Sonntag, 28. August 2022

Die Wohlstandsscham

Wir schämen uns nicht nur für Fehler und für Versagen, auch nicht nur dafür, dass wir im Vergleich mit anderen schlechter abschneiden, sondern auch dann, wenn wir es besser haben als andere. Die Scham wacht über die Intaktheit von Beziehungen und auch über die Fairness und Gerechtigkeit unter den Menschen. Wir brauchen das Gefühl, in einer ausgeglichenen Gesellschaft zu leben, in der niemand zu viel und niemand zu wenig hat. Wenn wir uns vergleichen, wollen wir nicht zu sehr aus der Reihe fallen, in der einen wie in der anderen Hinsicht. Die Scham liefert den feinen Sensor für das richtige Maß. 

Ideologien zur Schamverdrängung

In der Verfasstheit unserer Gesellschaft gibt es große Unterschiede im Wohlstand. Die Vermögens- und Einkommensschere zwischen arm und reich, die sich immer weiter öffnet, konnte nur entstehen, weil in Bezug auf das Verdienen von Geld und das Anhäufen von Reichtum nach und nach die Schamgrenzen abgeschwächt oder außer Kraft gesetzt wurden. Dazu diente Doktrin von den “Tüchtigen”, denen mehr vom Kuchen zustehen soll als den Untüchtigen, Faulen, Minderleistungsfähigen. Die Tüchtigkeit ist dabei zirkulär definiert: Tüchtig ist, wer im Rahmen der Marktabläufe Erfolg hat. Und wer tüchtig ist, hat Erfolg. Wer sich anderweitig anstrengt, z.B. in einem reproduktiven Bereich, in dem die Arbeit vom Markt schlechter honoriert wird, ist vielleicht auch fleißig, aber eben nicht tüchtig.  

Zu dieser Ideologie kam die protestantische Auffassung, dass Reichtum und Wohlstand Ausdruck richtiger Lebensführung und damit göttlicher Billigung wären. Wer mehr hat, ist von Gott gesegnet. Also bringe es zu Reichtum, dann bist du unter den Auerwählten und gut abgesichert fürs Jenseits. Wenn es um dich herum Leute gibt, die es nicht geschafft haben, braucht dich das nicht zu bekümmern. Dafür ist eine übergeordnete Weisheit zuständig, die du nicht verstehen kannst und brauchst. 

Mit solchen Ideologien wird die Scham entmachtet, die das Anhäufen von Reichtum angesichts von Armut mit einem schlechten Gefühl quittiert und dazu motiviert, für einen Ausgleich zu sorgen. Diese Umwertung gilt als eine der Faktoren, die zur Entfesselung des kapitalistischen Systems beigetragen haben. Folglich beruht dieses Wirtschaftssystem im emotionalen Kern auf Unverschämtheit. 

Aus diesen Gründen ist diese spezielle Schamsensibilität nicht bei allen Menschen gleichermaßen ausgebildet oder korrumpiert. Manchmal wird sie lächerlich gemacht, wenn sie jemand äußert, weil sie an die eigenen Überzeugungen appelliert und einen inneren Konflikt erzeugt. Schamformen, die als besonders unangenehm erlebt werden, gehen mit besonders raffinierten Abwehrformen einher. Auf der rationalen Ebene hat sich ein weitgefächerter Propagandaapparat des Neoliberalismus entwickelt, der vor allem der Schamverdrängung dient und von Teilen der Wissenschaft ebenso verbreitet wird, wie von Politikern und natürlich Wirtschaftstreibenden. Er erzeugt eine spezielle Form des Zynismus, der für Kapitalisten und für politische Vertreter des kapitalistischen Wirtschaftssystems typisch ist und zu dem auch die Verspottung der “Gutmenschen” gehört. 

Die Resistenz in der Kunst

Die Kunst hat sich übrigens erstaunlich resistent gegen die Mechanismen dieser Schamverdrängung erwiesen. Das neoliberale Gedankengut ist eher Gegenstand der künstlerischen Analyse, Kritik und Umdeutung. Eine Rolle der Kunst besteht in der in die Sinne übersetzten Ideologiekritik. Das mag damit zusammenhängen, dass es im Rahmen der Kunstproduktion sehr unwahrscheinlich ist und nur selten vorkommt, dass es ein Künstler oder eine Künstlerin zu Reichtum bringt. Doch würde sich die Kunst selbst verkaufen und wertlos werden, wenn sie einer Ideologie nachfolgt. Von Diktaturen erwünschte Kunst hat nur wertlose Belanglosigkeiten hervorgebracht. Wir können sogar starke und schwache Kunst dadurch unterscheiden, dass sich die eine mit Scham konstruktiv auseinandersetzt und die andere sie verdrängt.

