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Dienstag, 25. September 2018

Flexibilität und Ego-Entmachtung

 Wenn wir alles einfach geschehen lassen, wie es von selber geschieht, könnte passieren, dass wir in unseren Gewohnheiten festhängen bleiben. Gewohnheiten bilden wir uns aus, um uns das Leben leichter zu machen und die Risiken von Überraschungen und Neuanfängen zu vermeiden. Wenn wir uns in der Flexibilität schulen wollen, geht es gerade darum, Neues auszuprobieren und Routineabläufe zu verändern. Wir greifen in den Vorgang einer Gewohnheit ein und machen es auf eine neue Weise. Wenn wir eine Gewohnheit beim Zähneputzen haben, putzen wir mal andersherum. Wenn wir in der Suppe rühren, stellen wir uns auf ein Bein oder fangen an, mit dem Becken zu kreisen. Wir spazieren am Gehsteig und flechten tänzelnde Beinbewegungen ein, usw. Wir machen also eine Musterunterbrechung, wie sie auch aus verschiedenen Therapierichtungen bekannt ist. Das Muster wird erkannt, in seinem Ablauf aufgehalten, und eine neue Handlungskette wird in Gang gesetzt, die durch das Vorige nicht festgelegt ist. Wir werden unvorhersehbar und unberechenbar, für andere und für uns selber.  

Dazu braucht es offensichtlich Bewusstheit und Entscheidung: Was läuft gerade ab und was möchte ich stattdessen? Ich mache mir bewusst, was gerade geschieht und lasse mir etwas Neues einfallen. Dann setze ich die Neuigkeit in eine Handlung um, indem ich mich dafür entscheide und diese Entscheidung umsetze. 

Musterhafte Gewohnheiten geschehen einfach, ohne unser Zutun, ohne unsere bewusste Beteiligung. Sie sind also ein gutes Beispiel für die Unnotwendigkeit eines freien Willens. Wir bilden solche Gewohnheiten nachgerade zu diesem Zweck aus, dass sie uns von Willensentscheidungen entlasten. So müssen wir uns nicht jeden Tag überlegen, auf welche Weise wir eine Orange schälen oder die Schuhbänder knöpfen. Die Schulung der Flexibilität hingen scheint einen freien Willen vorauszusetzen. Wie sonst könnten Gewohnheiten unterbrochen werden? Es muss da gewissermaßen eine äußere Instanz geben, die in solche vorgegebenen Abläufe eingreifen kann, um sie zu unterbrechen und umzugestalten. 

Natürlich ist diese äußere Instanz eine innere, und sie hat, wie alle Entscheidungs- und Handlungsabläufe, einen Hintergrund. Von vorne betrachtet, gehen wir davon aus, dass wir frei handeln, gerade dann, wenn wir aus einer Gewohnheit aussteigen und etwas Neues, vorher nicht Dagewesenes beginnen. Wenn wir dahinter schauen, fragen wir uns, woher die Impulse kommen, die uns auf Gewohnheiten aufmerksam machen und uns dazu motivieren, bewusste Änderungen vorzunehmen. Wir könnten sagen, dass diese Impulse aus unserem Willen kommen. Wer oder was aber wäre denn dieser Wille? Ein kleines Männchen in uns, das seine Befehle formuliert und als Befehle an die Körperperipherie weitergibt? Woher nimmt denn dieses Männchen seine Ideen? Vielleicht enthält das Männchen ein noch kleineres Männchen, das sich dauernd neue Ideen einfallen lässt? 

Daraus können wir ersehen, dass wir in eine theoretisch unendliche Kette gelangen, wenn wir nach einem Urheber unserer Handlungen fragen. Also befinden wir uns in einem Gedankenexperiment, das kein Fundament in der Sache, in der äußeren Wirklichkeit hat und deshalb auch keine Wirkungen auf die Außenwelt haben kann, sprich für unsere Handlungen irrelevant ist.  

Flexibles Handeln als Meta-Gewohnheit


Was geschieht also, wenn wir unsere Handlungsmuster bewusst und intentional ändern? Wir balancieren auf einem Bein, während wir auf die U-Bahn warten, etwas, was wir vorher noch nie gemacht haben. Es gibt also dafür keine Handlungsroutine in uns, und deshalb nehmen wir an, dass wir gerade eine freie Willensentscheidung getroffen haben. Allerdings gründet diese Annahme auf keinem Sachverhalt, sondern nur auf einem subjektiven „Gefühl“ oder einer inneren „Gewissheit“. Denn wenn wir in uns nachschauen, was uns zu der neuen Aktion gebracht hat, werden wir eben nichts vorfinden, sondern ins Leere forschen. Und das ist die Gewohnheit, die dahinter steckt: Diese Leere füllen wir einfach mit dem Konzept eines freien Willens – ein abstrakter Begriff für ein Nichtwissen, und es ist dieser Begriff, der  uns dann das „Gefühl“ oder die „Gewissheit“ gibt, dass „wir“ es sind, die unser Leben lenken und bestimmen.  

Wir steigern unsere Flexibilität und damit unsere Unabhängigkeit von eingeprägten Gewohnheiten und unnützen Verhaltensschablonen, weil die Impulse dazu in uns entstanden und gewachsen sind und nicht, weil wir sie erschaffen haben. Mit der Pflege unserer Flexibilität erwerben wir eine Meta-Gewohnheit, die unser Leben abwechslungsreicher und kreativer gestaltet. Künstler oder schlagfertige Kommunikatoren sind Menschen, die über solche Meta-Gewohnheiten verfügen. Flexibilität besteht ja darin, dass spontane Ideen in uns aufsteigen, die wir dann einfach umsetzen  oder: die sich in uns umsetzen –, ohne Dazwischenschaltung einer abwägenden Entscheidungsinstanz, also ohne Notwendigkeit für einen freien Willen. 

Subtile Ego-Entmachtung


Auf diese Weise lässt sich die Idee des Lernens und der inneren Weiterentwicklung mit dem Konzept der Freiheit von der Willensfreiheit vereinbaren. Lernen geschieht, und jeder Lernschritt eröffnet neue Möglichkeiten und vergrößert damit den Spielraum für Flexibilität. Als Folge der Erweiterung dieser Spiel-Räume, in denen eben das Tun ins Spielen hinübergleitet, geschieht immer mehr Geschehen, und geplantes, von Entscheidungen initiiertes Handeln wird zunehmend überflüssig. So entpuppt sich die Entwicklung der Flexibilität als ein subtiler Weg zur Entmachtung des Egos. 

Donnerstag, 28. Juni 2018

Von Enttäuschungen zu Überraschungen

Mit Erwartungen strukturieren wir in unserer Innenwelt unsere Zukunft. Wir planen und visualisieren die kommenden Ereignisse am Morgen eines Tages. Wir betrachten den Terminkalender und sehen die eingetragenen Ereignisse, während wir uns vorstellen, wie sie ablaufen werden. Wir haben ganze Bilderbücher in unserem Kopf, in denen aufgezeichnet ist, was unsere Zukunft mit uns vorhat, vorhaben könnte oder vorhaben sollte.  

Natürlich repräsentieren all diese Bilder und Gedanken nicht die Wirklichkeit, sondern sind Produkte unserer Imagination, gespeist aus früheren und älteren Erfahrungen. Die Wirklichkeit ist nur im Jetzt, in diesem Moment. Unsere Imaginationen dienen unserer Handlungsorientierung und sollen uns die Sicherheit geben, dass die Zukunft unserer Kontrolle unterliegt. Wir wollen gefasst sein auf das, was vor uns liegt. Mit diesem Vorwissen können wir uns gut vorbereiten, sodass alles gut gehen wird – soweit es in unserer Macht liegt, soweit wir es kontrollieren können. 

Und diese Macht ist bekanntlich sehr begrenzt. Häufig stoßen wir an diese Grenzen; je mehr Erwartungen an die Zukunft wir haben, desto häufiger. Die Wirklichkeit hat anderes mit uns vor als wir geplant hätten. Ein Termin platzt, ein anderer geht sich wegen Verkehrsproblemen nicht aus, ein dritter verläuft ganz unvorhersehbar… 

Wir können aus der Wirklichkeit dieses Moments nicht zwingend auf die Wirklichkeit des nächsten Moments schließen. In sehr sehr vielen Fällen passiert, was passieren soll: Wir drücken auf eine Taste, und der gewünschte Buchstabe erscheint am Bildschirm. Meist sind unsere Prognosen und intuitiven Annahmen korrekt, meist funktioniert das Leben entsprechend unserer Planungen. Wir leben in einer Welt, die in hohem Maß berechenbar ist, soviele Sicherheiten haben wir bereits eingebaut. 

