Montag, 29. September 2025

Ethik aus der Steinzeit in der Rechtspropaganda

In der Debatte um Charlie Kirk sollte es weniger darum gehen, den Charakter des Attentatsopfers zu beurteilen (ob er ein „Guter“ oder ein „Böser“ war), sondern eher darum, was aus der Form der Propaganda, die er für rechtskonservative und rechtsextreme Richtungen in den USA betrieben hat, gelernt werden kann und was passiert, wenn diese Propaganda in die Politik eingreift. 

Die Basis der Werthaltungen und der Ethik und Theologie der von Kirk vorgebrachten Argumente und Argumentationslinien liegt weit zurück auf einem vormodernen, voraufklärerischen Niveau, genauer gesagt, vor der jungsteinzeitlichen Wende vor ca. 10 000 Jahren. Man kann deshalb mit Fug und Recht sagen, es handelt sich um ein steinzeitliches Moralverständnis. Das ist keine Abwertung, sondern eine historische Zuordnung. Dennoch wurde dieser Ansatz mit einer selbstüberzeugten Naivität vorgebracht, die zweieinhalb tausend Jahre der Geistesgeschichte souverän ignoriert. Das Gehirnschmalz einer großen Zahl von geistigen Größen und mutigen Erforschern der Grenzen des Wissens scheint angesichts der Ergüsse von Kirk und ähnlichen Propagandisten sinnlos vergeudet. 

Dieses skurrile Phänomen wäre weiter nicht erwähnenswert, hätte diese Art des Denkens und Wertens nicht Millionen von begeisterten Anhängern und wäre sie nicht die staatstragende Ideologie der weit nach rechts abgedrifteten US-Administration. Wir wissen aus der Geschichte des Faschismus und des Nationalsozialismus, dass vormoderne Ideologien zusammen mit hochmodernen Technologien eine explosive Mischung bilden, die letztendlich in Grausamkeiten und Gewaltorgien münden. Die menschliche Vernunft ist in einer beständigen gedanklichen Weiterentwicklung im Lauf der menschlichen Geschichte entstanden. Diese Entwicklung zu vernachlässigen, rächt sich, weil der Bezug vor allem zur sozialen Wirklichkeit verlorengeht. Ohne Vernunft bleibt die Emotionalität als Hauptquelle der Wahrheitsfindung, der Wirklichkeitserkennung und der Moral, und dafür ist sie nur sehr eingeschränkt brauchbar. 

Ohne Vernunft keine Ethik für komplexe Gesellschaften

Für die Regelung der sozialen Belange einer Menschheit, die über 8 Milliarden Personen umfasst, ist unsere Emotionalität nicht ausgestattet. Die Evolution hat sie für kleinere Gruppen ausgeformt, in denen sich die einzelnen Mitglieder gut kennen (face-to-face). In solchen Großfamilien haben die Menschen und ihre direkten Vorfahren über Millionen von Jahren gelebt. Erst seit der Jungsteinzeit sind übergeordnete soziale Gebilde entstanden, Fürstentümer, Staaten und Großreiche, in denen neue ethische Normen eingeführt werden mussten, die nicht durch die Grundemotionen abgedeckt waren.

Denn die Grundemotionen (Angst, Scham, Zorn, Traurigkeit, Freude und Interesse) dienen nur dazu, das soziale Leben in überschaubaren Gruppen zu regulieren. Für größere Verbände reichen die hormongesteuerten Gefühle nicht aus. Zum Beispiel hat das als Liebeshormon bekannte Oxytocin die Schattenseite, neben Liebesgefühlen für die Nächsten feindselige Gefühle gegen Fremde auszulösen. Um also von der Fürsorge für die Nahestehenden zum Respekt für Unbekannte und Fremde zu kommen, brauchen wir die Fähigkeiten höher entwickelter Gehirnteile, vor allem das Frontalhirn mit seiner komplexen Denkfähigkeit. Wir erkennen zwar ohne Nachdenken, was ein Mensch und was ein Tier ist, aber es ist nicht selbstverständlich, dass wir den unbekannten Menschen, denen wir begegnen, die gleiche Achtung und den gleichen Respekt entgegenbringen wie unseren Familienmitgliedern.

Von der Nächsten- zur Feindesliebe

Es ist der Schritt, der in der Bibel als Entwicklung von der Nächsten- zur Fremden- und gar zur Feindesliebe beschrieben ist. Buddha hat von einem universellen Mitgefühl gesprochen, das allen fühlenden Wesen gebührt. Um auf dieses weiter entwickelte moralische Niveau zu gelangen, benötigen wir die höheren Denkleistungen, mit deren Hilfe wir schließlich auch abstrakte Modelle wie die allgemeinen Menschenrechte oder den sozialen Ausgleich mit Benachteiligten und Schwächeren in der Gesellschaft verstehen können. 

Wir verfügen zwar über die Grundfähigkeit zur Empathie, zur Einfühlung in andere Lebewesen, also zum Nachvollziehen dessen, was sich im Gefühlserleben der Mitmenschen abspielt. Diese Fähigkeit ist uns nur zugänglich, wenn wir uns in einem entspannten Zustand befinden. Sind wir mit uns selbst in einer guten Verbindung, fällt es uns leicht, mitzubekommen, wie die Leute um uns herum gerade ticken. So können wir auch helfend und unterstützend eingreifen, wenn sich jemand in Not befindet. Über diese Fähigkeit verfügen schon Kleinkinder. Es braucht aber die Mitwirkung des frontalen Großhirns, um das Mitgefühl auf einen größeren Kreis von Menschen und schließlich auf die ganze Menschheit oder den ganzen Kosmos ausweiten zu können. 

Moralische Unreife aus Angst

Jeder Rechtsruck, also jedes Vordringen von vor-aufklärerischen Ideologien zeigt, dass viele Teile der Gesellschaft entweder noch nicht reif sind für dieses Niveau von Ethik und gesellschaftlicher Verantwortung oder dass sie unter dem Druck von Ängsten auf ein niedrigeres Niveau zurückgefallen sind. Die Anfälligkeit für rechte und rechtsextreme Propaganda ist nur bei Menschen gegeben, die auf ihre Vernunft verzichtet haben oder sich ihrer nicht bedienen können. Mit der fehlenden Reife ist gemeint, dass die kognitive Bildung und die Herzensbildung fehlen, die notwendig sind, um die vermeintliche Absolutheit der eigenen Standpunkte hinterfragen zu können. Die Fähigkeit zur Reflexion muss geübt werden, damit sie in die eigenen Einstellungen und Werthaltungen einfließen kann. Wer nie in den Genuss einer mittleren oder höheren Schulbildung gekommen ist, wird sich mit komplexeren Formen des moralischen Urteilens schwertun. Wer nie die Macht der Traumatisierungen verstanden hat, die die Fähigkeit zum Mitfühlen schwächt,  und der nie die Chance hatte, an ihnen zu arbeiten, bleibt gefangen im Käfig der Selbstbezogenheit. In unseren Breiten sind es deshalb vor allem die aus Traumatisierungen stammenden Ängste, die die Menschen auf einfachere Stufen in der Ethik zurückfallen lässt, für die es genügt, Empathie mit sich selbst zu haben und vielleicht auch noch mit vertrauten Mitmenschen. 

