sind, sozusagen  „nach hinten taumeln“; dass die Dinge immer nach einer unmöglichen Balance streben und dass zufällige Bewegungen den ganzen Tanz erschaffen, den wir die Realität nennen. Also verfügt die Entwicklung der Wirklichkeit über Direktionalität, doch wir sind immer blind für diese Richtung; von da kommt die Metapher des „Rückwärts-Taumelns“.
  • Die Erkenntnis, dass die Wirklichkeit grundlegend ein offenes Ende hat und sozusagen gebrochen ist, selbst in ihrer mathematischen und physikalischen Struktur, wie das Gödel in seinem Unvollständigkeitstheorem gezeigt hat und wie einige Schlüsselentdeckungen der modernen Physik belegen.
  • Die Anerkennung, dass Potenziale und Potenzialität die fundamentalste oder „realere“ Realität konstituieren, und weniger Fakten und Aktualitäten. Was wir üblicherweise als Realität bezeichnen, ist nur  „Aktualität“, ein Stückchen eines unendlich größeren, hyperkomplexen Kuchens. Aktualität ist nur ein „Fall von“ einer tieferen Realität, die die „absolute Totalität“ genannt wird.
  •  Das Erleben von Visionen von Panpsychismus, d.h. dass das Bewusstsein überall im Universum ist und dass es so real ist wie Materie und Raum. Aber Panpsychismus sollte nicht mit animistischen Visionen verwechselt werden, bei denen alle Dinge „Geister“ haben.

Metamoderne Spiritualität, Existenz und Ästhetik

  •  Das Ernstnehmen von existentiellen und spirituellen Sachen; die Sichtweise von Humanität, Intelligenz und Bewusstsein als Ausdrücken von höheren Prinzipien, die im Universum enthalten sind.
  •  Die Erkenntnis, dass sich esoterische, spirituelle Disziplinen und Weisheitstraditionen im Osten und Westen auf wirkliche Einsichten von großer Bedeutung beziehen – eine Anerkennung der Wichtigkeit von Mystizismus.
  •  Das Verfügen über einer sorgfältigen, unwissenden und explorativen Denkweise in Hinblick auf Spiritualität und Existenz.
  •  Das Verständnis, dass sich höhere, weitere subjektive Zustände auf höhere existentielle und spirituelle Wahrheiten beziehen als die meisten Erfahrungen des täglichen Lebens.
  •  Die Einsicht, dass die innere Erfahrung – und die direkte Entwicklung der Subjektivität von Organismen – zentral für alles ist, und das ist vielleicht die Hauptzutat, die in der Perspektive der modernen Welt fehlt; die Anerkennung der inneren Erfahrung ist oft der goldene Schlüssel zum Umgang mit sozialen Problemen.
  •  Das Ernstnehmen von philosophischen, kulturellen und ästhetischen Angelegenheiten, weil sie als inhärente Dimensionen der Realität angesehen werden.
  • Die Schaffung von Kunst und Architektur, die auf die Tiefe und das Geheimnis der Existenz anspielt, ohne zu offensichtlich zu sein oder mit Ratschlägen oder Wirklichkeitskonzepten zu kommen.
  • Die Unterstützung eine Spiritualität, die demokratisch, intersubjektiv, teilhabend, wissenschaftlich unterstützt und zweiseitig ist, anstelle von traditionellen Wegen, Lehrern, Gurus oder Autoritäten.
  • Die Erkenntnis, dass sowohl spirituelle als auch nichtspirituelle Lebenserfahrungen und Weltbilder grundsätzlich in Ordnung sind. Spiritualität und Nicht-Spiritualität: Keines von beiden ist in sich besser als das andere.
  • Das Verstehen, dass Menschen grundsätzlich verrückt sind, dass unser alltagsbewusstsein keine gesunde Reflexion der Wirklichkeit erlaubt, sondern eine bizarre, psychotische Halluzination darstellt, die äußerst relativ, erfunden und willkürlich ist.
  • Die Intuition, dass die zentrale spirituelle und existentielle Einsicht die Vollendung der absoluten Totalität darstellt, wie sie schon immer ist; dass es eine makellose, erhabene Klarheit unterhalb all des Chaos und der Widersprüchlichkeit gibt; dass es eine darunterliegende Eleganz sogar in den oft tragischen, höllenähnlichen Erfahrungen des Lebens gibt; versteckt im sozusagen auf dem Präsentierteller. Das kann als die Erkenntnis des grundlegenden Gutseins bezeichnet werden. 

