Wir sind Zeugen einer bemerkenswerten Erosion der öffentlichen Umgangsformen: Der Hass wird von einer versteckten, schambesetzten Emotion zum legitimen Ausdruck von Meinungsfreiheit umgewandelt. Es wird so getan, als wäre es ein grundlegendes Menschenrecht, den eigenen Hass in der Öffentlichkeit ungeschminkt kundzutun, und dass jede Kritik an Hassäußerungen selbst nur Hass verdient, weil damit die eigene Freiheit angegriffen wird.
Der Hass wird zunehmend von der Scham befreit, mit der er wegen seiner Sozialschädlichkeit belegt ist. Die Scham ist ja die Wächterin des sozialen Zusammenlebens, und Hass ist das wirksamste emotionale Gift, das diesen Zusammenhalt vernichten kann. Die Enthemmung, die vermutlich vor allem durch die neuen Möglichkeiten virtueller Kommunikation stattgefunden hat, hat offenbar dazu geführt, dass bei vielen Menschen unterdrückte Hassgefühle neue Ausdrucksformen gefunden haben, in denen die Scham unwirksam ist. Jeder kann unter einem Pseudonym oder einem Nicknamen alle hasserfüllten Gedanken und Gefühle in die Kommunikationsräume einspeisen, die ihm in den Sinn kommen oder auf dem Magen liegen. Es gibt kein reales Gegenüber, dessen Reaktion ein Schamgefühl auslösen könnte. Es ist also leicht, sich in virtuellen Welten schamlos zu bewegen.
Hass als Folge des Gehasstwerdens
Menschen sind nicht von sich aus hassende Wesen, vielmehr sind sie Wesen, die Liebe geben und empfangen wollen. Sie wissen, dass die Liebe der beste Garant für das eigene Überleben ist. Die eigene Hassbereitschaft hängt ab von dem Hass, der einem als Kind entgegengebracht wird. Hass, der einem Kind entgegengebracht wird – in Gefühlen oder in Worten –, erzeugt Hass in ihm, der sich in irgendeiner Form Ausdruck verleihen muss – als Selbsthass oder als Hass auf andere.
Erlittene Frustration legitimiert den Hass, der Hass legitimiert die Gewalt. Der Hass bildet die Schaltstelle, an der die hilflose Opferrolle in eine potenzielle Täterrolle übergeführt wird. Die Wut aus der Frustration wandelt sich in einen kalt berechnenden Vernichtungswillen, der sich jede Berechtigung zuerkennt, Gewalt gegen die Verursacher der Frustration anzuwenden.
Hassen zerstört Menschlichkeit
Jeder im Inneren erlebte Hass zerstört einen Teil der eigenen Menschlichkeit. Denn der Hassanteil schneidet sich von der Liebesfähigkeit und vom Mitgefühl ab. Er frisst sich in die Seele wie ein tiefdunkler Fleck, wie eine schwärende Entzündung hinein. Er erzeugt nichts als Verbitterung und Unglück. Er ist ein Verrat am eigenen Wesen.
Hassäußerungen in der Öffentlichkeit zerstören die Gesellschaft
Jeder nach außen getragene Hass, also jeder öffentlich geäußerte Hass macht um Vieles mehr kaputt. Er zielt auf die Menschlichkeit der Gemeinschaft und beschädigt den Zusammenhalt der Gesellschaft – eine Gesellschaft von sich hassenden Menschen ist keine Gesellschaft mehr, sondern ist schon in ihre Einzelteile zerfallen. Sich hassende Menschen haben voreinander eine Heidenangst, weil sie wissen, dass die anderen nach der eigenen Zerstörung trachten, wie sie selbst die Zerstörung der anderen anstreben. Der Mensch, der sich als des Menschen Wolf fühlt, ist zum Untergang verdammt, weil er irgendwann unter der Last seines Misstrauens, seiner Schamlosigkeit und Angst zusammenbricht. Hass macht nicht nur hässlich, sondern ist ein Akt der Selbstzerstörung.
Wer Hass sät, wird Hass ernten. Die menschlichen Beziehungen reagieren in der Regel reziprok. Wie man in den Wald ruft, so kommt es wieder heraus, sagt die Volksweisheit. Der einfachste Schutz vor dem Hass anderer ist es, selber zu hassen. Das ist die Logik des politischen Mordes: Wer Hass predigt, muss gehasst werden, und was gehasst wird, muss vernichtet werden.
Profiteure des Hasses
Politiker haben schon immer versucht, Hass zu schüren, um ihn für ihre Ziele nutzbar zu machen. Es gibt diese schamlosen Politiker auf allen Rändern des politischen Spektrums. In der jüngeren Geschichte sind sie aber vor allem in den rechten Ecken der politischen Landschaft vertreten und breiten sich von dort langsam, aber sicher in Richtung des Zentrums aus, in dem der Hass salonfähig gemacht wird. Dass sie damit an der Zerstörung der Gesellschaft arbeiten, ist ihnen insofern bewusst, weil sie „das System“, die „Eliten“ oder einen „deep state“ entmachten wollen. Sie wollen also das zerstören, von dem sie annehmen, dass es die Wurzel allen Übels ist. Sie merken aber nicht, dass sie durch die Radikalität des Hasses, den sie beständig verbreiten, die Gesellschaft selbst, in der sie ihre politischen Erfolge erreichen wollen, in ihren Grundlagen attackieren.
Kollektiver Wiederholungszwang
Es gibt genug historische Beispiele für diese destruktiven Dynamiken, von der französischen Revolution bis zum Stalinismus und Nationalsozialismus. Die hinter diesen Kräften steckenden psychologischen Mächte hindern viele Menschen, aus der Geschichte zu lernen und verdammen sie offensichtlich zu einem kollektiven Wiederholungszwang, zur erneuten Re-Inszenierung der eigenen Kindheitsdramen, nur mit der Verfügung über erwachsene Zerstörungsmitteln. Sie handeln aus einem blinden Glauben an die Macht der Vernichtung heraus, als deren Opfer sie sich fühlen. Die Konsequenz besteht in der nachhaltigen Schädigung der Gesellschaft, im schlimmen Fall verbunden mit der Vernichtung vieler individueller Leben, die dem Ausleben des Hasses geopfert werden.
Es scheint, als ob in vielen Ländern dieser Wiederholungszwang wirkt und viele Menschen mitreißt und damit auf eine Neuauflage von autoritären Regimen mit hoher Gewaltbereitschaft zusteuert. Immer unverblümter offenbart sich ein neuer Faschismus in den USA, und Nachahmer und Bewunderer gibt es in vielen europäischen Ländern, die hier die Demokratie untergraben wollen. Der Verbreitung von Hass ist dafür ein geeignetes Mittel.
Null Toleranz
Die Demokratien, die höchstentwickeltsten Regierungsformen, die die Menschheit hervorgebracht hat, können nur weiterbestehen, wenn die Äußerung und Verbreitung von Hass auf allen Ebenen eingedämmt und in einflussreichen Bereichen unterbunden wird, auch unter Einsatz von Strafen. Es muss die Aufklärung stattfinden, dass gezielter Hass die Fundamente der Gesellschaft untergräbt und damit jedes Mitglied dieser Gesellschaft schädigt. Wir brauchen eine Kultur des Umgangs, die frei von Hass ist und die jede Äußerung von Hass mit Scham und moralischer Verurteilung ahndet.
Zum Weiterlesen:
Hass, Zerstörung und Krieg
Hass im Internetzeitalter
Geschlossene Systeme und der inhärente Hass
Der Hass in der politischen Fixierung
Über den Ursprung des Bösen und des Hasses
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