Die Verursachung von Daueraufregung, die Empörungsökonomie, hat genau den Sinn, die Aktivierung der erweiterten Empathie zu unterbinden. Versetze deine Mitmenschen andauernd in Angst, indem du ein drohendes Katastrophenszenario nach dem anderen vor ihnen ausbreitest, und schon sind sie ihres Mitgefühls enthoben, was sie dann im Notfall nicht zögern lässt, auch über Leichen zu gehen. Denn für Feinde, die einen bedrohen, braucht es kein Verständnis, sondern ein hartes Vorgehen.

Herzensbildung als Voraussetzung für die vernunftgeleitete Ethik

Je einfacher das Niveau der moralischen Argumentation ist, desto leichter kann es mit Angst aufgeladen werden. Denn die kritischen Instanzen, die prüfen können, ob den Ängsten reale Bedrohungen gegenüberstehen, stehen nicht zur Verfügung, weil sie eben gerade von den Ängsten blockiert werden. Es wird dann gewissermaßen aus dem Bauch heraus entschieden, ob eine Angst berechtigt ist, die jemand im Außen anstößt. Der Bauch kann allerdings die Wirklichkeit nicht erforschen, sondern trifft seine Einschätzungen auf der Grundlage von früher eingeprägten Angsterfahrungen.

Aus dieser Perspektive ist es damit vor allem die Herzensbildung unerlässlich, denn Menschen orientieren sich auch wider besseres Wissens nach rechter Propaganda. Unter Herzensbildung verstehe ich die bewusste Auseinandersetzung mit den eigenen Ängsten und Schamgefühlen, die uns daran hindern, in unseren moralischen Urteilen und Haltungen über die engsten Kreise von vertrauten Menschen hinaus zu wachsen. Wenn es uns gelingt, das, was unser Herz verhärtet hat, weich werden zu lassen, dann sind wir in der Lage, unser Mitgefühl dorthin zu richten, wo es am notwendigsten gebraucht wird, zu den Leidenden und Schwachen in unserer Nähe und überall sonst.

Zum Weiterlesen:
Die Empörung - Motivation und Polarisierung
Intensitätssuche und Gewalt


Mittwoch, 24. September 2025

Einsamkeit und Totalitarismus

Einsamkeit und Alleinsein

Die Einsamkeit ist ein schwerwiegender Leidenszustand. Sie hat nichts mit dem Alleinsein zu tun. Wer alleine ist, ist mit sich beschäftigt und kann mit sich selbst reden. Es kann ein produktiver Zustand sein, in dem neue Ideen entstehen oder einfach die Stille genossen wird. Im Alleinsein wissen wir, dass wir leicht jemanden für ein Gespräch finden können, wenn wir es brauchen. Wir fühlen uns sicher mit uns selbst und in unserer sozialen Umgebung.

Die Einsamkeit dagegen wird belastend und quälend erlebt. Denn sie ist ein Zustand der Beziehungslosigkeit, der oft mit einer gestörten Beziehung zu sich selbst einhergeht. Da wir im Gespräch miteinander kommunikative Wirklichkeiten erschaffen, führt der Mangel an solchen Wirklichkeiten zum Zweifel an sich selbst, zu einem Verlust an Wirklichkeit und damit auch an Wirksamkeit. Dazu kommt der Sinnverlust: Sinn kann nicht aus Mangel entstehen, sondern aus dem Austausch mit anderen und aus der wechselseitigen Bestätigung, die wir uns dabei geben. Oft wird also die Einsamkeit von Gefühlen der Irrealität und der Sinnlosigkeit begleitet und erzeugt Depressionen.

Verlassensein und nicht gesehen werden

Die Wurzel der Einsamkeit liegt in einem Verlassenwerden. Jemand, der einem sehr wichtig war, ist weggegangen. Diese Erfahrung müssen alte Menschen machen, die ihre Lebenspartner verlieren. Oft sterben sie bald nach dem Tod des Partners, vor allem, wenn es ihnen nicht gelingt, neue soziale Kontakte aufzubauen, die ihrem Leben Orientierung und Sinn geben. 

Die tiefere Wurzel liegt allerdings meist in sehr frühen Erfahrungen. Seit den Forschungen zur Bindungstheorie nach John Bowlby wissen wir, dass Kleinkinder verlässliche und resonante Beziehungen zu Erwachsenen brauchen, um sich sicher zu fühlen und um gesund aufwachsen zu können. Resonanz bedeutet dabei, dass die erwachsene Person die Bedürfnisse des Kindes verstehen und adäquat darauf reagieren kann. Dann fühlt sich das Kind erkannt und in seinem Sein bestätigt. Fehlt diese Resonanz, so entsteht ein Einsamkeitsgefühl, auch wenn andere Menschen da sind: „Niemand sieht mich.“ Und: „Niemand kann mich trösten.“ Diese frühe Einsamkeit ist mit Gefühlen von Hilflosigkeit und Ohnmacht verbunden. Das Kind hat den Eindruck, verlassen worden zu sein, ohne Chance, die lebenswichtigen Kontakte wiederbeleben zu können. Aber auch die Scham ist eine mächtige Begleiterin dieser schlimmen Erfahrungen. Denn das Unbewusste zieht den Schluss aus dem Nichtgesehenwerden: „Ich bin so verlassen, weil ich es nicht wert bin, von anderen wahrgenommen genommen zu werden.“ Ein existenzielles schamerfülltes Unwertgefühl prägt sich in die Seele ein.

Eine noch tiefere Quelle der Einsamkeit taucht bei Menschen auf, die im Mutterleib einen Zwilling verloren haben. Sie waren von der Empfängnis an mit einem anderen Menschenwesen aufgewachsen, in einer intensiven Beziehung. Und dann ist etwas Grauenhaftes passiert – das Zwillingsgeschwister ist verloren gegangen, ist verschwunden, und plötzlich klafft ein riesiges Loch. Es kommt zu Gefühlen von Angst, Verwirrung, Wut und Scham, und schließlich bleibt nur mehr die Einsamkeit als quälender Zustand.

Die Wiederbelebung von frühen Einsamkeitserfahrungen

Verlusterlebnisse, die später im Leben auftreten, beleben solche Früherfahrungen des Verlassenwerdens aufs Neue, und all die Gefühle von Einsamkeit, Ohnmacht und Sinnlosigkeit tauchen mit voller Wucht auf und können Erwachsene aus ihrer Lebensbahn herausreißen. Oft hindert sie die aus den Mangelerfahrungen erworbene Bedürftigkeitsscham daran, therapeutische Hilfe zu suchen. Denn die Kompensation aus der kindlichen Erfahrung der Missachtung besteht darin, das Leben alleine schaffen zu müssen.

Das wichtigste Heilungsmittel, das die Psychotherapie anbieten kann, ist die bedingungslose und wertschätzende Beziehung. Sie dient dazu, den Mangel an Resonanz durch Empathie aufzufüllen und das Fehlen des Wahrgenommenseins durch aufmerksames Zuhören auszugleichen. Dadurch kann das Leiden an der Einsamkeit durch eine neue Erfahrung der zugewandten und liebevollen Präsenz überschrieben werden. Die Schamgefühle lösen sich auf, wenn das Gegenüber vermitteln kann, dass das eigene Sein geschätzt wird und dass alle Gefühle in Ordnung sind.