Die metamoderne Sicht der Gesellschaft

  • Die Erkenntnis, dass es keinen fundamentalen Unterschied zwischen Natur und Kultur gibt.
  • Die Erkenntnis, dass wir in einer neuen Ära der Technologie leben (das Informationszeitalter) und dass sich die menschlichen Gesellschaften durch unterschiedliche Entwicklungsstufen zum Besseren oder Schlechteren weiter entfalten.
  • Der Glaube, dass die Geschichte eine Art von Gerichtetheit hat, die auf Logik beruht, dass aber diese Gerichtetheit nie sicher gewusst sein kann, sondern nur metaphorisch und als Geschichte – spielerisch und zweckvoll.
  • Der Glaube, dass wir das Wissen, das wir über die Gesellschaft haben, immer zu einer Art von darüber gespanntem Narrativ zusammenfügen können, eine Meta-Erzählung, aber dass diese Metaerzählung nie für eine komplette Synthese gehalten werden darf, sondern immer nur als notwendige Protosynthese, unter kritischer Beobachtung.
  • Das Einnehmen einer nomadischen Sichtweise des sozialen Lebens; das Wissen, dass unser „Selbst“ Teil eines sozialen Flusses ist, einer Reise – und dass wir im Internet-Zeitalter mit unseren virtuellen Identitäten tribaler und nomadischer werden.
  • Das Feiern der teilhabenden Kultur und der Ko-Kreation der Gesellschaft durch nichtlineare interaktive Prozesse, bei denen das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile.
  • Die Erkenntnis der Wichtigkeit von kollektiver Intelligenz (nicht zu verwechseln mit einem kollektiven Bewusstsein nach C.G. Jung; das gehört nicht zum metamodernen Paradigma). Kollektive Intelligenz ist die Fähigkeit einer Gruppe oder Gesellschaft, Probleme zu lösen und auf kollektive Herausforderungen zu reagieren.
  • Das Verständnis, dass Technologie nicht neutral ist, nicht nur ein „Werkzeug in unseren Händen“, sondern dass sie ihre eigenen Pläne und ihre eigene Logik entwickelt, die die Geschichte formt und steuert.
  • Die Erkenntnis, dass die Nachhaltigkeit und Resilienz eine Grundfrage allen sozialen Lebens ist.
  • Die Erkenntnis, dass die Sexualität und die sexuelle Entwicklung ein weitgehend übersehenes zentrales Stück im Mainstream-Verständnis aller menschlichen Gesellschaften darstellt. Die Sexualität hat eine besondere erklärende, verhaltenssteuernde und voraussagbare Kraft.
  • Die Erkenntnis, dass das „Alltagsleben“ etwas ist, das die Menschheit übersteigen kann und soll, zugunsten einer aktuelleren und authentischeren Lebensweise und Gemeinschaft.
  •  Das Ernstnehmen der Rechte und der Lebenserfahrung aller Tiere, der menschlichen wie der nichtmenschlichen. Die menschliche Gesellschaft ist nur eine kognitive Kategorie, und diese Kategorie kann genausogut alle Kulturen, alle tiefenökologischen Wesenheiten (Ökosysteme, Biotope) und alle fühlenden Wesen miteinschließen. 