Es scheint allerdings unsere Grundunsicherheiten nicht zu vermindern, wenn all die technischen Geräte um uns herum fast immer funktionieren wie sie sollten, wenn sich Autofahrer an die Fahrregeln halten und Verkehrsmittel ohne gröbere Verspätungen unterwegs sind, wenn der Wetterbericht in vielen Fällen akkurat ist, wenn wir uns im Krankheitsfall auf ärztliche Hilfe verlassen können usw. Selbst wenn in diesem so engmaschigen Netz der Absicherungen, in dem wir leben (im Vergleich zu Menschen außerhalb der Komfort- und Luxuszonen dieser Welt), Unerwartetes passiert, reagieren wir mit einer Palette an Schutzgefühlen: Verunsicherung, Irritation, Ärger, Enttäuschung – Ausdruck von Ängsten, die mit dem Kontrollverlust zusammenhängen.  


Die Enttäuschung und der Opferkontext 


Die verlässliche Partnerin der Erwartung ist die Enttäuschung. Sie bleibt unsichtbar, solange alles nach Plan läuft. Und sie meldet sich prompt, wenn sich die Erwartung nicht erfüllt. Die Ent-Täuschung macht uns auf die Täuschung aufmerksam, die darin liegt zu vermeinen, dass wir mit unserem Denken die Zukunft kontrollieren könnten. Tatsächlich geraten wir in eine Opferhaltung gegenüber der Wirklichkeit, wenn wir der Enttäuschung unterliegen. Die Welt (=die anderen Menschen, die Umstände, die Politiker …) meint es nicht gut mit uns, sonst würde sie uns nicht so enttäuschen. Wir tun so, als wären unsere Erwartungen von der Realität ignoriert und abgewiesen worden, nach dem Motto: Wenn so ein Unglück passiert, kann das Leben nur gegen uns sein. Wir haben Pech und müssen nun damit hadern, sprich einen sinnlosen Kampf gegen das führen, was ohnehin schon geschehen ist. 

Von der Enttäuschung zur Überraschung 


Aus dem Opferkontext kommen wir heraus, wenn wir erkennen, dass wir diesen Kampf nicht gewinnen können. Folgen wir Wilhelm Busch: "Stets findet Überraschung statt – da, wo man’s nicht erwartet hat." Sobald wir wieder Verantwortung für unser Leben übernehmen, können wir die Enttäuschung in eine Überraschung übersetzen. Durch diesen Schritt öffnen wir den engen Gefühlshorizont der negativen Gefühle, die mit der Enttäuschung einhergehen. Überraschungen können angenehm oder unangenehm sein. Wenn uns das Angenehme an der nichterfüllten Erwartung auffällt, sind wir keine Opfer mehr, sondern können aus dem positiven Gefühl heraus handeln.  
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Hier zeigt uns das Märchen vom Froschkönig, worum es geht. Die Prinzessin ist enttäuscht vom Aussehen des Frosches, doch sie überwindet ihre Angst vor dem Küssen des hässlichen Mauls, und aus diesem Ekelgefühl erwächst eine Überraschung, als plötzlich der wunderschöne Prinz vor ihr steht. Wir müssen eine unangenehme Schwelle überwinden, dann erleben wir eine Überraschung. 

Von unangenehmen Überraschungen zu Herausforderungen 


Erleben wir die Überraschung als unangenehm, braucht es einen weiteren Schritt, um den Opferrahmen zu überwinden. Wir erleben Überraschungen als unliebsam, wenn wir nicht mit ihnen zurechtkommen oder das zumindest glauben. Es sind im Grund unvorhergesehene und ungeplante Herausforderungen, die uns vor neue Situationen stellen, für die wir noch keine Strategien entwickelt haben oder die uns so unbekannt und fremd erscheinen, dass wir meinen, wir könnten damit nicht zurechtkommen. Das Widrige an solchen Erfahrungen dreht sich, sobald wir erkannt haben, dass es da Neues zu lernen gibt. Wenn wir die Überraschung als Herausforderung anpacken, wachsen wir, indem sich unsere Möglichkeiten erweitern und neue Kompetenzen entstehen. Eine unangenehme Überraschung in eine Herausforderung umzumünzen, ist nicht immer leicht, aber immer mobilisiert ein solcher Schritt unsere Handlungsfähigkeit und Kreativität. 

In diesem Sinn können wir es sogar begrüßen, wenn sich unsere Erwartungen nicht erfüllen: Es bieten sich unverhoffte, unerwartete Chancen zum Lernen. Vielleicht zeigt sich zunächst wieder die Enttäuschung. Sie ist ja die Partnerin der Erwartung. Sobald uns jedoch einfällt, dass wir aus jeder Enttäuschung eine Überraschung machen können, entkommen wir der Opferrolle und übernehmen Verantwortung. Damit verlieren auch unangenehme Überraschungen ihren Schrecken, denn sie werden plötzlich spannende Herausforderungen zum Entdecken neuer Strategien und zum Mobilisieren von ungeahnten Energien. 

Mit der Zeit und mit der Übung wird sich dieser Zyklus beschleunigen: Die Phasen der Enttäuschung werden kürzer und der Punkt, an dem die Wendung zum Angehen der Herausforderung passiert, kommt rascher. Zusätzlich werden wir Erwartungen schneller als solche erkennen und ihnen weniger Gewicht in unserer inneren Landschaft einräumen. So erlernen wir die Metakompetenz im Umgehen mit Erwartungen und deren grundsätzlich unvermeidliche Frustrationen. Und auf diese Weise wächst unsere Gelassenheit und Akzeptanz gegenüber den Wechselfällen des Lebens. 

Leben mit Überraschungen 


Die Intention, mit der Bereitschaft und Offenheit für Überraschungen zu leben, verzichtet auf das angstgesteuerte Bedürfnis nach Kontrolle. Überall, wo sich dieses Bedürfnis zurückzieht, macht es Platz für mehr Freiheit. Es sind dann nicht mehr die in eine grundsätzlich unsichere Zukunft gerichteten Erwartungen, die die Fäden durch unser Leben ziehen und unser Innenleben strukturieren, sondern die Fokussierung auf den Moment und die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben. 

Überraschungen bieten Gelegenheit zum Lernen und Wachsen. Sie stellen Herausforderungen dar, zumindest an unsere Flexibilität, Spontaneität und Improvisationsfähigkeit. Je mehr wir das Leben nicht als vorgebahnte Folge von erwartbaren und berechenbaren Ereignissen sehen, sondern als Sprung von einem Moment zum nächsten, bei dem wir auf einem neuen Punkt landen, den wir erst erkunden müssen und in dem ganz neue Elemente entdeckt werden können. 

Montag, 2. April 2018

Faszinierende Faszien

„Wir  sind tatsächlich ein Netz von Fasern, und das zieht sich von der Oberfläche der Haut bis in die Tiefen des losen Bindegewebes und der Zellen. Alles ist durch eine Struktur von extrem flexiblen Fasern miteinander verbunden. Es gibt keine freien Räume, alles hängt zusammen.“ (Jean-Claude Guimberteau, französischer Handchirurg)

Wenn es um Bewegung und Muskeln geht, kommt schnell die Rede auf die Faszien. Was früher als Bindegewebe bezeichnet wurde, nennt man jetzt immer mehr Faszie. Wie wichtig die Faszien sind, zeigt schon die Tatsache, dass sie 20% unserer Körpermasse ausmachen. Sie befinden sich in der Zwischenzellflüssigkeit, die alle Zellen umgibt. Von dieser Flüssigkeit haben wir übrigens fast doppelt so viel wie an Blut. Zusammenlaufende Faszien bilden die Sehnen, mit denen Muskeln an den Knochen befestigt sind. Faszienzüge, die Zusammenballungen von einzelnen Faszienfäden, stehen untereinander in Verbindung. So könnte man sagen, dass es nur eine einzige Faszie gibt, die mit ihren Verzweigungen den gesamten Körper durchzieht. Die Bedeutung der Faszie(n) für die Stabilität des Körpers zeigt sich daran, dass der menschliche Körper aufrecht stehen bleiben würde, wenn man die Muskeln entfernte und die Faszien behielte, nicht jedoch, wenn die Faszien selbst fehlen.

Damit entstehen neue Vorstellungen vom menschlichen Körper: Abgesehen von den Muskeln, die zumeist nur in ihrer Funktion betrachtet werden, gibt es fasziale Linien, die z.B. vom Kopf zum Fuß und von der linken zur rechten Hand führen. Es ist also nicht so, dass die Muskeln die Knochen bewegen. Ohne Faszien, die die neuronalen Bewegungsimpulse koordinieren, gäbe es keine Bewegungen.

