Donnerstag, 28. Juni 2018

Von Enttäuschungen zu Überraschungen

Mit Erwartungen strukturieren wir in unserer Innenwelt unsere Zukunft. Wir planen und visualisieren die kommenden Ereignisse am Morgen eines Tages. Wir betrachten den Terminkalender und sehen die eingetragenen Ereignisse, während wir uns vorstellen, wie sie ablaufen werden. Wir haben ganze Bilderbücher in unserem Kopf, in denen aufgezeichnet ist, was unsere Zukunft mit uns vorhat, vorhaben könnte oder vorhaben sollte.  

Natürlich repräsentieren all diese Bilder und Gedanken nicht die Wirklichkeit, sondern sind Produkte unserer Imagination, gespeist aus früheren und älteren Erfahrungen. Die Wirklichkeit ist nur im Jetzt, in diesem Moment. Unsere Imaginationen dienen unserer Handlungsorientierung und sollen uns die Sicherheit geben, dass die Zukunft unserer Kontrolle unterliegt. Wir wollen gefasst sein auf das, was vor uns liegt. Mit diesem Vorwissen können wir uns gut vorbereiten, sodass alles gut gehen wird – soweit es in unserer Macht liegt, soweit wir es kontrollieren können. 

Und diese Macht ist bekanntlich sehr begrenzt. Häufig stoßen wir an diese Grenzen; je mehr Erwartungen an die Zukunft wir haben, desto häufiger. Die Wirklichkeit hat anderes mit uns vor als wir geplant hätten. Ein Termin platzt, ein anderer geht sich wegen Verkehrsproblemen nicht aus, ein dritter verläuft ganz unvorhersehbar… 

Wir können aus der Wirklichkeit dieses Moments nicht zwingend auf die Wirklichkeit des nächsten Moments schließen. In sehr sehr vielen Fällen passiert, was passieren soll: Wir drücken auf eine Taste, und der gewünschte Buchstabe erscheint am Bildschirm. Meist sind unsere Prognosen und intuitiven Annahmen korrekt, meist funktioniert das Leben entsprechend unserer Planungen. Wir leben in einer Welt, die in hohem Maß berechenbar ist, soviele Sicherheiten haben wir bereits eingebaut. 

Es scheint allerdings unsere Grundunsicherheiten nicht zu vermindern, wenn all die technischen Geräte um uns herum fast immer funktionieren wie sie sollten, wenn sich Autofahrer an die Fahrregeln halten und Verkehrsmittel ohne gröbere Verspätungen unterwegs sind, wenn der Wetterbericht in vielen Fällen akkurat ist, wenn wir uns im Krankheitsfall auf ärztliche Hilfe verlassen können usw. Selbst wenn in diesem so engmaschigen Netz der Absicherungen, in dem wir leben (im Vergleich zu Menschen außerhalb der Komfort- und Luxuszonen dieser Welt), Unerwartetes passiert, reagieren wir mit einer Palette an Schutzgefühlen: Verunsicherung, Irritation, Ärger, Enttäuschung – Ausdruck von Ängsten, die mit dem Kontrollverlust zusammenhängen.  


Die Enttäuschung und der Opferkontext 


Die verlässliche Partnerin der Erwartung ist die Enttäuschung. Sie bleibt unsichtbar, solange alles nach Plan läuft. Und sie meldet sich prompt, wenn sich die Erwartung nicht erfüllt. Die Ent-Täuschung macht uns auf die Täuschung aufmerksam, die darin liegt zu vermeinen, dass wir mit unserem Denken die Zukunft kontrollieren könnten. Tatsächlich geraten wir in eine Opferhaltung gegenüber der Wirklichkeit, wenn wir der Enttäuschung unterliegen. Die Welt (=die anderen Menschen, die Umstände, die Politiker …) meint es nicht gut mit uns, sonst würde sie uns nicht so enttäuschen. Wir tun so, als wären unsere Erwartungen von der Realität ignoriert und abgewiesen worden, nach dem Motto: Wenn so ein Unglück passiert, kann das Leben nur gegen uns sein. Wir haben Pech und müssen nun damit hadern, sprich einen sinnlosen Kampf gegen das führen, was ohnehin schon geschehen ist. 