Das metamoderne Menschenbild

  • Die Erkenntnis, dass die Menschen verhaltensgesteuerte organische „Roboter“ sind, kontrolliert von unseren Reaktionen auf die Umwelt, und dass wir zugleich subjektive, selbstorganisierende und lebendige Wesen mit großer existentieller Tiefe sind.
  •  Die Erkenntnis, dass meine Identität und mein „Selbst“ letztlich nicht mein Körper oder die Stimme, die aus meinem Kopf redet, sind; oder zumindest, dass meine grundlegende Identität nicht durch diese Alltagskonzeption von einem Selbst (mein Körper und die Stimme, die aus meinem Kopf redet), das, was manchmal als das „Ego“ bezeichnet wird, erschöpft ist. Das Ego ist nur eine Idee, ein Wahrnehmungsobjekt wie jede andere erfundene Kategorie, die ein Objekt bezeichnet.
  • Die Übernahme einer tiefenpsychologischen Haltung zur Menschheit, mit der Erkenntnis, dass ihr Bewusstsein transformierbar ist durch die Veränderung des fundamentalen Sinns von Selbst und von Realität. Das kann durch Psychoanalyse und Liebesbeziehungen genauso wie durch athletische, ästhetische, erotische, intellektuelle und spirituelle Übungen erreicht werden, wobei die kontemplative Mystik als besonders wertvoller Weg herausragt.
  •  Die Erkenntnis, dass jede Person eine dreidimensionale Sicht der Wirklichkeit hat, die aus einer Ontologie besteht (ein starker Sinn dafür, was wirklich ist), einer Ideologie (ein starker Sinn dafür, was richtig ist) und einem Selbst (ein starker Sinn für den eigenen Platz in der Wirklichkeit) – und dass diese drei Dimensionen als Muster beschrieben werden können, das sich reihenförmig in Entwicklungsstufen entfaltet.
  • Die Erkenntnis, dass sich verschiedene menschliche Organismen auf grundlegend unterschiedlichen Entwicklungsniveaus befinden und deshalb sehr verschiedene Verhaltensmuster aufweisen.
  •  Das Verständnis eines transpersonalen Menschenbildes, in dem die tiefsten inneren Tiefen intrinsisch mit den scheinbar starren Strukturen der Gesellschaft verknüpft sind. Das menschliche Wesen ist nicht individuell – seine tiefste Identität reicht durch und jenseits des Individuums, der Person. Die „Person“ ist nur eine Maske, eine Rolle, abhängig vom jeweiligen Kontext. Sie ist nicht im Individuum enthalten, selbst wenn der menschliche Organismus mit der Verhaltenswissenschaft beschrieben werden kann.
  • Die Erkenntnis, dass in einer transpersonalen Sichtweise die individuellen Leute für nichts beschuldigt werden können. Jeder Moralismus ist nutzlos. Das führt zu einem radikalen Akzeptieren der Leute wie sie sind; ein radikales Nicht-Urteilen, das auch als ziviles, unpersönliches und säkulares Angebot der Nächstenliebe beschrieben werden kann.
  • Die Erkenntnis, dass das menschliche Dividuum viele Schichten aufweist, dass es zugleich Tier, „Mensch“ mit einer Vielzahl von Rollen ist, mit höheren Potenzialen in ihm – und dass es durch Interaktionen solcher Schichten innerhalb verschiedener Menschen geboren wird. Daraus folgen einige wichtige Implikationen:

o   Die vielschichte Psyche hat zugleich unbewusste, bewusste und überbewusste Prozesse (wobei die überbewussten Prozesse höhere und subtilere Intelligenz wie universelle Liebe, philosophische Einsicht, tiefste künstlerische Inspiration usw. umfasst.)
o   Die höheren Schichten der Psyche folgen generelleren, abstrakteren und universelleren Logiken, während die tieferen Schichten gröberen, selbstbezogeneren und konkreteren Logiken folgen. Aber sie arbeiten gleichzeitig und interagieren miteinander.
o   Die vielschichtige Natur der dividuellen Seele besagt, dass wir oft die unbewussten und überbewussten Schichten aneinander wahrnehmen können; wir können oft andere besser verstehen als uns selbst. Deshalb sind Praktiken wie Psychoanalyse oder Psychiatrie möglich. Das heißt auch, dass meine Handlungsfähigkeit aus dir abstammen kann und umgekehrt.
o   Diese transpersonale Sichtweise behauptet, dass unsere Selbste und selbst unsere Körper nicht „abgesiegelt“ oder „autonom“ sind; wir entwickeln uns zusammen in einem großen vieldimensionalen Netzwerk. Dieses Netzwerk folgt einer Logik, die sich für unseren individuellen Denkprozess oft sehr fremd anfühlt.
  •  Das Anerkennen des nicht absprechbaren Rechts jeder Kreatur, zu sein, wer sie ist.
  •  Ein nichtanthropozentrisches Bild der Wirklichkeit, in dem die menschliche Erfahrung nicht als das Maß aller Dinge angesehen wird.
  •  Die Akzeptanz der Idee, dass sich die Biologie und grundlegende Lebenserfahrung durch Wissenschaft und Technologie ändern kann und wird, was als Transhumanismus bezeichnet wird.
  • Das Ausweiten der Solidarität zur nächstmöglichen Solidarität: Liebe und Fürsorge für alle fühlenden Wesen, zu allen Zeiten, aus allen Perspektiven, von der größtmöglichen Tiefe unseres Herzens.


Der Text stammt aus dem Buch: Hanzi Freinacht: The Listening Society. A Metamodern Guide to Politics. Book One. Metamoderna 2017, S. 361 - 370, Übersetzung mit leichten Kürzungen.

Hanzi Freinacht wurde von den schwedischen Wissenschaftlern Daniel Görtz und Emil Ejner Friis erfunden.