Drei Faszienschichten


Es werden drei Schichten der Faszien unterschieden: Die oberflächlichen (sie befinden sich v.a. im Unterhautgewebe), die tiefen (sie durchdringen und umschließen Muskeln, Organe, Nervenbahnen und Blutgefäße) und die viszeralen (sie dienen der Aufhängung der Organe, z.B. die Pleura bei der Lunge). Auch das Gehirn ist von den Faszien geschützt; die Gehirnhäute weisen die gleichen Charakteristika auf wie andere Teile des Bindegewebes. Da ein beträchtlicher Teil der Bindegewebszellen der oberflächlichen Schicht miteinander Kontakt hat, vermutet man auch, dass diese Schicht als ein körperweites nicht-nervliches Kommunikationsnetzwerk dienen könnte.

Bewegungen als Architekten der Faszien


„Wenn wir Muskeln anspannen, um eine Bewegung einzuleiten, dann bewegen wir immer sowohl die direkt mit der Kraftübertragung beschäftigte Faszie als auch die nur indirekt beteiligten Faszienteile automatisch mit.“ (Bracht&Liebscher-Bracht, 31) Dies gilt auch für Bewegungen, die passiv durch äußere Kräfte ausgelöst werden. Bewegungen werden über das Informationsnetz der Faszien weiträumig im Körper  übertragen.

Faszien bilden die Gewohnheiten der Muskeln ab: „So wie die Muskeln die Faszien in Bewegung versetzen, so bilden sie sich aus“ (Bracht&Liebscher-Bracht, 49). Die Baumeister der Faszie sind die Fibroblasten: Das sind Zellen, die Fäden spinnen, dreidimensionale Netze bilden und verdichten und die Struktur des Netzes verändern. Der Architekt, der vorgibt, wie sich die Fibroblasten verhalten, ist die Bewegung selbst. Bereiche im Körper, in denen wenig oder gar keine Bewegungen stattfinden, verfügen über schlecht ausgebildete und eingeschränkte Faszien. Sie sind verkürzt und „verfilzt“, können also ihre optimale Struktur nicht ausbilden, weil die entsprechenden Bewegungsanreize fehlen. Damit wird das Fasziennetz in diesem Bereich unflexibel und reißanfällig.

Die Faszien setzen sich zusammen aus den Fibroblasten, den Faszienzellen und der sie umgebenden Matrix. Die Fibroblasten stellen die Kollagenfasern her, aus denen die  Matrix besteht. Dieses Kollagen bewirkt z.B., dass sich die Wunde nach einer Schnittverletzung schließt. Bei Bewegungsmangel wuchern diese Strukturen und verlieren ihre Funktion. Bewegung ist also notwendig, um die Faszien funktionsfähig zu halten. Sie brauchen regelmäßige Stimulation. Versteifen und verkleben sie, so können sie Muskeln und Nerven einklemmen, was dann zu Schmerzen führt.

Rückenschmerzen und die Lendenfaszie


Die Lendenfaszie ist eine große Struktur, die das Becken und die Schultern verbindet. Sie besteht aus zwei Schichten, die im Normalfall in der Gegenrichtung gleiten können. Diese Flexibilität ist bei Menschen mit chronischen Rückenschmerzen reduziert. Sie wird durch eine Überproduktion von Kollagen verursacht. Wieder sind es Bewegungen, die gegensteuern können. Bei Dehnungen  strecken sich auch die Fibroblasten und können dabei ihre Größe verdoppeln. Währenddessen senden sie Signale in die Umgebung, die dann eine Schmerzlösung bewirken können. Die Versteifungen des Bindegewebes werden also permanent durch die Fibroblasten reguliert.

Interessant ist auch, dass die Fibroblasten auf Akupunktur reagieren. Eine ähnliche Wirkung erreichen wir mit Dehnungsübungen: Das Gewebe und die Muskeln entspannen sich.

Faszien reagieren unabhängig von Muskeln und Nerven auf Botenstoffe. Dabei spielen diejenigen Botenstoffe eine besondere Rolle, die bei Entzündungen und auch bei Stress ausgeschüttet werden. Auf die Stressbotenstoffe reagieren die Faszien sehr langsam, aber auch sehr nachhaltig. Wir wissen, dass emotionaler Stress Verspannungen und Schmerzen erzeugt, und dafür ist der Botenstoff TGF verantwortlich.

Zugspannung


Tensegrität ist der Fachbegriff für Zugspannung. Wir alle haben von den Skelettmodellen im Biologieunterricht gelernt, dass das Skelett unsere Stützstruktur ausmacht, mit der Wirbelsäule als zentralem Stab. Doch das stimmt so überhaupt nicht. Das neue Modell, das aus der Faszienforschung kommt, besagt, dass die Knochen gar nicht direkt aufeinander Druck ausüben, sondern über die Elastizität des Bindegewebes erst in die richtige Struktur kommen, bzw. in dieser gehalten werden. Das richtige Maß an Zugspannung in den Faszien ist ausschlaggebend für eine ausgeglichene Körperhaltung. Deshalb muss die Abnützung eines Knochenteils noch nicht zum Verlust von Bewegungsmöglichkeiten führen, denn dieser Mangel kann durch das Bindegewebe ausgeglichen werden.

Faszien und Wasser


Das Bindegewebe ist ein großer Wasserspeicher. Je nach Alter besteht das Bindegewebe bis zu 70% aus Wasser. Fibroblasten haben unterschiedliche Aufgaben. Die einen produzieren Kollagen, andere stellen Hyaloron her, das Schmiermittel des Bindegewebes. Dieses Molekül bildet schwammartige Gebilde, die große Mengen von Wasser binden können. Je mehr Wasser gebunden werden kann, desto besser die Beweglichkeit. Bei Hyaloronmangel ist zu wenig Wasser im Gewebe, das dann rau und spröde wird. Die Gleitfähigkeit schwindet.

Die manuelle Behandlung durch entsprechende Massagegriffe kann dazu führen, dass der betreffende Bereich zunächst von altem, „abgestandenem“ Wasser gereinigt wird, indem das schwammartige Gebilde ausgequetscht wird, und sich anschließend noch mehr mit frischem Wasser füllt, wodurch die Beweglichkeit steigt. Das Gleiche geschieht bei gezielten Bewegungsübungen. Bei der Eigenbewegung kommen noch weitere Komponenten hinzu, z.B. die Wärme, die dabei entsteht, regt den Stoffwechsel zusätzlich an (pro Grad an Temperaturanstieg steigt die Enzymtätigkeit um 10%).

Schmerzempfindungen


Sind Faszien selbst schmerzempfindlich? Befinden sich die Schmerzrezeptoren in der Faszie oder im Muskel? Faszien sind empfindliche Wahrnehmungsorgane. Der Sympathikus hat Kontakt zu fast allen Organen, wir können ihn nicht kontrollieren, und bei Stress beeinflusst er auch das fasziale Gewebe. Wenn der Sympathikus Stress-Botenstoffe freisetzt, werden die Blutgefäße angespannt, was den Blutdruck erhöht.

Das Schmerzempfinden ist unterschiedlich bei Menschen mit hoher Stressbelastung oder Traumatisierung im Vergleich zu anderen, die nicht unter diesen Bedingungen leiden. Es gibt Unterschiede im Tiefenschmerzempfinden, im Empfinden von myofazsialen Reizen. Repetetiver, immer wieder auftretender Schmerz wird von stressbelasteten Menschen besonders schnell eingeprägt und führt leicht zur Chronifizierung. Vorbelastete Menschen verfügen über ein besonders ausgeprägtes Schmerzgedächtnis.

Die Bewegungsgewohnheiten des modernen Menschen sind durch Spezialisierung gekennzeichnet. Bestimmte Bewegungen werden dauernd ausgeführt, z.B. die Muskelaktivitäten, die zur Bedienung einer Computertastatur gebraucht werden. Andere dagegen werden dauerhaft vernachlässigt. Ähnliches gilt für den einseitigen Leistungssport. In den vernachlässigten Körperarealen kommt es zur Zunahme der muskulär-faszialen Widerstände und Beschwerden. Die Muskeln bleiben in Dauerspannung, bis es zu schmerzhaften Dauerkontraktionen kommt, die sich dann auf die Leitungssysteme auswirken: Blutgefäße, Nerven und Lymphgefäße werden eingeengt oder sogar abgedrückt.

Faszientraining


Um unserer faszienfeindlichen Lebensweise entgegenzuwirken, müssen wir unsere Gewebe in guter Verfassung halten und immer wieder gezielt trainieren. Im Lauf des Lebens verliert das Fasernetz an Elastizität, und es bilden sich Verklebungen und Verfilzungen. Im Vergleich zu jüngeren Menschen weisen Ältere einen niedrigeren Anteil an Flüssigkeit im Körper auf, worunter auch das gesamte Fasziengewebe leidet und sich das vormals noch ausgeglichene Verhältnis zwischen wässrigen und faserigen Anteilen verschiebt.