Von der Enttäuschung zur Überraschung 


Aus dem Opferkontext kommen wir heraus, wenn wir erkennen, dass wir diesen Kampf nicht gewinnen können. Folgen wir Wilhelm Busch: "Stets findet Überraschung statt – da, wo man’s nicht erwartet hat." Sobald wir wieder Verantwortung für unser Leben übernehmen, können wir die Enttäuschung in eine Überraschung übersetzen. Durch diesen Schritt öffnen wir den engen Gefühlshorizont der negativen Gefühle, die mit der Enttäuschung einhergehen. Überraschungen können angenehm oder unangenehm sein. Wenn uns das Angenehme an der nichterfüllten Erwartung auffällt, sind wir keine Opfer mehr, sondern können aus dem positiven Gefühl heraus handeln.  
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Hier zeigt uns das Märchen vom Froschkönig, worum es geht. Die Prinzessin ist enttäuscht vom Aussehen des Frosches, doch sie überwindet ihre Angst vor dem Küssen des hässlichen Mauls, und aus diesem Ekelgefühl erwächst eine Überraschung, als plötzlich der wunderschöne Prinz vor ihr steht. Wir müssen eine unangenehme Schwelle überwinden, dann erleben wir eine Überraschung. 

Von unangenehmen Überraschungen zu Herausforderungen 


Erleben wir die Überraschung als unangenehm, braucht es einen weiteren Schritt, um den Opferrahmen zu überwinden. Wir erleben Überraschungen als unliebsam, wenn wir nicht mit ihnen zurechtkommen oder das zumindest glauben. Es sind im Grund unvorhergesehene und ungeplante Herausforderungen, die uns vor neue Situationen stellen, für die wir noch keine Strategien entwickelt haben oder die uns so unbekannt und fremd erscheinen, dass wir meinen, wir könnten damit nicht zurechtkommen. Das Widrige an solchen Erfahrungen dreht sich, sobald wir erkannt haben, dass es da Neues zu lernen gibt. Wenn wir die Überraschung als Herausforderung anpacken, wachsen wir, indem sich unsere Möglichkeiten erweitern und neue Kompetenzen entstehen. Eine unangenehme Überraschung in eine Herausforderung umzumünzen, ist nicht immer leicht, aber immer mobilisiert ein solcher Schritt unsere Handlungsfähigkeit und Kreativität. 

In diesem Sinn können wir es sogar begrüßen, wenn sich unsere Erwartungen nicht erfüllen: Es bieten sich unverhoffte, unerwartete Chancen zum Lernen. Vielleicht zeigt sich zunächst wieder die Enttäuschung. Sie ist ja die Partnerin der Erwartung. Sobald uns jedoch einfällt, dass wir aus jeder Enttäuschung eine Überraschung machen können, entkommen wir der Opferrolle und übernehmen Verantwortung. Damit verlieren auch unangenehme Überraschungen ihren Schrecken, denn sie werden plötzlich spannende Herausforderungen zum Entdecken neuer Strategien und zum Mobilisieren von ungeahnten Energien. 

Mit der Zeit und mit der Übung wird sich dieser Zyklus beschleunigen: Die Phasen der Enttäuschung werden kürzer und der Punkt, an dem die Wendung zum Angehen der Herausforderung passiert, kommt rascher. Zusätzlich werden wir Erwartungen schneller als solche erkennen und ihnen weniger Gewicht in unserer inneren Landschaft einräumen. So erlernen wir die Metakompetenz im Umgehen mit Erwartungen und deren grundsätzlich unvermeidliche Frustrationen. Und auf diese Weise wächst unsere Gelassenheit und Akzeptanz gegenüber den Wechselfällen des Lebens. 

Leben mit Überraschungen 


Die Intention, mit der Bereitschaft und Offenheit für Überraschungen zu leben, verzichtet auf das angstgesteuerte Bedürfnis nach Kontrolle. Überall, wo sich dieses Bedürfnis zurückzieht, macht es Platz für mehr Freiheit. Es sind dann nicht mehr die in eine grundsätzlich unsichere Zukunft gerichteten Erwartungen, die die Fäden durch unser Leben ziehen und unser Innenleben strukturieren, sondern die Fokussierung auf den Moment und die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben. 

Überraschungen bieten Gelegenheit zum Lernen und Wachsen. Sie stellen Herausforderungen dar, zumindest an unsere Flexibilität, Spontaneität und Improvisationsfähigkeit. Je mehr wir das Leben nicht als vorgebahnte Folge von erwartbaren und berechenbaren Ereignissen sehen, sondern als Sprung von einem Moment zum nächsten, bei dem wir auf einem neuen Punkt landen, den wir erst erkunden müssen und in dem ganz neue Elemente entdeckt werden können. 

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