Einsamkeit als Wurzel für Autokratien

Die Philosophin Hannah Arendt hat den Zusammenhang zwischen Einsamkeit und Totalitarismus erforscht. Sie war der Auffassung, dass die Einsamkeit eine wesentliche Bedingung für die Entstehung von totalitären Regimen darstellt. Solche Herrschaftsformen entstehen auf dem Boden von gesellschaftlicher Zerrüttung, durch die Brüchigkeit von sozialen Bindungen, die durch sozioökonomische Krisen hervorgerufen werden. Wenn die Menschen den Eindruck haben, dass ihre Regierungen nicht mehr in der Lage sind, die bestehenden Probleme zu lösen, geraten sie in Zustände von Hilflosigkeit und Ohnmacht, bei denen autokratische Herrschaftsformen als einziger Ausweg erscheinen. 

Außerdem sind Menschen, wenn sie sich einsam und verlassen vorkommen, leichter manipulierbar. Es fehlt ihnen an kritischer Reflexion, die nur im Dialog entstehen kann, und an einer konstruktiven Selbstbeziehung, durch die sie ihre Werte und Einstellungen schärfen könnten. An die Stelle der autonomen Selbstbestimmung und Verantwortungsübernahme treten Ideologien, die eine Erklärung für alle Missstände anbieten und versprechen, die Einsamkeitsgefühle durch ein kollektives Wir-Gefühl („Wir sind das Volk“) zu überwinden. Der verlorengegangene Sinn wird von der Ideologie geliefert, an die bedingungslos geglaubt wird, weil sie den Anker für die eigene Daseinsberechtigung liefert.

Vermischung von Ideologie und Religion

Besonders effektiv für diese Zwecke eignen sich Ideologien, die sich mit religiösen Glaubensformen verbinden. So wird z.B. die Putin-Ideologie von der Wiederherstellung des Sowjetimperiums von der russisch-orthodoxen Kirche unterstützt. Aktuell können wir beobachten, dass sich die rechte MAGA-Bewegung von Donald Trump von einer säkularen Ideologie zu einer sektenartigen religiösen oder pseudoreligiösen Glaubensgemeinschaft verwandelt. Die Trauerfeier für den MAGA-Propagandisten Charlie Kirk war ein religiös aufgemotztes Massenspektakel, bei dem die Grenzen zwischen Glaube und Aberglaube zum Verschwimmen gebracht wurden. 

Die Kombination von Ideologie und Religion soll die Menschen noch stärker an die Gruppe (Gemeinschaft) binden und jede Form von kritischer Reflexion überflüssig machen. Die Entindividualisierung, die in der Massenhysterie geschieht, hebt für den Moment alle Einsamkeits- und Ohnmachtsgefühle auf. Auf diese Weise werden Menschen geformt, blinden Gehorsam und kritiklose Unterordnung zu zeigen – eine gestaltbare Masse, die willenlos den Zwecken des Autokraten dient. Mit dieser Machtbasis gelingt es dann, alle, die ihre geistige Unabhängigkeit außerhalb der Ideologiegemeinschaft bewahren konnten, zu unterdrücken und mundtot zu machen. Der Einheitsstaat mit einer Ideologie, einer Glaubensform und einer einheitlich fühlenden und denkenden Bevölkerung ist der Traum aller Diktatoren, mit dem sie ihre eigenen Einsamkeitstraumen verdrängen können.

Die Geschichte zeigt, dass alle Versuche von Gemeinschaftsbildungen auf der Grundlage von autoritärer Herrschaft und religiös verbrämter Ideologie in Gewalt münden und schließlich durch Gewalt untergehen. Es scheint, dass Teile der Menschheit diese bekannten Zusammenhänge in eigenen schmerzhaften Erfahrungen erleben müssen, um von solchen Scheinhoffnungen geheilt zu werden. Der Preis ist, wie wir auch aus der Geschichte wissen, immens hoch und belastet das kollektive Gewissen auf Generationen hinaus.

Zum Weiterlesen:
Einsamkeit und Sehnsucht
Digitale Einsamkeit und Covid
Die Trennungstheorie und wie wir wieder eins mit uns werden
Essenzdenken und Gewalt
Die Verharmlosung von Diktatoren und die Demokratie


Dienstag, 23. September 2025

Die Empörung – Motivierung oder Polarisierung

Die Empörung ist ein Gefühl, das vor allem auf Ungerechtigkeiten bezogen ist, die einem selbst widerfahren sind, aber auch und vor allem solche, von denen andere betroffen sind, bis zur Gesellschaft, in der wir leben, und bis hin zur Menschheit als ganzer oder sogar bis zur Natur. Sie ist eine kurzfristig wirksame Emotion, die aber politisch immer wieder für langfristige Strategien genutzt wird.

Die Empörung ist an und für sich ein Motivator für Engagement. Sie hat dazu geführt, dass die Frauenrechte und die Bürgerrechte in den USA, die jetzt dort wieder von rechten Demagogen in Frage gestellt werden, eingeführt werden konnten. Wenn Menschen sich zusammenschließen, organisierte Gruppen bilden, können sie ihre Empörung in effektive Handlungen überführen, die zu sozialen Verbesserungen führen. Verbunden mit kritischer Reflexion, theoretischen Begründungen und ethischer Vernunft treibt die Energie der Empörung (der „heiligen Wut“)  den gesellschaftlichen Fortschritt voran.

Findet die Empörung aber keine konstruktiven Wege, so kann sie in Resignation umschlagen oder dazu verleiten, dass autoritäre Führer gesucht werden, von denen die Durchsetzung der Gerechtigkeit erwartet wird. Demagogen nutzen deshalb die Empörung, um Anhänger um sich zu scharen. Sie schüren die Wut unter ihren Anhängern, damit ihnen diese zur Macht verhelfen. 

Das Empören versetzt den Körper in einen Sympathikuszustand. Es kommt zu einer Handlungsbereitschaft aus einer Mischung aus Angst und Erfolgserwartung (Adrenalin und Dopamin). Sind es aber nur Stresshormone, die die Empörung am Kochen halten, so tritt die Aktivierung auf der Stelle, weil die konstruktive Zielorientierung fehlt. Die Menschen befinden sich dann in einem Zustand, in dem sie leichter lenk- und manipulierbar sind. Die Vernunft und das kritische Denken ebenso wie ethische Motive treten in den Hintergrund. Es werden keine Argumente abgewogen; stattdessen soll sofort etwas getan werden. 

Empörung und Manipulation

Vor allem die Rechtsparteien schöpfen aus dem Reservoir von enttäuschten empörten Menschen. Um sie bei der Stange zu halten, muss die Empörung immer wieder aufgefrischt werden. Deshalb werden in der Rechtspropaganda kontinuierlich Informationen hinausgeschleudert, die die Menschen aufregen sollen. Damit wird die Empörung, die eigentlich eine kurzfristig wirksame Emotion darstellt, chronifiziert, und es wird ein Trigger aufgebaut, der auf Reizworte trainiert wird und automatisch anspringt, sobald das Schlagwort fällt. Suchtartig werden dann diese Reize gesucht,      wie der Rezeptor einer Nervenzelle im Gehirn, der seinen gewohnten Botenstoff einfordert. Damit entsteht die Empörungssucht. Es geht nicht mehr um eine konstruktive Veränderung, sondern 

Deshalb sind konstruktive Ideen für die Zukunft rar in der Propaganda und Programmatik der Rechten. Es geht nur darum, die Quellen der Empörung zu beseitigen: Die Ausländer, die „Eliten“, die Linken, die geschlechtlich nicht Einordenbaren, die „Klimahysteriker“, die Vegetarier und Radfahrer, die „woken“ Kulturschaffenden, die schwerfällige Demokratie, die EU – und schließlich die Juden. Wenn das Böse einmal ausgerottet ist, ist automatisch alles gut. Alle können ihren Schweinsbraten genießen, nach Lust und Laune Auto fahren, die eigene Nationalität zelebrieren und müssen keine fremden Sprachen mehr hören. Für diese Form von Lebensqualität unter Ausschluss all dieser Störquellen treten die Rechtsparteien ein. 