Durch passende Übungen und variierende körperliche Aktivitäten kann unser Fasziensystem jung erhalten werden, wodurch sich die Zugfestigkeit verbessert und mehr Wasser gespeichert werden kann. Die Fibroblasten werden angeregt, den Körper elastisch zu halten. Wir fühlen uns beweglich und können leichter ins Fließen kommen, wenn sich Sturheit und Starre einschleichen.



Quellen: 
Bracht, Petra und Liebscher-Bracht, Roland: FaYo. Das Faszien-Yoga. Die enorme Heilkraft des Bindegewebes nutzen. München: Arkana 2016 (3. Aufl.)
Doku auf Arte

Dienstag, 20. Februar 2018

Atembewusstheit und Flexibilität

Die Geschichte der Menschheit ist gekennzeichnet durch einen beständigen Fortschritt in der Spezialisierung. Während Menschen in der Frühzeit Allrounder waren, was auch heißt, dass sie rund um die Uhr auf den Beinen waren und ihr Leben mit Handarbeit gesichert haben, nutzen wir im heutigen Bewegungsalltag durchschnittlich 1 – 5 % unserer Bewegungsmöglichkeiten. Die Einschränkung der Vielfalt von körperlichen Aktivitäten spitzt sich in der Informationsgesellschaft extrem zu. Wir können uns heutzutage unseren Reichtum erwirtschaften, indem wir nichts tun als den ganzen Tag in eine Tastatur zu klopfen und dazwischen mal aufs WC oder zum Kühlschrank zu gehen. Andere Menschen nutzen dazu noch die Muskeln, die sie zum Be- und Entsteigen sowie Bedienens ihres Autos brauchen. Unser Körper mit seinen 656 Muskeln ist auf vielfältige Herausforderungen eingestellt; wenn wir aber nur einen Bruchteil davon nutzen, verkümmern die anderen Bereiche, verspannen sich und werden müde. Wir verlieren an Flexibilität – einschließlich unseres Gehirns, denn dieses vereinfacht sich, wenn es vor keine Bewegungsherausforderungen gestellt ist, und beginnt, stärker in Schablonen zu denken statt seine Kreativität zu entfalten.

Dabei ist gerade unser Gehirn zusätzlich durch einen zweiten Trend, der sich durch die Menschheitsgeschichte zieht, besonders in Anspruch genommen. Die Arbeiten, die die Menschen verrichten, sind immer mehr durch mentale Prozesse gesteuert, die zunehmend komplexer werden. Ein Bauer, der im Mittelalter seine Felder bestellte, hat alles, was er dazu an Wissen brauchte, von seinen Eltern gelernt. Heutzutage braucht es Jahrzehnte, bis ein junger Mensch in der Gesellschaft seinen Erwerb sichern kann, so viel Wissen ist notwendig. Die mentalen Fähigkeiten sind die Eintrittskarte in die meisten Berufe, sodass die kognitiven Bereiche des Gehirns auf Kosten der anderen Areale überbetont werden, vor allem jene, die mit dem inneren Spüren zu tun haben.


Wenn wir uns auf die Erweiterung der mentalen Fähigkeiten fokussieren, schwindet der Bezug zum eigenen Inneren. Deshalb ist die Aufmerksamkeit auf den eigenen Atem so wichtig. Er führt uns in unsere Innenwelt und macht uns bewusst, wie es uns gerade geht, was wir brauchen und was unsere Impulse sind. Diese Bewusstheit erleichtert uns das Aussteigen aus einschränkenden Verhaltensweisen und motiviert uns, Neues auszuprobieren, sei es nur, einen tiefen Atemzug zu nehmen, vom Schreibtisch aufzustehen und ein paar Dehnungsübungen zu machen. Wir werden merken: Schon kommen andere Gedanken und Ideen, wir gewinnen ein Stück Kreativität.

Gewohnheiten sind es, die uns das Leben erleichtern sollen. Wir neigen dazu, alles, was einmal funktioniert hat, so festzulegen, dass wir es immer wieder praktizieren, auch wenn wir es gar nicht mehr brauchen oder es uns nicht mehr dient und stattdessen im Weg steht. So stecken Gewohnheiten hinter den meisten Problemen, die uns unser Leben schwer machen. Sie engen unsere Möglichkeiten ein und beschränken unseren Erlebens- und Handlungsradius. Das geht bis in unsere Bewegungsformen: Wir gehen auf eine  bestimmte, irgendwann einmal festgelegte Weise, putzen die Zähne oder duschen uns auf ähnliche Art und atmen so, wie wir es im Lauf der Zeit irgendwann angewöhnt haben.

Auch hier ist wieder die Atembewusstheit ein erster Schritt: Indem wir einen bewussten Atemzug nehmen, brechen wir schon aus einer eingeschränkten Atemgewohnheit aus und geben uns selbst mehr Raum, in dem etwas Ungewohntes geschehen kann. Natürlich ist es wichtig, dass wir unsere unterschiedlichen Körperbereiche immer wieder aktivieren und sie damit geschmeidig halten. Die Atemvariation können wir als Anfang nehmen und dann unseren Körper in eine spontane Beweglichkeit bringen. Damit stärken wir unsere Flexibilität, denn ein Körper, der in all seinen Muskeln und Sehnen beweglich ist, kann auf alle möglichen Herausforderungen spontan reagieren, ohne auf gewohnte Verhaltensmuster zurückgreifen zu müssen.

Jeder Gewinn an Flexibilität ist ein Gewinn an Freiheit, jede Einschränkung unserer Möglichkeiten durch nicht mehr sinnvolle Gewohnheiten bedeutet einen Verlust an Lebendigkeit, den wir irgendwann mit Schmerzen und Erkrankungen bezahlen müssen. Es liegt an uns selbst, unsere Bewusstheit zu schulen, damit wir unsere Beweglichkeit erhalten, was unseren Körper immer freut. Er muss dann keine Symptome mehr erzeugen, um uns daran zu erinnern, dass wir auf ihn und seine Bedürfnisse vergessen haben.

Zum Weiterlesen:

Polaritäten lähmen, Kontinuen befreien
Grenzen und Durchlässigkeit
Weiches besiegt das Harte
Über den Nutzen der Flexibilität

Samstag, 29. April 2017

Grenzen und Durchlässigkeit

Das Wort „Grenze“ ist erst relativ spät (gegen Ende des Mittelalters) aus dem Polnischen in die deutsche Sprache gekommen. Dennoch ist das, worum es geht, eine wichtige Sache für unser In-der-Welt-Sein und für unser inneres Wachsen. Über Grenzen wird definiert, was eine Sache ausmacht, was zu ihr gehört und was nicht. Unsere Grenzen geben also Auskunft über unsere Identität.

Jede Zelle verfügt über eine Membran, die sie von der Umwelt trennt und mit ihr verbindet, und manche Biologen halten deshalb die Membran für den intelligentesten Teil der Zelle. Unser Körper hat vor allem die Haut als Außengrenze, darüber hinaus sprechen wir noch von der Aura, die uns als „feinstofflicher Körper“ umgibt – Schnittstellen, an denen Entscheidungen über Ich und Nicht-Ich getroffen werden.

Vermittels der Grenzen wissen wir, wer wir sind. Wir bilden durch die Unterscheidung vom Außen ein Innen, das unsere Identität ausmacht. Definieren heißt so viel wie umgrenzen, umreißen. Innerhalb unserer Grenzen haben wir das Sagen und wissen wir, was Sache ist. Wir bestimmen die Regeln, vor allem darüber, wer hereinkommen darf und wer draußen bleiben muss. Im Mittelalter konnte der Hausherr jeden töten, der in den Bereich seines Hauses eindrang. Der Ausdruck Grenz“verletzung“ weist noch hin auf die Verwandtschaft zwischen Körper und Gebiet.


Grenzen und Grenzverkehr


Die Regelung des Grenzverkehrs ist von vitaler Bedeutung. Eine Zelle kann nur überleben, wenn sie das hereinlässt, was es zum Leben braucht und sich davor schützen kann, was es schädigt. Wir sehen hier die Analogie zu all den aktuellen Grenzproblemen in der Politik, Gesellschaft und Ökonomie. Das zentrale Motiv der Brexit-Wähler war die Idee, „selber“, sprich als Einzelstaat, bestimmen zu können, was hereinkommen darf – nur Eigen-Nützliches – und was draußen bleiben muss – alles Schädliche. Also war es eine zelluläre Intelligenz, die bei dieser Frage wesentlich mitgeredet hat (und damit notgedrungen ihrer Komplexität nicht gerecht werden konnte).

