Auf der internationalen Atemkonferenz vor ein paar Wochen haben auch Ukrainer und Ukrainerinnen teilgenommen. Einige von ihnen haben berichtet, dass sie sich schämen, hier zu sein, umgeben von Freunden in einer fröhlichen und liebevollen Atmosphäre, während die Freunde und Angehörigen zuhause unter dem Krieg zu leiden haben. Sie schämten sich dafür, dass es ihnen hier gutginge, während in der Heimat so viel Leid herrscht.
Wenn es in einer Gemeinschaft vielen schlecht geht, entsteht bei jenen, denen es gut geht, ein Schamgefühl. Es ist die Empfindung, dass es einem nicht gut gehen darf, wenn andere leiden, so, als würde man sich von ihnen und ihrem Schicksal abschneiden, wenn man nicht gleichermaßen leidet. Das Gutgehen steht einem nicht zu, wo es doch den anderen so schlecht geht. Die Scham signalisiert jedes Ungleichgewicht im sozialen Netzwerk. Wie bei der Wohlstandsscham, bei der es um ein Mehr im materiellen Besitz geht, wird bei der Wohlfühlscham die eigene Besserstellung im Gefühlsbereich als ungerechtfertigt erlebt.
Überidentifikation
Eine Komponente dieser Scham besteht in der Meinung, dass die leidende Person noch zusätzlich belastet wird, wenn sie merkt, dass man selber glücklich ist. Also will man sie vor dem eigenen Glücksgefühl schützen, damit sie das nicht weiter nach unten zieht. Als Folge schwindet das eigene Wohlfühlen und macht der Scham Platz.
Diese Schamform kann so weit gehen, dass man sich jedes Wohlgefühl verbietet, weil es doch irgendwo gerade jemanden gibt, der leidet. Wie kann es Freude geben, wenn anderswo Leid herrscht? Das Mitgefühl nimmt überhand und kommt nicht zur Ruhe, solange nicht alle glücklich sind. Diese Haltung scheint von grenzenloser Menschlichkeit getragen; angesichts ihrer praktischen Machtlosigkeit in Bezug auf die Milliarden von Leidenden auf dieser Erde leidet sie selber an Überidentifikation und mangelndem Realitätssinn. Das Mitgefühl verliert sich im Allgemeinen, während es in der Wirklichkeit nur auf konkrete Menschen angewendet Sinn macht
Die Wohlfühlschamform tritt z.B. bei Flüchtlingen und Migranten auf, die es in ein Land geschafft haben, in dem es ihnen besser geht als denjenigen, die sie im Heimatland zurückgelassen haben. Sie sind in Sicherheit, während die Angehörigen von Bürgerkrieg oder Verfolgung bedroht sind. Sie können aber ihr besseres Leben nicht genießen, weil sie am Leid und an der Angst ihrer Familienmitglieder und Freunde leiden.
Doch spielt diese Schamform auch in bevorzugten Lebenszusammenhängen eine wichtige Rolle. Wer in einem westlichen Land in einer mittleren Schicht geboren wurde, befindet sich schon, weltweit betrachtet, in einer privilegierten Situation, was den Zugang zu Ressourcen verschiedenster Art anbetrifft. Diese Besserstellung wird jungen Menschen schamvoll bewusst, sobald sie erkennen, wie weit das Elend auf der Welt verbreitet ist und wieviel Mangel dort in der Deckung der einfachsten Grundbedürfnisse besteht. Oft führt diese Einsicht zum Engagement für Randgruppen, Notleidende oder auch für die missachtete Natur.
Mitleid vermehrt das Leid, Mitgefühl verringert es.
Natürlich haben die Leidenden nichts davon, wenn sich andere Menschen für ihr Nicht-Leiden schämen. Das Mit-Leiden verstärkt das Leiden – statt einem leiden zwei; das Mitgefühl stärkt und hilft mit, das Leiden besser zu ertragen. Das Mit-Leiden enthält, spirituell betrachtet, eine Anmaßung: Die Verweigerung, das Gute, das einem geschenkt wurde und wird, in Demut anzunehmen und aus ihm heraus Gutes weiterzugeben.
Das Beste aus dem eigenen Leben zu machen
Der Ausweg aus der Wohlfühlscham besteht in der Einsicht, dass die eigene Lebenssituation dazu da ist, um das Beste daraus zu machen. Je besser man sich fühlt, desto mehr kann man beitragen und anderen geben. Es verbessert das Los derer, die es schlechter haben, um keinen Deut, wenn man sich selber schlechter fühlt. Das Annehmen des eigenen Schicksals beinhaltet auch das Annehmen der guten Seiten, die mit Dankbarkeit quittiert werden können. Bessergestellt zu sein ist dazu da, aus diesen Vorteilen den Nutzen zu ziehen, der für die Allgemeinheit die bestmöglichen Folgen hat. Unser Wohlgefühl macht uns kreativ, konstruktiv und produktiv, mit ihm können wir anderen das Leben leichter machen und ihnen den Mut und die Kraft geben, ihr Schicksal zu tragen.
Zum Weiterlesen:
Die Wohlstandsscham
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