Der Ruf nach „Männern der Tat“ oder nach „starken Männern“, der häufig am Gipfelpunkt von Empörungswellen erschallt, hat in der blinden Handlungswut, mit der die Angst- und Aggressionsenergie der Empörung abgebaut werden soll, seinen Ursprung. Weil man selbst schwer den Mut aufbringt, riskante Handlungen zu setzen, sucht man nach jemandem, der das für einen erledigt. Am rechten Rand des politischen Spektrums bieten sich schambefreite Gestalten an, die bereit sind, das „schmutzige Geschäft“ zu erledigen.

Hier unterscheiden sich die Empörungszusammenballungen auf der linken und auf der rechten Seite. Zur linken Ideologie gehört die Entpersonalisierung gesellschaftlicher Konflikte (z.B. ist der Kapitalismus schuld an sozialer Ungerechtigkeit und nicht einzelne Kapitalisten). Die rechten Ideologien personalisieren gerne Konflikte, indem sie Schuldige oder Sündenböcke für sie benennen. Sie haben den Vorteil, dass klar ist, wer bekämpft werden muss: Einzelne Bösewichter oder verschworene oder dekadente Gruppen.

Die Linken wollen den Staat, der Ungerechtigkeiten unterstützt, stürzen oder das Wirtschaftssystem, das Ungleichheiten produziert, abschaffen und durch ein besseres ersetzen. Sie sind wohl deshalb seit Jahrzehnten auf dem Rückzug, weil klar geworden ist, dass der Kapitalismus politisch nicht in die Knie gezwungen werden konnte und vielleicht auch in Zukunft nicht entmachtet werden kann. 

Die Empörung der Coronaleugner

Ein besonderes Empörungsszenario pflegen die Maßnahmen- und Impfgegner der Corona-Pandemie. Obwohl die Pandemie seit einigen Jahren abgeklungen ist, pflegen sie ihre Empörung weiter.  Immer wieder finden sich Leute, die angebliche massive Impfschäden „wissenschaftlich“ bestätigen oder scheinbare Verschwörungen der Mächtigen um die Coronamaßnahmen aufdecken. Das Bewusstsein der Ungerechtigkeiten, die viele in dieser Zeit erlebt haben, wird mit dem Schüren der Empörung aufrechterhalten. Und wieder sind es die rechten und rechtsextremen Parteien, die sich dieser Anliegen annehmen und sie in ihre Empörungskreisläufe einbauen.

Die Empörungsökonomie

Die Aufmerksamkeit gilt im digitalen Kapitalismus als eine der wichtigsten Geldquellen. Wer möglichst viel Aufmerksamkeit auf sich zieht, wird zum Multiplikator für Themen, mit denen Empörungswellen ausgelöst werden. Und jede solche Welle ist Goldes wert, denn sie löst starke Gefühle aus, motiviert die Empörten zu schnellen Reaktionen (Wutpostings) und zum leichten Weiterverbreiten, um die „Freunde“ im Netzwerk mit der Empörung anzustecken. Klicks und wellenartige Ausbreitungen im digitalen Feld lassen die Kassen klingeln. Da die Rechtsparteien die Orgel der Empörungsentfesselung am besten beherrschen, ist es verständlich, dass jene, die im digitalen Mediengeschäft absahnen, diese Parteien wort- und tatkräftig unterstützen. In der Folge werden die digitalen Plattformen zu Propagandaschleudern für die rechten und rechtextremen Ansichten – die Erfolge der demokratiefeindlichen Parteien zeugen von diesem Trend.

Zum Weiterlesen: 
Die Zumutung der Wahrheit
Demokratie und Gefühle


Donnerstag, 18. September 2025

Die heimliche Freude bei politischer Gewalt

Es gibt Videos, auf denen man sieht, wie Araber feiern, wenn Juden getötet werden, und wie Juden feiern, wenn Araber getötet werden. (Die Videos können für Propagandazwecke gefälscht sein, aber solche Vorkommnisse gibt es immer wieder). Es gibt angeblich Menschen, die die Ermordung von Melissa Hartman, und andere, die das Attentat auf Charlie Kirk gefeiert haben. Selbst Barack Obama ließ es sich nicht nehmen, live die Festnahme und Ermordung von Osama bin Laden zu verfolgen und sich daran zu ergötzen. 

Was bringt Menschen dazu, Freude zu empfinden, wenn andere umkommen?

Die tribalen Wurzeln 

Die Menschen haben die längste Zeit ihrer Geschichte in Stämmen verbracht, überschaubaren Gruppen, die durch ein Wir-Gefühl zusammengehalten wurden, in Abgrenzung zu den anderen Gruppen, die oft als Feinde erlebt wurden, vor allem, wenn die Ressourcen knapp waren. Die Bedrohung von außen wird geringer, wenn ein Mitglied der Die-Gruppe umkommt, vor allem, wenn es ein mächtiges Mitglied dieser Gruppe war. Die Freude über den Tod stammt aus der Erleichterung, aus der Entlastung von der Bedrohung. Ähnliches kann im Inneren passieren, wenn sich Leute zuprosten können, weil sie gerade sehen, wie die Bomben im Feindesland niedergehen.

Wir leben längst in riesigen Großgruppen, in vielgestaltigen Gesellschaften, aber noch immer wirken diese archaischen Dynamiken aus dem Unterbewusstsein mit. Um die Komplexität der Gesellschaft übersichtlicher zu gestalten, basteln wir uns eine Vereinfachung nach dem Wir-Die-Schema, die Guten und die Bösen. Alles, was die Bösen schwächt, macht uns sicherer und erleichtert uns – scheinbar ein Grund zum Feiern.

Das Absprechen der Menschlichkeit

Zur Gewaltausübung ist ein weiterer Schritt notwendig. Er besteht darin, dass Gegnern und Feinden das Menschsein abgesprochen wird. In manchen Stammesgesellschaften war die Bezeichnung „Mensch“ auf die Angehörigen des Stammes beschränkt (z.B. die Allemannen – all die sind Menschen, die zu uns gehören). Die Scham hindert daran, den Mitgliedern der eigenen Gemeinschaft Leid zuzufügen. Wer aber im Sinn der Eigendefinition kein Mensch ist, dem kann schamlos Gewalt angetan werden.

Die Propaganda im Nationalsozialismus hat zunächst den Juden das Menschsein abgesprochen, indem sie als Ungeziefer oder Schädlinge bezeichnet wurden. Mit dieser rhetorischen Entmenschlichung werden die Hemmschwellen gesenkt, solche Menschen umzubringen und darüber Genugtuung zu empfinden, weil ja scheinbar durch die Morde Schaden abgewendet werden konnte. 