Zellen können aber nur dann überleben, wenn sie nicht nur über ein solides Grenzmanagement verfügen, sondern wenn sie dazu noch ein hohes Maß an Risikobereitschaft aufweisen. Je komplexer die Außenwelt ist, desto weniger kann von vornherein klar sein, was nützlich und was schädlich ist, ähnlich wie wir nie sicher und endgültig wissen können, ob Zuwanderung einen Gewinn oder einen Verlust bringt. Lebendige Organismen benötigen Flexibilität und die Bereitschaft, Neues auszuprobieren, Experimente zu wagen, sonst versterben sie an ihrer eigenen Starrheit. 

Deshalb muss der Umgang mit den Grenzen fließend sein – zum einen, im Prozess des Öffnens und Schließens, und zum andern in der Ausdehnung des Gebiets, das sie umfassen. Der Realitätssinn, die detaillierte Wahrnehmung und Bewertung der Außenwelt sowie der Blick auf die inneren Ressourcen liefern die Kriterien für das Maß an Durchlässigkeit. Über diese Fähigkeiten verfügen wir, wenn wir in einem Zustand der inneren Gelassenheit, möglichst frei von Ängsten sind. Denn jede Angst engt unsere Wirklichkeitsauffassung ein und greift auf vorgefertigte Konstruktionen zurück, sodass wir dazu neigen, unsere Grenzen rigoros zu schließen, ohne dass dafür eine Notwendigkeit herrscht. Der Handel, der Austausch an Gütern, der über die Grenze hinweg stattfinden könnte, bleibt aus, das Innere verarmt.


Konfluente Grenzen


Mangelhafte Grenzverwaltung kann auch heißen, dass der Zustrom von außen nicht oder nur willkürlich geprüft wird, weil die Ressourcen und die Kriterien fehlen. Gewissermaßen gibt es zu wenige Grenzbeamte und diese sind noch dazu schlecht ausgebildet. 

Dieser Zustand wird nach einem Ausdruck aus der Gestalttherapie auch als Konfluenz bezeichnet: Es ist unklar, was innen und was außen ist. Damit steht die eigene Identität auf dem Spiel – wenn Individuen davon betroffen sind, ist das die Folge einer konfluenten Vereinnahmung durch Bezugspersonen in der frühen Kindheit. Kinder, die von ihren Eltern als Erweiterungen ihres Selbst angesehen wurden, wachsen ohne Gefühl für sinnvolle Abgrenzungen auf. Sie wissen dann nicht, wo sie aufhören und wo das Andere oder Fremde anfängt. Sie freuen sich, wenn ihnen jemand erzählt, dass ohnehin alles eins ist, das entspricht ihrer Wirklichkeitserfahrung. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine spirituelle Einsicht oder Erfahrung, sondern um die Beschreibung eines Zustandes der Unklarheit.


Rigide Grenzen


Eine starre Grenzpolitik beruht auf einem stark ausgeprägten Sicherheitsdenken, das wiederum durch vielfältige Ängste gespeist ist. Jeder fremde Einfluss erscheint bedrohlich. Die eigene Identität muss durch die Abwehr alles dessen, was von außen kommt, gesichert werden. Ich weiß, wer ich bin, indem ich weiß, wer ich nicht sein will.  

Auch für dieses Muster gibt es frühe Prägungen, die auf bedrohliche Situationen während der Schwangerschaft zurückgehen können: Wenn ich nicht starre Grenzen gegen schädliche Einflüsse von außen aufrichte, gehe ich unter. Die Grenzsicherung ist eine Überlebensnotwendigkeit. Menschen mit dieser Prägung müssen lange prüfen, ob sie sich auf etwas Neues einlassen. Sie tun sich deshalb schwer mit Veränderungen und reagieren bei unvorhersehbaren Ereignissen mit innerem Rückzug und Abschottung – mangelhafte Voraussetzungen in einer Welt, die immer mehr Unvorhersehbarkeiten produziert.


Stimmiges Grenzmanagement


Das Umgehen mit Grenzen, also ein Grenzmanagement, das darüber entscheiden kann, wann es gut ist, die Grenzen aufzumachen und wann sie besser dicht gemacht werden sollen, erfordert viel Kraft, Präsenz und Unterscheidungsfähigkeit. Die Beziehungen zwischen den Menschen sind hoch komplex, sodass das Wechselspiel von Öffnen und Verschließen von Moment zu Moment neu bestimmt werden muss. Andererseits operieren wir mit Mustern, um diese Komplexität zu verringern, und greifen da mit Prägungen aus unseren Vorerfahrungen zurück, die bis in pränatale Zeiten zurückreichen. Damit kommt es schnell zu Verwerfungen: Wir schützen uns dort, wo es gar nicht förderlich oder hilfreich ist, und wir öffnen uns, ohne zu merken, dass wir Schädliches hereinlassen.

Für dieses Wechselspiel müssen wir also auch das beständige Wechselspiel zwischen alten Ängsten und der Realität bewältigen. Dafür bedarf es eines hohen Ausmaßes an Achtsamkeit, die wir im Idealfall immer zugleich nach innen und nach außen richten: Auf das, was wir im Inneren spüren, indem wir Schutzgefühle und Wachstumsgefühle unterscheiden, und auf das, was uns von außen begegnet, ob wir es unter „vertrauenswürdig“ oder „Misstrauen erregend“ einreihen sollen. Wir schulen unsere Flexibilität durch das beständige Überprüfen der inneren und äußeren Realität, also zwischen unseren Befindlichkeiten und Bedürfnissen einerseits und den Angeboten und Anforderungen der Außenwelt andererseits. Je mehr positive Erfahrungen wir mit flexibler Grenzsetzung machen, desto mehr Möglichkeiten haben wir zur Verfügung, je nach Erfordernis der Situation Grenzen effektiv aufzurichten oder flexibel durchlässig zu gestalten.

Ein wichtiger Maßstab für das stimmige Grenzmanagement liegt darin, ob wir uns dabei entspannt und innerlich ausgeglichen fühlen. Wenn unsere Atmung ruhig und leicht fließt, können wir davon ausgehen, dass wir uns in einem guten Fließgleichgewicht zwischen Öffnung und Abschließung befinden. Wir grenzen uns dort gut ab, wo es für alle Beteiligten von Vorteil ist und öffnen uns dort, wo alle einen Gewinn daraus ziehen können und haben das richtige Gespür für alle Situationen, die zwischen diesen Extremen liegen.

Zum Weiterlesen: Innere Grenzen und ihre Erweiterung

Montag, 17. Oktober 2016

Weiches besiegt das Harte

Auf der ganzen Welt gibt es nichts Weicheres und Schwächeres als das Wasser,
und doch, in der Art, wie es dem Harten zusetzt, kommt nichts ihm gleich.
Es kann durch nichts verändert werden.
Dass Schwaches das Harte besiegt und Weiches das Harte besiegt,
weiß jedermann auf Erden,  aber niemand vermag danach zu handeln.
Schmiegsam und geschmeidig ist der Mensch, wenn er geboren wird, starr, störrisch und steif, wenn er stirbt.
Biegsam, weich und zart sind die Kräuter und die Bäume im Wachstum, dürr, hart und stark im Entwerden.
Darum gehören Starre und Stärke dem Tode, Weichheit und Zartheit dem Leben.
(LaoTzu)


Gerne stehen wir bei fließendem Wasser und betrachten es. Wir genießen die Leichtigkeit, mit der sich das Wasser an seine äußeren Gegebenheiten anpasst und beständig seine Bewegungen verändert und dennoch bei seiner Flussrichtung bleibt. Nichts kann es aufhalten, weil es so wandelbar ist, obwohl es dabei immer das bleibt, was es ist, Wasser.

Beim Betrachten nehmen wir uns ein Beispiel: So könnten wir auch leben. Doch was bedeutet das? Wir sind mit dem Leben im Einklang, wenn wir mit ihm fließen. Wir passen uns dem an, was uns das Leben gerade anbietet und stellen ihm keinen unnötigen Widerstand entgegen. Diese Anpassung ist aber keine Selbstverleugnung, sondern eine Fähigkeit, die wir mehr und mehr entwickeln können. Denn das Leben verlangt keine Unterordnung von uns, keinen blinden Gehorsam und keine schmerzhaften Verrenkungen. Es fordert uns zum Spiel heraus, in das wir genau das einbringen können, was wir in unserer Einzigartigkeit sind. Wenn wir also mit dem Leben fließen, bringen wir das Eigene mit dem Äußeren in Kontakt und Austausch, unser Wesen mit der Wirklichkeit um uns herum.