Individuelle Großzügigkeit

Es ist andererseits diese Schamform, die einzelne Millionäre dazu motiviert, nach mehr Einkommens- und Vermögenssteuer zu rufen. Andere Reiche und Superreiche engagieren sich für besonders Arme, für die Bekämpfung von Hunger oder Seuchen oder für den Ausbau der Bildung in armen Regionen. Viele, die über durchschnittliche Einkommen verfügen, spenden an Notleidende. Sie bilden die rühmlichen Ausnahmen, die sich selbst und damit auch ihren Kolleginnen und Kollegen den Spiegel vorhalten.  Sie tragen allerdings nichts dazu bei, dass das gesellschaftliche Skandalon der Ungleichheit bestehen bleibt.

Steigender Reichtum und steigende Schamverdrängung

Sozialpsychologische Experimente haben sogar nachgewiesen, dass die Bereitschaft zum Teilen steigt, je weniger jemand hat. Es gibt viele Beobachtungen darüber, dass die Gastfreundschaft bei ärmeren Menschen stärker ausgeprägt ist als bei wohlhabenderen.  

Es scheint also so zu sein, dass mit dem Reicherwerden die Schamverdrängung stärker wird oder stärker werden muss. Wer mehr hat als die anderen, muss sich rechtfertigen. Wer aber seinen Reichtum vor der Öffentlichkeit versteckt und anonymisiert, kann sich effektiv vor diesem unangenehmen Rechtfertigungsdruck schützen. 

Die Anonymisierung, die auch durch die Entwicklung des Kapitalismus in Gang gesetzt wurde, ist ein weiteres Hilfsmittel, um sich vor der Wohlstandsscham zu schützen. Niemand anderer kennt den eigenen Vermögensstand, niemand erfährt, ob man spendet oder nicht, ob man bei keiner Charity mitmacht oder nicht. Außerdem kennt man niemand persönlich, der Not leidet und hält sich auch nicht in Gegenden auf, wo solche Menschen sichtbar sind. In den eigenen abgeschlossenen Clubs und abgeriegelten Villen kann man über alles Mögliche locker plaudern und muss sich nicht um die Verbesserung der Welt bemühen. 

Die Unabdingbarkeit des sozialen Ausgleichs

Die Wohlstandsscham jedoch verschwindet nicht durch einzelne und kollektive Verdrängungsbemühungen. Sie wirkt wie ein Stachel im Gefüge der Gesellschaft und motiviert immer wieder Menschen, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzen. Sie wird erst dann eine Ruhe geben, wenn dieser gesellschaftliche Ausgleich vollzogen ist. Denn ohne politische Entscheidungen und Gesetze gibt es keinen verlässlichen Rahmen für diesen Ausgleich – Wohltätigkeit, die auf individueller Großzügigkeit beruht, ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein und löst die Schamspannung nicht. Diejenigen, die in der Gesellschaft schlechter gestellt sind und weniger vom Kuchen abbekommen, brauchen einen Anspruch auf Ausgleich und nicht ein Füllhorn von individuellen Spenden, die gegeben und genauso gut verweigert werden können.

Reichtum ist kein Verdienst

In einem weiteren Sinn macht die Wohlstandsscham darauf aufmerksam, dass Wohlstand und Reichtum nur zum geringen Teil auf Verdienst und Leistung beruht. Die meisten reichen Menschen haben gar nichts zu ihrem Reichtum getan, sondern haben ihn einfach geerbt. Die „Leistung“ besteht also darin, in die richtige Familie geboren zu sein. Aber auch Faktoren wie Leistungsbereitschaft, Motivation, Erfindungsgabe, Fleiß oder Führungsstärke, die zum Erwerb von Reichtum führen können, sind kein Verdienst. Sie wurden entweder in die Wiege gelegt oder durch günstige Umstände im Aufwachsen gefördert. Die Scham macht uns darauf aufmerksam, dass wir uns letztlich überhaupt keine Verdienste gutschreiben können, sondern einzig und allein dankbar sein sollten, für das, was wir erhalten haben. Diese Dankbarkeit bewahrt uns vor jedem Hochmut, der sich allzu einfach mit Reichtum verbindet. Mit dieser Haltung brauchen wir keine Ideologien, um die Schamspannung zu verdrängen.

 


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