Die Personifizierung des Bösen

Viele Ideologien nutzen diese Mechanismen, um Gewalt zu rechtfertigen. Das komplexe Böse (z.B. der Kapitalismus oder die Migration) wird personifiziert; dadurch kann es bekämpft werden. Bestimmte Menschen werden als symbolische Repräsentation eines „bösen Systems“, einer korrupten Elite oder eines verschworenen Zirkels angesehen. Wenn sie einem Attentat zum Opfer fallen, entsteht der Eindruck, dass die anonyme Macht des Bösen angreifbar ist und geschwächt wurde. Im aktuellen Fall ist ein Repräsentant der Trump-Bewegung MAGA erschossen worden, und das kann bei vielen, die die Machtzusammenballung und die Schamlosigkeit dieser Bewegung und der von ihr gestellten Regierung, eine Genugtuung ausgelöst haben, eine Art von Schadenfreude, die ihre Wurzel in der Schwächung der Gefahr und Bedrohung besteht. Die erlittene Frustration findet einen innerpsychischen Ausgleich im Sinn einer Rache oder einer wiederhergestellten Gerechtigkeit. Diese Gefühlsabläufe spiegeln sich darin wieder, dass in vielen Kommentaren darauf hingewiesen wurde, dass das Opfer des Attentats in seinen Reden immer wieder betont hat, wie wichtig ihm der Privatbesitz von Waffen ist und dass für dieses Recht eine große Zahl von Todesopfern in Kauf genommen werden muss. Zu erkennen, wie jemand zum Opfer der eigenen gewaltgetränkten Rhetorik wird, hat offensichtlich bei manchen eine „klammheimliche Freude“ ausgelöst. 

Die "klammheimliche Freude"

Dieser Ausdruck wurde übrigens im Zusammenhang mit den Terroraktionen der Roten Armee-Fraktion gebraucht. In einem zunächst anonymen Text „Buback – ein Nachruf“ schrieb der Autor:

„Meine unmittelbare Reaktion, meine ‚Betroffenheit‘ nach dem Abschuß von Buback ist schnell geschildert: Ich konnte und wollte (und will) eine klammheimliche Freude nicht verhehlen. Ich habe diesen Typ oft hetzen hören. Ich weiß, daß er bei der Verfolgung, Kriminalisierung, Folterung von Linken eine herausragende Rolle spielte.“ (1977)

Diese Stelle entfesselte eine hitzige Debatte in Deutschland; der Satz, der weiter unten im Text steht, wurde dagegen kaum diskutiert: 

„Wir alle müssen davon runterkommen, die Unterdrücker des Volkes stellvertretend für das Volk zu hassen.“

Das erste Zitat beschreibt recht treffend die Gefühlsabläufe bei dieser Form der Freude: Eine Person stellte eine Gefahr dar und hat dadurch Ängste und Frustrationen erzeugt. Deshalb fühlt es sich gut an, wenn sie tot ist. Im zweiten Zitat geht es um den Ausstieg aus dieser Dynamik, der durch die Hilfe der Vernunft zustande kommt: Wir müssen aus dem Hass aussteigen und aus der Personifizierung von unvollkommenen Zuständen. Die Zustände werden keinen Deut besser, wenn eine Person getötet wird. 

Von der Scham zum Mitgefühl, vom Mitgefühl zur Vernunft

Das Mitgefühl, das bei dieser Gefühlsdynamik auf der Strecke bleibt, meldet sich erst, wenn die Überwindung der Schamschranke, die vor jeder Gewaltanwendung und auch vor jeder Verherrlichung von Gewalt warnt, zurückgenommen wird. Die Scham über das Gutheißen von Gewalt oder über die Freude über Morde öffnet die Tür zum Mitgefühl mit den Opfern. Ein wertvolles Mitglied der Menschheitsfamilie ist zu Tode gekommen, das muss betrauert werden. Es gibt Angehörige, die ein schweres Schicksal erlitten haben.

Über das Zulassen der Scham und des Mitgefühls wird das Bewusstsein frei für den Gebrauch der Vernunft. Sie führt heraus aus den tribalen Bindungen, aus den Tendenzen zur Entmenschlichung und Personifizierung des Bösen. Sie macht uns deutlich, dass wir unsere Probleme als Menschheit nur gemeinsam und ohne Gewalt lösen können.

Zum Weiterlesen:
Intensitätssuche und Gewalt
Auf dem Weg zur Hassgesellschaft?
Obama und die Fratze der materialistischen Demokratie


Dienstag, 16. September 2025

Intensitätssuche und Gewalt

Manche Menschen wollen ihr Leben lang eine ruhige Kugel schieben, nach dem Motto: Nur keine Wellen. Andere suchen überall den Kick, das Herausfordernde und die Intensität. Sie geraten leicht in Langeweile, wenn nichts Besonderes passiert. Ohne Intensität wird es fad, aber zu viel Intensität erzeugt Dauerstress. Wo liegen die Hintergründe der Suche nach Intensität?

Intensive Erfahrungen führen im günstigen Fall zur Ausschüttung von Glückshormonen (Endorphine und Oxytocin) und werden deshalb immer wieder gesucht. Wir verfügen über ein Dopaminsystem, das uns nach Belohnungen Ausschau halten lässt. Es motiviert uns dazu, aus dem Alltagstrott mit seinen Routinen auszubrechen und neuartige Erfahrung zu machen. Man nennt diese Dynamik in der Psychologie die Suche nach Reizen oder Sensationen („sensation seeking“).

Psychologische Untersuchungen haben ergeben, dass dieses Verhalten besonders im Alter von 20 bis 25 Jahren auftritt, eher bei Männern als bei Frauen. Es gibt ein Kontinuum zwischen dem Suchen von Erfahrungen (experience seeking), dem Suchen nach Sensationen (sensation seeking) bis zum Suchen nach Spannung (thrill seeking). Dabei geht es in unterschiedlichen Graden darum, die Grunderregung des Nervensystems zu erhöhen. Ein niedrig erregtes Nervensystem wird von Personen, die unter Intensitätsmangel leiden, häufig als unangenehme Langeweile interpretiert.

Gewalterfahrung als Intensitätserleben

Die Suche nach Intensität motiviert dazu, Risiken einzugehen, die mit einem teilweisen Kontrollverlust verbunden sind. Der Kick besteht gerade darin, sich gefährlichen Situationen mit vielen Unwägbarkeiten auszusetzen und sich darin zu behaupten. Das Erleben von Intensität in einer sicheren Umgebung soll die Fähigkeit trainieren, den Kontrollverlust auszuhalten, als Coping-Mechanismus. 

Jugendliche, die besonders zur Intensitätssuche neigen, nutzen offenbar zunehmend die Übungsmöglichkeiten mit Intensität, die durch Online-Spiele angeboten werden. Es geht dabei um die Spannung, die im Verlauf des Spieles zu immer höherer Intensität gesteigert wird. Oft spielt die Einübung in Gewalt eine wichtige Rolle, indem im Spiel virtuelle Gegner vernichtet werden, was Erfolgs- und Lustgefühle in der Regel auslöst. Manche, die zu stark in die Trance dieser digitalen Welt eingetaucht sind, merken dann kaum einen Unterschied, wenn die Virtualität in die Realität übergeht, wie vielleicht der Attentäter von Charlie Kirk in Utah. 

Das Kennenlernen der Intensität von Gewalt ist ein wichtiger Schritt im Prozess des Erwachsenwerdens. Es geht dabei um das Sammeln von Erfahrungen mit der Täterrolle. Während in der Kindheit meist die aus der Opferrolle vorherrscht, dient die Pubertät zum Ausstieg aus der Rolle durch die Übernahme von mehr Selbstverantwortung. Wenn Eltern physische oder emotionale Gewalt ausgeübt haben, ist es schwer und zugleich besonders verführerisch, in dieser Zeit in die Täterrolle zu gehen. Das Online-Gaming kann diese Brücke bereitstellen, ohne allerdings eine adäquate Unterstützung für die Bewältigung bereitstellen zu können. Denn die Abhängigkeit von Bestätigungserlebnissen von der virtuellen Welt stellt, psychologisch betrachtet, nur eine Verlängerung der Kindheitsposition dar. 