Damit tragen wir zum Wachstum bei, von uns selbst und von der Welt um uns herum. Die Wirklichkeit regt uns an, dass wir uns verändern, und in dieser Veränderung entfaltet sich die Kreativität, die der Welt Neues hinzufügt. Auf diese Weise hat sich die Vielfalt der Natur und der Kultur entwickelt, und in dieser Vielfalt können wir die unendlichen Gestalten der Schönheit entdecken.


Gesundheit und Flexibilität


Wir sind gesund in unserem Körper, wenn auch in uns selber dieses Fließgleichgewicht besteht. Alle Systeme kommunizieren miteinander und regen sich gegenseitig an, stimmen sich aufeinander ab und geben dem Raum, was gerade mehr Raum braucht.

Ist im Körper jedoch etwas ohne Notwendigkeit angespannt, so kann es nicht mehr frei kommunizieren, sondern meldet sich mit einem Schmerz, der die sofortige Aufmerksamkeit auf sich zieht. Alles andere soll zurücktreten, damit wir unsere gesamte Energie dafür einsetzen können, die Quelle des Ungleichgewichts zu beheben.

Alles Starre und Harte ist also Anzeichen einer Störung und schränkt das Leben ein, das ja in der permanenten Veränderbarkeit besteht. Es gibt keinen Stillstand, sondern nur Ruhephasen, in denen die Veränderungen in reduziertem Ausmaß stattfinden. Körperliche Verfestigungen sind nicht im Sinn des Lebens und deshalb ungesund. Alles Starre erinnert an den Tod, nicht an das Leben.

Wir können den Tendenzen zur Verfestigung, die vermutlich aus unbewussten angstgesteuerten Verhaltensgewohnheiten stammen, entgegenwirken, indem wir bewusst unsere Beweglichkeit steigern, in jeder Form, die uns liegt: Tanzen, Sport, Yoga, Tai Chi, etc. oder einfach dadurch, dass wir ein wenig anders gehen, sitzen, aufstehen, liegen, als wir es gewohnt sind.


Beweglicher Geist


Auch im Denken brauchen wir die Beweglichkeit. Häufig glauben wir, dass wir uns nach den Erwartungen richten müssen, die andere an uns haben. Oder wir meinen, dass uns andere im Weg stehen, uns in unserer Weise entfalten zu können. Als Kinder haben wir gelernt, dass wir uns nur so verändern dürfen, wie es von außen gewünscht ist, und das überträgt sich auch auf unsere Weise des Denkens. Wir wollen berechenbar bleiben, um keine Erwartungen enttäuschen zu müssen. Und wir wollen, dass die anderen Menschen und die Welt insgesamt berechenbar bleibt, denn alles, was sich zu schnell oder zu abrupt verändert, macht uns Angst.

Die Starrheit im Geist ist so schädlich wie die Starrheit im Körper. Wenn wir nicht mehr bereit sind, unsere Meinungen, Annahmen, Theorien und Einstellungen zu überdenken, zu reflektieren und, wenn es sinnvoll ist, zu verändern, bezahlen wir unsere Unbeweglichkeit darin, dass wir zunehmend an der Welt anecken. Erich Kästner meinte: „Man kann auf seinem Standpunkt stehen, aber man sollte nicht darauf sitzen.“

Aus geistiger Starrheit kommen viele unangenehme und sozial schädliche Einstellungen von der Rechthaberei bis zum Hass auf „Andersdenkende“ (allein die Existenz dieses Wortes weist darauf hin, dass es nicht als selbstverständlich gilt, dass Menschen unterschiedlich denken). Viel Unheil und Leid ist durch solche Haltungen bewirkt worden. Es sind dies immer wieder Versuche, die anderen Menschen den eigenen beschränkten Vorstellungen anzugleichen, so als sollte die ganze Wirklichkeit so krank werden wie man selber ist und als würde das alle inneren Probleme lösen.

Die Welt lässt sich jedoch nicht vereinnahmen, schon gar nicht von Eroberern, die von ihrem Wesen am weitesten entfernt sind. Sie ist geschmeidig und weich in ihren Konturen, und Klobiges und Klotziges wird so lange herumgebeutelt, bis es sich abrundet wie die Kieselsteine im Bach. Das Starre hat nur diese Chance: Sich vom Weichen belehren zu lassen; die Alternative ist das Zerbrechen, das Zersplittern. Solange so viel Sturheit in der Welt ist, muss auch so viel auf gewaltsame Weise zugrunde gehen. Solange sich das Verfestigte gegen die Verflüssigung sträubt, wiederholt sich das immer wieder gleiche Drama.

Erst wenn wir erkennen, dass jede Anspannung, auch wenn sie geistig ist, eine Selbsteinschränkung, also ein selbstauferlegter Freiheitsentzug ist, dass wir uns also mit unserem Festhalten selbst schaden, beginnen wir nach neuen Wegen zu suchen, wie das Wasser, das auf ein Hindernis stößt. Damit kommen wir ins Fließen, und damit bleiben wir lebendig. Wir wissen aber auch aus der Natur, dass es Zeit braucht. Allzu schnelle Lösungen vergehen auch allzu schnell wieder. Die menschliche Natur braucht lange, um sich abzuschleifen und die Weisheit des Lao Tzu zu verstehen:

„Biegsamkeit und Nachgiebigkeit sind die Verwalter des Lebens,
Härte und Stärke sind die Soldaten des Todes.“


Vgl. Über den Nutzen von Flexibilität
Die Verdinglichungstendenz
Widerstand und Verwandlung

Sonntag, 21. Februar 2016

Heftigkeit und Irrtum

"Durch Heftigkeit ersetzt der Irrende, was ihm an Wahrheit und an Kräften fehlt."
(Goethe)

Was ist der Unterschied zwischen Heftigkeit und Kraft? Heftigkeit ist impulsiv, Ausdruck einer Emotion, die sich mit Gewalt Bahn bricht. Sie sackt in sich zusammen, sobald ihre Energie verbraucht ist. Kraft kommt aus einer tieferen Schicht unseres Wesens, wenn es mit Quellen verbunden ist, die über uns selbst hinausreichen. Diese Quellen sind es auch, wo wir die Wahrheit finden. 

Deshalb braucht die Wahrheit keine Intensität, sie wirkt, wenn wir uns darauf einlassen, was sie spricht. Umgekehrt kann aus der Heftigkeit keine Wahrheit kommen, außer jener über die emotionale Impulsivität, die sich ausdrückt. Es ist also keine Wahrheit, die über die Person und den Moment hinaus bedeutsam ist. Irrtümer, Halbwahrheiten und Verdrehungen können wir an der Heftigkeit erkennen, an ihrer impulsiven Emotionalität, in der sich Angst und Hass Durchbruch verschaffen und die Vernunft überschwemmen. Ist das Feuer niedergebrannt, bleibt nichts von dem, was es angezündet hat.

Arbeit des Begriffs und der Gefühle


Wollen wir den Raum der Vernunft betreten, ist Arbeit gefordert: "Die Anstrengung des Begriffes", wie es Hegel genannt hat, und Arbeit der Gefühle. 

Das Denken hat seine inneren Gesetzmäßigkeiten, und diese müssen wir beachten, wenn wir uns auf diesem Weg zur Wahrheit bewegen wollen. Nicht jeder Gedanke, der uns hochploppt, ist wahr. Ob etwas ein Irrtum ist, erschließt sich erst durch die Prüfung und durch die Einsicht in die Zusammenhänge und Hintergründe. Wir können z.B. das Gegenteil dessen prüfen, was wir für richtig halten, um zu erkennen, ob wir wirklich auf dem richtigen Denkweg sind oder auf einem Holzweg. Wir sollten uns ernsthaft mit dem auseinandersetzen, was andere dazu denken oder schon gedacht haben. Wir müssen unseren Gedanken die Zeit lassen, die sie brauchen, und wir müssen sie mit unserer Aufmerksamkeit und Konzentration verfolgen.

Denken erfordert also Disziplin, damit es den Kriterien der intellektuellen Redlichkeit  entspechen kann. Vorschnelles und unüberlegtes Denken ist häufig nur das Nachplappern von fremden vorgekauten Gedanken, wie auf facebook, wo die Hassparolen fleißig geteilt werden, offenbar ohne dass sich die Teiler überlegen, ob hier ein Irrtum verbreitet wird und was sie mit der Verbreitung von Irrtümern anrichten könnten. 