Umso verlockender kann es sich dann dem Jugendlichen im Emanzipationsprozess darstellen, reale Möglichkeiten zur Gewalterprobung zu nutzen. Die Schwelle zur realen Gewalt wird mit Hilfe des Hasses überwunden, wie im letzten Artikel dargestellt. Das Internet bietet vielfältige Anregungen, um sich mit Opfern zu identifizieren und Hass auf die Täter aufzubauen. Die Kettenreaktion von der Frustration zum Hass und dann zur Gewalt besteht in einer Steigerung der psychischen Intensität von Schritt zu Schritt. Der Kulminationspunkt ist dann die vollbrachte Gewalttat. 

Wiederholungszwang

Die Suche nach Intensität kann leicht suchtartige Züge annehmen („Adrenalin-Junkies“). Dazu kommt es vor allem, wenn diese Suche als Wiederholungszwang von Traumen auftritt. Darauf hat schon Sigmund Freud hingewiesen. Es handelt sich um das unbewusst gesteuerte Bestreben, in einer sicheren Umgebung ähnlich intensive Erfahrungen zu machen wie im Trauma, aber im bewusst entschiedenen Wiedererleben zu lernen, das Trauma in der Wiederholungssituation zu bewältigen. Der Suchtcharakter bildet sich aus, weil es nie zu einer Auflösung des Traumas kommt, sondern nur zu seiner Reinszenierung unter scheinbar besser kontrollierten Umständen.  Da die angestrebten Intensitätserfahrungen immer auch mit einem gewissen Kontrollverlust verbunden sind, wird ein Stück des Traumas in die Gegenwart geholt, ohne bewusst durchlebt und dann integriert zu werden, wie es in einer Traumatherapie geschehen kann. Also muss diese Erfahrung immer wieder wiederholt werden, ohne reale Aussicht auf die Befreiung von der Traumalast. 

Kontrollverlust

Kontrollverlust bedeutet auch Selbstverlust – das zeitweilige Verschwinden des Selbstkontakts. In vielen Zusammenhängen wird dieser Verlust als lustvoll erlebt z.B. in der Sexualität oder in der Ekstase. Doch kann die Lust schnell in Panik umschlagen, wenn der Kontrollverlust aus einem Trauma stammt. Es gibt eine gewisse, nicht vorhersehbare Grenze, innerhalb derer noch so viel Selbstkontrolle besteht, dass die Traumaenergie in Schach gehalten werden kann. Wird diese Grenze  überschritten, dann tritt das alte Trauma mit voller Wucht in die momentane Erfahrung ein. Aus der lustvollen Entgrenzung wird ein Horrortrip. Die Dopamin-Euphorie kippt in das Überschießen der Stresshormone. Falls das Nervensystem nicht zeitgerecht in einen regulierten Zustand zurückfindet, gerät es auf der nächsten Stufe der Fehlregulation in eine parasympathische Überreaktion, die mit Erstarrung, Lähmung und Dissoziation einhergeht.

Dissoziation und Gewalt

Die Dissoziation kann sich in verschiedenen Formen zeigen:

Unter Depersonalisation versteht man einen Zustand, in dem sich die betroffene Person vom eigenen Körper losgelöst oder entfremdet vorkommt, oft verbunden mit verminderter Empfindlichkeit gegen Berührung oder Schmerzen sowie einer eingeschränkten Bewegungskontrolle.

Die Derealisation bezeichnet ein Gefühl, in dem die Welt um einen herum als nicht real erscheint. Das Erleben wird wie durch einen Schleier oder wie in einem Film empfunden, mit betäubten Gefühlen und verlangsamte Bewegungen.

Schließlich gibt es noch die dissoziative Amnesie. Es kommt dabei zu kurzen Unterbrechungen im Fluss der subjektiven Erfahrung: Es wird vergessen, was gerade passiert ist. In der Folge treten Gefühle von Orientierungslosigkeit, Verwirrung und Verlorenheit auf.

All diese Phänomene der Dissoziation dienen dem Schutz des Überlebens in äußerst bedrohlichen Situationen, die mit höchster Intensität einhergehen und an die Grenze der Existenz führen. In weiterer Folge führen sie dazu, dass unter bestimmten Umständen die Hemmungen zur Gewaltausübung überwunden werden. Manche Gewalttaten sind nur möglich, weil die Täterperson dissoziativ von sich selbst abgeschnitten ist und in gewisser Weise wie ein Roboter agiert.

Zum Weiterlesen:
Auf dem Weg zur Hassgesellschaft?
Parteilichkeit verstärkt die Gewalt
Die Wurzeln der Gewalt
Böses tun, um Gutes zu bewirken?


Freitag, 12. September 2025

Auf dem Weg zur Hass-Gesellschaft?

Wir sind Zeugen einer bemerkenswerten Erosion der öffentlichen Umgangsformen: Der Hass wird von einer versteckten, schambesetzten Emotion zum legitimen Ausdruck von Meinungsfreiheit umgewandelt. Es wird so getan, als wäre es ein grundlegendes Menschenrecht, den eigenen Hass in der Öffentlichkeit ungeschminkt kundzutun, und dass jede Kritik an  Hassäußerungen selbst nur Hass verdient, weil damit die eigene Freiheit angegriffen wird. 

Der Hass wird zunehmend von der Scham befreit, mit der er wegen seiner Sozialschädlichkeit belegt ist. Die Scham ist ja die Wächterin des sozialen Zusammenlebens, und Hass ist das wirksamste emotionale Gift, das diesen Zusammenhalt vernichten kann. Die Enthemmung, die vermutlich vor allem durch die neuen Möglichkeiten virtueller Kommunikation stattgefunden hat, hat offenbar dazu geführt, dass bei vielen Menschen unterdrückte Hassgefühle neue Ausdrucksformen gefunden haben, in denen die Scham unwirksam ist. Jeder kann unter einem Pseudonym oder einem Nicknamen alle hasserfüllten Gedanken und Gefühle in die Kommunikationsräume einspeisen, die ihm in den Sinn kommen oder auf dem Magen liegen. Es gibt kein reales Gegenüber, dessen Reaktion ein Schamgefühl auslösen könnte. Es ist also leicht, sich in virtuellen Welten schamlos zu bewegen. 

Hass als Folge des Gehasstwerdens

Menschen sind nicht von sich aus hassende Wesen, vielmehr sind sie Wesen, die Liebe geben und empfangen wollen. Sie wissen, dass die Liebe der beste Garant für das eigene Überleben ist. Die eigene Hassbereitschaft hängt ab von dem Hass, der einem als Kind entgegengebracht wird. Hass, der einem Kind entgegengebracht wird – in Gefühlen oder in Worten –, erzeugt Hass in ihm, der sich in irgendeiner Form Ausdruck verleihen muss – als Selbsthass oder als Hass auf andere. 

Erlittene Frustration legitimiert den Hass, der Hass legitimiert die Gewalt. Der Hass bildet die Schaltstelle, an der die hilflose Opferrolle in eine potenzielle Täterrolle übergeführt wird. Die Wut aus der Frustration wandelt sich in einen kalt berechnenden Vernichtungswillen, der sich jede Berechtigung zuerkennt, Gewalt gegen die Verursacher der Frustration anzuwenden.

Hassen zerstört Menschlichkeit

Jeder im Inneren erlebte Hass zerstört einen Teil der eigenen Menschlichkeit. Denn der Hassanteil schneidet sich von der Liebesfähigkeit und vom Mitgefühl ab. Er frisst sich in die Seele wie ein tiefdunkler Fleck, wie eine schwärende Entzündung hinein. Er erzeugt nichts als Verbitterung und Unglück. Er ist ein Verrat am eigenen Wesen.

Hassäußerungen in der Öffentlichkeit zerstören die Gesellschaft

Jeder nach außen getragene Hass, also jeder öffentlich geäußerte Hass macht um Vieles mehr kaputt. Er zielt auf die Menschlichkeit der Gemeinschaft und beschädigt den Zusammenhalt der Gesellschaft – eine Gesellschaft von sich hassenden Menschen ist keine Gesellschaft mehr, sondern ist schon in ihre Einzelteile zerfallen. Sich hassende Menschen haben voreinander eine Heidenangst, weil sie wissen, dass die anderen nach der eigenen Zerstörung trachten, wie sie selbst die Zerstörung der anderen anstreben. Der Mensch, der sich als des Menschen Wolf fühlt, ist zum Untergang verdammt, weil er irgendwann unter der Last seines Misstrauens, seiner Schamlosigkeit und Angst zusammenbricht. Hass macht nicht nur hässlich, sondern ist ein Akt der Selbstzerstörung.

Wer Hass sät, wird Hass ernten. Die menschlichen Beziehungen reagieren in der Regel reziprok. Wie man in den Wald ruft, so kommt es wieder heraus, sagt die Volksweisheit. Der einfachste Schutz vor dem Hass anderer ist es, selber zu hassen. Das ist die Logik des politischen Mordes: Wer Hass predigt, muss gehasst werden, und was gehasst wird, muss vernichtet werden. 

Profiteure des Hasses 

Politiker haben schon immer versucht, Hass zu schüren, um ihn für ihre Ziele nutzbar zu machen. Es gibt diese schamlosen Politiker auf allen Rändern des politischen Spektrums. In der jüngeren Geschichte sind sie aber vor allem in den rechten Ecken der politischen Landschaft vertreten und breiten sich von dort langsam, aber sicher in Richtung des Zentrums aus, in dem der Hass salonfähig gemacht wird. Dass sie damit an der Zerstörung der Gesellschaft arbeiten, ist ihnen insofern bewusst, weil sie „das System“, die „Eliten“ oder einen „deep state“ entmachten wollen. Sie wollen also das zerstören, von dem sie annehmen, dass es die Wurzel allen Übels ist. Sie merken aber nicht, dass sie durch die Radikalität des Hasses, den sie beständig verbreiten, die Gesellschaft selbst, in der sie ihre politischen Erfolge erreichen wollen, in ihren Grundlagen attackieren. 

Kollektiver Wiederholungszwang

Es gibt genug historische Beispiele für diese destruktiven Dynamiken, von der französischen Revolution bis zum Stalinismus und Nationalsozialismus. Die hinter diesen Kräften steckenden psychologischen Mächte hindern viele Menschen, aus der Geschichte zu lernen und verdammen sie offensichtlich zu einem kollektiven Wiederholungszwang, zur erneuten Re-Inszenierung der eigenen Kindheitsdramen, nur mit der Verfügung über erwachsene Zerstörungsmitteln. Sie handeln aus einem blinden Glauben an die Macht der Vernichtung heraus, als deren Opfer sie sich fühlen. Die Konsequenz besteht in der nachhaltigen Schädigung der Gesellschaft, im schlimmen Fall verbunden mit der Vernichtung vieler individueller Leben, die dem Ausleben des Hasses geopfert werden.

Es scheint, als ob in vielen Ländern dieser Wiederholungszwang wirkt und viele Menschen mitreißt und damit auf eine Neuauflage von autoritären Regimen mit hoher Gewaltbereitschaft zusteuert. Immer unverblümter offenbart sich ein neuer Faschismus in den USA, und Nachahmer und Bewunderer gibt es in vielen europäischen Ländern, die hier die Demokratie untergraben wollen. Der Verbreitung von Hass ist dafür ein geeignetes Mittel. 

Null Toleranz

Die Demokratien, die höchstentwickeltsten Regierungsformen, die die Menschheit hervorgebracht hat, können nur weiterbestehen, wenn die Äußerung und Verbreitung von Hass auf allen Ebenen eingedämmt und in einflussreichen Bereichen unterbunden wird, auch unter Einsatz von Strafen. Es muss die Aufklärung stattfinden, dass gezielter Hass die  Fundamente der Gesellschaft untergräbt und damit jedes Mitglied dieser Gesellschaft schädigt. Wir brauchen eine Kultur des Umgangs, die frei von Hass ist und die jede Äußerung von Hass mit Scham und moralischer Verurteilung ahndet.

Zum Weiterlesen:
Hass, Zerstörung und Krieg
Hass im Internetzeitalter
Geschlossene Systeme und der inhärente Hass
Der Hass in der politischen Fixierung
Über den Ursprung des Bösen und des Hasses


Dienstag, 9. September 2025

Religion und Vertreibung

Die Geschichte des Nahostkonflikts ist auch eine Geschichte der Vertreibungen. Eine Folge von Kriegen ist zumeist die Flucht und Vertreibung von vielen Menschen, die ihre Leben inmitten der Zerstörungen retten wollen. Es sind vor allem die Älteren, die Frauen und die Kinder, die von diesem Schicksal betroffen sind.

Vertreibung bedeutet nicht nur den Verlust einer gewohnten, Sicherheit und Zugehörigkeit vermittelnden Umgebung, sondern auch eine Demütigung und Beschämung. In den meisten Fällen sind Vertreibungen mit traumatisierenden Verletzungen verbunden, wenn sie gewaltsam erzwungen werden. Jede Flucht geht mit Leid einher, und das Ankommen in einem fremden Land erzeugt in der Regel neues Leid und neue Beschämung: Für die Menschen dort wirkt der Flüchtling als Fremdling, als Eindringling, als möglicher Feind. Es bedarf langer und mühevoller Anstrengungen, um sich in der Fremde eine Heimat zu schaffen. Doch keine neue Heimat kann die alte, in der sich die Wurzeln der Herkunftsfamilie befinden, ersetzen. Der Makel der mangelhaften Zugehörigkeit wirkt oft in den nächsten Generationen weiter, und der Verlust der Heimat zeigt sich im Fehlen von Wurzeln und Bodenanbindung. Das Land, auf dem sich der Vertriebene bewegt, ist fremd; der vertraute sichere Boden ist verloren.

Eine Geschichte von Vertreibungen

Die Geschichte des jüdischen Volkes (wie auch die Geschichte anderer Völker) kann als Geschichte von Vertreibungen beschrieben werden. Die Ureltern, Adam und Eva, wurden beschämt aus dem Paradies vertrieben, in einer Urszene der Scham. Später wurden vermutlich Teile des Volkes als Sklaven nach Ägypten verschleppt und dort von Mose in die Freiheit ins Land Kanaan geführt, das Land, das Jahwe Mose versprochen hat.  Ab 597 v. Chr. mussten große Teile der Bevölkerung Judäas nach Babylon ziehen („babylonisches Exil“). Interessanterweise haben übrigens die Juden immer an ihrem Gott festgehalten, im Unterschied zu anderen Völkern, bei denen eine Gottheit so lange verehrt wurde, so lange es Siege gegeben hat, und nach Niederlagen schwand die Verehrung wie z.B. beim Gott Marduk der Babylonier. Der Grund für diesen Unterschied wird darin gesehen, dass der jüdische Gott nach den Propheten die Israeliten in die Niederlage geführt hat, damit sie für ihre Sünden büßen müssen. Es ist also ein Gott, der sein Volk durch Beschämung zu einem besseren Leben erziehen möchte (und daran immer wieder scheitert...).