Irrtümer verbreiten sich wie Viren, heutzutage beschleunigt durch die dichte Informationsvernetzung, die infolge der sozialen Dienste im Internet zur Realität geworden ist. Diese Geschwindigkeit überfordert unsere inneren Integrationsfähigkeiten. Wir nehmen uns nicht die Zeit zu prüfen, ob etwas, was behauptet wird, stimmt oder stimmen kann. Wir spüren nur rgendwie, wie weit es in unsere Vorurteilsstruktur passt, und schon ist es unsere Ansicht, die wir in die Cyberwelt hinausposaunen. Stellt sich irgendwann heraus, dass das Ganze ein Betrug, eine Irreführung, ein Hoax war, erreicht uns diese Nachricht vielleicht gar nicht, weil sie mangels Heftigkeit weniger Erregung und Strahlkraft beinhaltet, weil sie weniger "cool" ist. Oder wir nehmen sie am Rande zur Kenntnis, denn in den Tiefen unserer Seele hat sich nur das eingegraben, was als heftig in unser Nervensystem eingedrungen ist. Das nachfolgende Dementi kann nicht mehr löschen, was in der emotionalen Tiefe abgespeichert ist. Denn unser Unbewusstes ist nach dem Leitspruch organisiert: Je heftiger desto bedeutsamer!

Diese Spuren sind es dann, die das Handeln leiten und unsere Wahrnehmung prägen. Wir suchen in unserer Umwelt unbewusst nach allem, was unsere Erwartungen bestätigt und werden natürlich schnell und nachhaltig fündig. Eine asylsuchende Person hat einen Supermarkt geplündert, hat unser Unbewusstes aufgeschnappt und den Schluss gezogen, dass solche Personen gefährlich sind. 

Vielleicht gibt es irgendwo im Kopf auch die Information, dass der Vorfall gar nicht stattgefunden hat. Doch die Angstspur, die die Falschnachricht in uns hinterlassen hat, ist wirksam. Personen, die "asylsuchend" wirken, begegnen wir mit Misstrauen, und für solche Personen etwas zu tun oder Geld zu spenden, lehnen wir mit innerer Entrüstung ab - die sollen selber schauen, wie sie zurecht kommen, die bedrohen uns nur.

Jenseits der Heftigkeit


Heftigkeit verträgt sich nicht mit Vernunft. Heftigkeit will nur explodieren, das ist alles. Deshalb sollten wir uns darin üben, andere Menschen, die gerade heftig sind, explodieren zu lassen, möglichst so, dass wir selber dabei nicht Schaden nehmen, und das, was sie in ihrer Heftigkeit zum Ausdruck bringen, nicht für bare Münze nehmen. Und dass wir so mit unserer eigenen Heftigkeit verfahren: Wenn sie explodieren will, sie in einem Rahmen, der möglichst andere Menschen nicht in Mitleidenschaft zieht, explodieren zu lassen, und, sobald es geht, zu einer gelassenen Haltung zurück zu finden, in der wir uns im Vernunftgebrauch und in offener und liebevoller Kommunikation üben können. Denn wie sprach der Dichter noch: "Was man zu heftig fühlt, fühlt man nicht allzu lang."

Das ist ein Teil der Arbeit der Emotionen. Ein anderer ist es, nachzuforschen, was uns so in Heftigkeit gebracht hat. Woher kommt die Ladung eigentlich, woher stammt der Kern der Erzürnung? Wer sind die "Hintermänner" meiner Erregung, d.h. wer ist eigentlich gemeint? Und wie sehe ich die Sache oder das Thema, wenn die Erregung abgeklungen ist? Kann ich weitere Sichtweisen und Blickpunkte zulassen? Vielleicht wird aus dem einfärbigen und eindimensionalen Bild ein buntes, vielgestaltiges - differenziert und individualisiert statt verallgemeinernd und pauschalisierend.

Das ist ein Bild, das es uns leichter macht, uns in der Wirklichkeit zu orientieren. Es ermöglicht Flexibilität und variables Eingehen auf die ständig wechselnden Anforderungen der Welt. Wir tun uns also selber Gutes, wenn wir die Anstrengung des Begriffs und der emotionalen Arbeit auf uns nehmen. Wir öffnen uns für die vielgestaltigen Wunder und Überraschungen, die uns das Leben bietet. Wir bewegen uns mehr und mehr in dem und aus dem heraus, was wir selber sind, durch die Welt, statt Kopien anderer Menschen darzustellen oder die Emotionen aus unserer Kindheit auszuagieren, von einem Irrtum zum nächsten taumelnd. Das, was das Eigene unseres Selbstes ist, ist das, was die Welt von uns braucht, damit sie sich im kreativen Wachstum weiter entfalten kann.

Mittwoch, 16. Dezember 2015

Bad news are good news?

Only bad news are good news – diese scheinbare Medienweisheit beruht auf dem Mechanismus, dass wir aus der Überfülle an dargebotenen Reizen und Informationen vor allem jene aussieben, die uns auf mögliche Gefahren und Risiken aufmerksam machen. Harmlose Viren werden zu medialen Pandemien, und schon fürchten sich alle, und einige Medikamentenerzeuger können ihre Umsätze kräftig steigern. Unwetter werden zu Katastrophen, und vom Terror sind wir überall bedroht, ob wir auf die Straße gehen oder nicht. Denn Zeitungen brauchen auch Reizthemen für ihren Absatz. Zudem wissen besserwissende Bücherschreiber, dass das ganze Abendland oder bloß die europäische Wirtschaft bedroht sind, weil zu viele oder zu wenige Menschen ein- und zuwandern, oder die falschen. Sie wissen auch schon, wann die nächste Finanzkrise kommt und wie dann alles zusammenbricht, oder dass die hackeranfälligen Computersysteme bei ihren Abstürzen die vom Internet abhängigen Infrastruktursysteme mitreißen. Sie wollen ja auch was verdienen mit ihren Bestsellern. 

Deshalb meinte Mark Twain: Man vergisst vielleicht, wo man die Friedenspfeife vergraben hat. Aber man vergisst niemals, wo das Beil liegt.

Wir kennen diese Zusammenhänge. Wir wissen, dass schreckliche Bilder, die wir über die Medien konsumieren, zurechtgeschminkt und abschreckende Texte aufgeplustert sein können. Wir wissen, dass Redakteure und Journalisten zu Übertreibungen neigen. Aber wir können uns schwer dem emotionalen Sog der negativen Medienfluten entziehen. Die schlechten Nachrichten füttern unser Angstgedächtnis. Was also gut ist für die Nachrichtenproduzenten, ist schlecht für die Konsumenten. Scheinbar sind sie informiert und pflichtschuldigst aufmerksam gemacht auf all Gefahren, die um sie herum lauern. In Wirklichkeit werden sie ängstlicher, und wer viel Angst hat, wird eng in seiner Persönlichkeit und schneller krank.

Wollen wir uns abschotten von der medialen Angstmache und unsere innere Ruhe bewahren, müssen wir dauernd um-kontextualisieren, also alternative Kontexte zu den aufgedrängten bilden. Dazu brauchen wir einerseits alternative Informationen, wie jene z.B. aus dem Buch von Steven Pinker („Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit“) und andererseits den Blick auf die Potenziale der Menschen und der Menschheit. Pinker hat in seinem lesenswerten (sehr umfangreichen) Buch akribisch nachgewiesen, dass die Wahrscheinlichkeit, einer Gewalttat zum Opfer zu fallen, im Lauf der Geschichte ganz drastisch zurückgeht. Wohlgemerkt: Es sinken nicht nur die absoluten Zahlen der Gewalttaten, sondern relativ zur Anzahl der jeweils lebenden Menschen geht diese Wahrscheinlichkeit drastisch zurück. Selbst statistische „Ausreißer“ wie die Weltkriege im vergangenen Jahrhundert ändern nichts am Trend.

Die Menschheit wird also friedlicher, allem Anschein zum Trotz. Daran erkennen wir, dass der Anschein medial erzeugt wird – oder selektiv durch die eigene Wahrnehmung. Wenn ich nämlich selber Opfer einer Gewalttat wurde, habe ich, was mein Leid anbetrifft, wenig davon, dass etwas ganz und gar Unwahrscheinliches gerade mir passiert ist. Wenn ich allerdings aus meiner Erfahrung Schlüsse ziehe, nehme ich an, dass die Welt insgesamt unsicherer geworden ist, obwohl das nicht stimmt.

Wir müssen also aufpassen: Mediale Informationen und persönliche Erfahrungen verführen uns leicht zu unzulässigen Verallgemeinerungen. Wenn wir solche Fehlschlüsse ernst nehmen, tun wir uns selber nichts Gutes, weil wir eben unsere Ängste verstärken.

Der andere wichtige Aspekt liegt darin, dass wir uns immer wieder daran erinnern, dass Menschsein bedeutet, kreativ zu sein. Menschen haben die erstaunlichsten Dinge hervorgebracht und die unglaublichsten Herausforderungen bewältigt. Sie haben z.B. das Problem gelöst, die meisten Menschen auf dieser Erde mit Strom zu versorgen und damit ihr Leben zu erleichtern. Sie haben die Zerstörungen, die Kriege angerichtet haben, immer wieder aufgeräumt und Neues auf den Trümmern erschaffen.

Sicher werden auch in Zukunft Probleme entstehen, von denen wir jetzt noch gar nichts ahnen können. Dazu kommen diejenigen, die wir voraussehen können, wie die globale Erwärmung und das Zur-Neige-Gehen fossiler Brennstoffe. Wir können genauso wenig erahnen, welches Problemlösungspotenzial sich entfalten wird. Wir wissen aber aus der Geschichte, über welch große Flexibilität die Menschheit verfügt. Und das übersehen wir leicht, wenn wir auf die Katastrophen und Fehlentwicklungen fokussiert sind. Denn die Flexibilität in der Problemlösung ist eine der in der Kreativität verwurzelten  Stärken der Menschheit. Sie ist nicht aufmerksamkeitserzeugend. Was also Menschen leisten, ist weniger interessant als das, was sie sich leisten, wenn sie Grauslichkeiten begehen oder aus Beschränktheit oder Unwissenheit Schäden hervorrufen.

Es geht nicht darum, Fehlentwicklungen oder Untaten zu beschönigen.  Es geht nicht darum, gutzureden, was schlecht ist, schönzufärben, was hässlich ist. Es geht darum, dass das, was schön ist oder wieder schön werden kann, nicht mit dem Hässlichen zugeschüttet wird. Wir können damit anfangen, Menschen mehrdimensional zu sehen: das, was uns an ihnen gefällt und das, was uns an ihnen nicht gefällt, das, was wir gut finden und das, was wir schlecht finden. Und dazu immer mitzusehen, dass sie alle, wie wir selber, ein unschätzbares Potenzial an Lernfähigkeit und Kreativität in sich tragen. Dann kann jeder Mensch, dem wir begegnen, eine gute Neuigkeit für uns sein. Und gute Neuigkeiten helfen uns zu entspannen und uns des Lebens zu erfreuen. Thus, good news are good news. 


Vgl. Ereignisse, Medien, Machtlosigkeit
Für ein Verbot der Angstmacherei

Samstag, 7. November 2015

Über den Nutzen der Flexibilität

Quelle: www.fuersie.de
Mehr Flexibilität bedeutet, dass wir schneller von Situation zu Situation umschalten können, statt an einer unvorhersehbaren oder unerwünschten Änderung der äußeren Gegebenheiten zu leiden: Der Verkehr steht plötzlich still, ich kann nicht weiter. Statt mich darüber zu ärgern gehe ich in einen Entspannungszustand. Sobald der Stau gelöst ist, wechsle ich in den Aktivitätsmodus und fließe weiter. Eine Sache braucht länger, um erledigt zu werden als geplant, weil eine andere Person ihren Beitrag dazu nicht rechtzeitig liefert. Statt mir Sorgen zu machen, ob alles noch rechtzeitig fertig wird, suche ich mir andere Tätigkeiten, die ihrerseits erledigt werden sollen.

Wenn wir flexibel sind, können leichter mit dem Leben mitgehen, das von sich aus immer wieder Änderungen, Neuigkeiten und Überraschungen hervorbringt. Deshalb meinte der griechische Philosoph Heraklith: „Alles fließt.“ Und Buddha sagte: „In steter Veränderung ist die Welt. Wachstum und Verfall sind ihre wahre Natur. Die Dinge erscheinen und lösen sich wieder auf. Glücklich, wer sie friedvoll beobachtet.” An unserer Atmung können wir jeden Moment diese Veränderbarkeit und „Flüssigkeit“ des Lebens wahrnehmen und miterleben.

Wer so beweglich ist, dass sich das Innere jeweils an das Äußere anschmiegt, sodass zusammen mit jeder äußeren Veränderung die entsprechende innere Veränderung geschieht, geht mit dem Fließen der stetigen Veränderungen mit, anstatt sich gegen sie zu stellen oder sich von ihnen zu distanzieren. Wenn uns das gelingt, sind wir eins mit dem Leben, nicht im Sinn, dass wir Teil von diesem größeren Prozess sind, sondern dass wir die gleiche Schwingung sind, die wir durch unsere Wahrnehmung als innen und die, die wir als außen wahrnehmen. Wenn das Äußere dynamischer ist, sind wir im Inneren dynamisch, wenn es ruhiger ist, sind wir ruhiger, nicht, weil wir uns an das Äußere anpassen, sondern weil die Bewegung eine gemeinsame ist. Das geschieht, wenn wir nichts zwischen das Innen und das Außen schieben, das es unterscheidet und trennt.

Die Basis für ein solches bewegliches Innenleben auf der physiologischen Ebene ist ein flexibles Nervensystem. Bekanntlich besteht das autonome Nervensystem aus zwei Zweigen, Sympathikus und Parasympathikus, die für unterschiedliche Modi des Erlebens und Verhaltens zuständig sind: Leistung und Regeneration. Die Flexibilität zeigt sich in diesem Bereich in der Herzschlagvariabilität: Die Fähigkeit des Herzens, seine Tätigkeit auf die jeweiligen Erfordernisse optimal abzustimmen. Unser Herz hat also nicht nur die Aufgabe, den Organismus kontinuierlich und gleichförmig mit Blut und damit mit Sauerstoff und anderen Botenstoffen zu versorgen, sondern je nach äußeren und inneren Bedingungen mal stärker und schwächer, mal schneller und langsamer zu pulsieren.


Atmen für die Flexibilität


Da die Herztätigkeit eng mit der Atmung verbunden ist, ist diese ein wichtiger Regulator, Impulsgeber und auch Lehrer für das Herz-Kreislaufsystem. Wir können sie bewusst beeinflussen und zur Schulung der Flexibilität über die Herzschlagvariabilität nutzen. Denn wenn wir kohärent atmen*, stärken wir den Parasympathikus, der für die Flexibilität des Herzschlags verantwortlich ist. Ein flexibles Herz ist ein wichtiger Indikator für Gesundheit und Langlebigkeit, wie die Medizin inzwischen erkannt hat.

Ein Muskel, der flexibel ist, hat mehr Möglichkeiten als einer, der verspannt und verkürzt ist. Wenn ich Muskeln dehne, können sie mehr Bewegungen ausführen und ich gewinne an Freiheit dazu. Die Dehnung des Atemraumes, sowohl räumlich als auch metaphorisch (im Möglichkeitsraum), erlaubt mir mehr Freiheit, die sich in verschiedener Hinsicht auswirken kann: Quantitativ steht mehr „Lebensenergie“ zur Verfügung, also mehr mitochondrialer Kraftstoff für die Zellaktivitäten. Der Gewinn an Flexibilität wirkt sich darin aus, dass ich dieses größere Maß an Energie für kreative Projekte in meinem Leben nutzen kann. Ich kann Routinetätigkeiten schneller erledigen, weil sie mich weniger leicht ermüden, und ich finde leichter neue Ideen für neue Projekte.

Stress macht eindimensional


Im Stress verlieren wir die Flexibilität, gleichsam die Kreativität in der Beweglichkeit. Denn die Stressreaktion schränkt den Möglichkeitsraum ein: Durch die Verengung des Blickfelds und des Hörbereiches, durch die Aufladung unserer peripheren Muskulatur wird der Organismus auf eine Orientierung hin ausgerichtet: Kampf oder Flucht, beides mit ganzem Krafteinsatz und voller Konzentration. Die Stressreaktion fordert maximale Effektivität und alternativloses Funktionieren. Wir dürfen uns keine Schnörkseln und Spielereien erlauben, wenn wir in Gefahr sind, sondern müssen all unsere Ressourcen in den Dienst des Überlebens stellen und auf dieses Ziel hin bündeln.

Wenn wir zu lange im Stress verharren, verhärten sich die Muskeln und Gewebe durch die energieaufwändige Daueranstrengung. Deshalb ist es wichtig, dass wir rechtzeitig erkennen, wenn wir im Stress landen und dass wir Wege kennen, um aus dem Muster herauszufinden.

Die Atmung dient uns auch als Indikator für unseren Zustand: Sind wir im Stressmodus oder im Entspannungszustand? Und wir können sie so lenken, dass wir von Stress „herunterkommen“ und zu einem ausgeglichenen inneren Fließen kommen, das es uns leicht macht, mit dem Außen zusammen zu fließen. Die Befreiung vom Stress ist gleichbedeutend mit dem Wiedererwerben der kreativen Beweglichkeit. 
 

Zum Weiterlesen:
Weiches besiegt das Harte
Atembewusstheit und Flexibilität