Im Jahr 70 n.Chr. kam es zur Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die Römer; es gab nun kein religiöses Zentrum der Religion mehr, und viele Juden verließen Jerusalem. Schließlich wurden die Juden unter Kaiser Hadrian im Jahr 135 aus Palästina vertrieben. Die Vertriebenen hielten aber über die Jahrhunderte am Glauben fest, dass sie wieder ins „Gelobte Land“ zurückkehren würden. Im Achtzehnbittengebet, dem Hauptgebet der Juden, ist dieser Glaube verankert.  Der Wunsch „Nächstes Jahr in Jerusalem“ wird am Ende des jüdischen Sederabends und des Versöhnungstags ausgesprochen. Er drückt die Hoffnung und Vision der Juden aus, nach Israel zurückzukehren, wo immer auch sie in der Diaspora waren.

Die Treue zum Glauben

Das jüdische Volk ist in der Geschichte mit dem Schicksal von Vertreibungen nicht einzigartig. Das Besondere liegt einerseits in dem Festhalten am Glauben trotz aller Zerstreuung in verschiedenste Länder und andererseits in der Verbindung von Land und Religion, die von den gläubigen Juden über die Generationen in der Fremde aufrechterhalten wurde. Das „Heilige Land“ ist für die Juden nicht nur heilig, weil sich dort heilige Stätten befinden, sondern etwas, das Gott dem jüdischen Volk versprochen und gegeben hat. Das Land selbst ist also Teil ihrer Religion. Der Anspruch auf das Land enthält damit eine absolute, also von Gott gegebene Rechtfertigung. Nach 1948, als die UNO die Staatsgründung von Israel proklamiert hat, wurde dieser Anspruch militärisch, eben gewaltsam durchgesetzt. Die darauf folgende Geschichte ist durchzogen von Kriegen, die immer auch diesen religiösen Aspekt beinhalten – bis zum heutigen Tag. 

Radikalisierung durch Religion

In fast allen dieser Nahostkriege war und ist die Vertreibung der ansässigen Araber, die in großer Zahl in Nachbarländer ihre Heimat verloren haben und flüchten mussten, ein schweres Schicksal und eine Schuld der Vertreiber. Die Staatsgründung hat den Juden erlaubt, von der Opfer- auf die Täterseite zu wechseln. Aus den Vertriebenen wurden Vertreiber, aus den Beschämten Beschämer. Israel ist (mit Unterstützung westlicher Staaten) die stärkste Militärmacht in der Region und verfügt über eigene Atomwaffen. Der Staat konnte sein Gebiet kontinuierlich ausweiten und die Palästinenser immer weiter zurückdrängen. Palästinensische Gebiete wurden mit jüdischen Siedlungen durchsetzt, und die Gründung eines autonomen palästinischen Staates wurde verhindert. Die religiöse Absicherung dieser Machtpolitik sorgt dafür, dass ethische Fragestellungen und Menschenrechte in diesem Konflikt zweitrangig sind. Es gibt zwar in Israel eine Zivilgesellschaft, die die Standards der Mitmenschlichkeit einmahnt und eine Trennung von Religion und Politik fordert, aber ihr Einfluss auf die Zyniker in der Regierung ist allzu gering.

Der aktuelle Gazakrieg wird befeuert und radikalisiert durch jüdische Extremisten, die Teil der Regierung sind und Druck ausüben, um die Palästinenser vollkommen aus dem Gazastreifen zu vertreiben. Es handelt sich um eine Unmenschlichkeit, die aus dem religiösen Anspruch auf das Land begründet wird und sich keinen Deut um das Leid der Menschen schert – ein weiteres Beispiel von religiös verbrämter Gewalttätigkeit. Der dieser Haltung innewohnende Hass erzeugt wiederum nur Hass bei den Opfern – und das Lechzen nach Rache. Der Konflikt wird noch mehr mit destruktiven Emotionen aufgeladen.

Eine psycho-logische Reaktion auf die mit Vertreibung verbundene Demütigung stellt eben die Rache dar, mit deren Hilfe die Opfer versuchen, ihre Beschämung zu überwinden. Die Gegengewalt bricht aus, sobald genügend Mittel gesammelt sind, um zurückschlagen zu können. Manchmal ist sie direkt gegen die Vertreiber gerichtet, manchmal gegen Stellvertreter oder Sündenböcke.

Ohne Vernunft keine Konfliktlösungen

Wenn die Mächtigen statt der Vernunft religiösen Dogmen folgen, kann es nur eine Form Konfliktlösung geben, nämlich die gewaltsame Durchsetzung des eigenen Standpunkts. Kompromisse sind ausgeschlossen. Wenn die eigenen Machtinteressen nicht durchgesetzt werden können, wird der Konflikt weiter am Leben erhalten und erzeugt über lange Zeiträume Zerstörung und Leid. Der jeweilige Status Quo kann nur mit Gewalt aufrechterhalten werden.

Als hätten wir nicht genug mit sozialen, politischen und ökonomischen Konflikten zu tun, werden immer wieder Ideologien, die aus Versatzstücken der Religion zusammengebastelt sind, in diese Konflikte hineingeschleust, mit der Folge, dass sie nicht nur unlösbar gemacht werden, sondern dass sie dazu noch emotional aufgeheizt werden. Da das Absolute unverhandelbar ist,  kann sich die andere Seite nur unterwerfen; wenn sie dazu nicht bereit ist, wird bis zur Erschöpfung weitergekämpft. Menschen, die dieses Schauspiel von außen beobachten, können sich nur angewidert von der Religion abwenden, die so schamlos missbraucht wird.

Die Widersprüche in den Religionen

In allen Religionen ist die Rede davon, dass Fremde aufgenommen und Vertriebene getröstet werden sollen. Jesus sagte: „Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen“ (Mt 25,35). Die christliche Pflicht gebietet demnach, Vertriebenen beizustehen und sie zu versorgen. In der Sure 4,36 sprach Muhammad davon, dass Gläubige für Fremde auf der Reise sorgen sollen. Deshalb versteht der Islam Gastfreundschaft und Trost für Vertriebene als religiöses Gebot. Außerdem war Muhammad mit seinen Anhängern auf der Flucht, da er aus Mekka vertrieben wurde. Im Alten Testament ist an verschiedenen Stellen die Rede davon, dass die Fremden, Witwen und Waisen besonders geschützt und getröstet werden sollen.

Der Widerspruch zwischen diesen religiösen Pflichten und der Praxis, den religiösen Eifer auf Gewalt und Unmenschlichkeit zu richten, ist schmerzhaft. Es tut weh zur Kenntnis zu nehmen, dass in den Kirchen, Moscheen und Synagogen  der Verzicht auf Gewalt und die Botschaft des Friedens gepredigt wird, und dass draußen Menschen mit religiöser Segnung umgebracht, vergewaltigt und vertrieben werden.

Zum Weiterlesen:
Religion und Krieg