Die Angst vor dem Fremden ist tief in den Menschen verwurzelt und stammt aus der tribalen Zeit. Fremde sind potenzielle Feinde. Deshalb ist Vorsicht mit allen geboten, die wir persönlich nicht kennen. So ist eine Prägung beschaffen, die durch das Oxytocin-Hormon* verstärkt wird. Solche tribalen Prägungen spielen eine Rolle in der frühen Kindheit und werden dann im Lauf des Aufwachsens schwächer. Kinder, deren Selbstvertrauen durch eine liebevolle Fürsorge gestärkt wurde, können dieses Misstrauen gegen das Fremde mit Neugier und Interesse am Fremden überschreiben. Sie entwickeln eine Haltung, mit der sie nicht von vornherein misstrauisch sind, wenn sie unbekannten Menschen begegnen. Nur ängstliche Menschen mit geringem Selbstwert bleiben bei dieser Angst und lassen sich dann als Erwachsene von Propaganda anstecken, die die Fremdenangst schürt.
Was sie dabei nicht bedenken, ist die Tatsache, dass wir als Menschen in einem beständigen Austausch mit dem Fremden leben und anders gar nicht überleben könnten. Am einfachsten zu verstehen ist dieser Zusammenhang, wenn wir an die Nahrungsaufnahme denken. Die Stoffe, die wir dabei aufnehmen, sind fremde Objekte, denen wir auf Grund von unseren Erfahrungen trauen. Indem wir sie essen, machen wir sie zu unserem Eigenen, um die Reste dann wieder auszuscheiden und zum Fremden, Ekelhaften machen. Ohne fremde Nahrungsmittel sind wir zum Hungertod verurteilt.
Der Organismus und das Fremde
Noch elementarer als Stoffwechsel ist die Atmung. Wir nehmen in jeden Tag 10 000 bis 20 000 Liter Luft auf, fremde Luft, der wir den Sauerstoff entnehmen und in unser Inneres überführen. Damit wird die Atemluft zur eigenen Luft. Beim Ausatmen geben wir sie wieder zurück, mit weniger Sauerstoff und mehr Kohlendioxid. In jedem Atemzug wird Fremdes zum Eigenen und Eigenes wieder zum Fremden. All der Sauerstoff, der in unserem Kreislauf unterwegs ist, war in fremder Luft enthalten. Ohne diese fremde Luft würden wir schnell ersticken.
Eine weitere Tatsache, die in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielt, besteht in all den fremden Organismen, die in unserem Körper leben. Die Zahl der im Körper lebenden Mikroben ist mindestens so groß wie die der Zellen mit der eigenen DNA. Ohne diese winzigen Lebewesen, die vor allem im Darm das Mikrobiom bilden, könnten wir keine Nahrung verdauen. Auf unserer Haut sorgen Bakterien dafür, Krankheitserreger abzuwehren. Auf der Zunge leben an die 9000 verschiedene Stämme von Bakterien. Unser Organismus ist also ein Kohabitat zwischen eigenen und fremden Zellen, von denen viele wie Parasiten leben. Ohne sie könnten wir nicht lange überleben. Es gibt natürlich auch Fremdzellen, Viren, Bakterien, Pilze, die Schaden anrichten und von unserem Immunsystem eliminiert werden müssen.
Aus all diesen Überlegungen können wir viel über einen sinnvollen Umgang mit dem Fremden lernen. Das Fremde ist zunächst nur etwas, das wir noch nicht kennen. Selbst wenn unsere erste spontane Reaktion ablehnend ist, können wir auf den zweiten Blick andere Informationen sammeln, die unsere Sichtweise ausweiten und unser Misstrauen beruhigen.
Wenn in der politischen Propaganda der Begriff „Parasit“ verwendet wird, um Angst vor einer Überfremdung zu schüren, können wir an die Mikroorganismen denken, die in uns leben, von uns und für uns. Wenn wir also fremde Menschen in unser Land oder in unsere Umgebung aufnehmen, brauchen wir nur darauf zu achten, dass es ein ausgewogenes Verhältnis von Geben und Nehmen gibt, von dem beide Seiten profitieren.
Das Fremde in uns
Ein weiterer Bereich, in dem wir es mit dem Fremden zu tun haben, ist unser Unterbewusstsein. Dort gibt es verdrängte Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche. Sie sind unserem Ich-Bewusstsein fremd und gehören doch zu uns, denn sie sind in uns entstanden und gehören zu den Überlebensstrategien, die wir im Lauf unserer Geschichte ausgebildet haben. Sie gehören zum Schattenbereich unserer Seele, solange wir sie nicht in unser Bewusstsein holen. Sie sind uns fremd und sind von Abwehrgefühlen bewacht. Indem wir sie uns bewusst machen, verwandeln wir sie in Persönlichkeitsanteile, die wir nach Belieben nutzen können. In den Begriffen der Psychoanalyse wird aus dem, was zum „Es“ gehört hat, „Ich“. Etwas Fremdes wird zum Eigenen, etwas Bedrohliches zum Vertrauten, und damit wächst der Spielraum für den Ausdruck unserer Freiheit. Jeder integrierte Anteil unserer Persönlichkeit, also jeder Aspekt, der vom Fremden zum Eigenen wurde, führt uns zu unserer Ganzheit.
Die Durchlässigkeit für das Fremde
In all diesen Beispielen sehen wir, dass das Überschreiten der Grenzen zum Fremden ein Grundprinzip des Lebens ist. Im fließenden Austausch von Geben und Nehmen verschwindet die jeweilige Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Diese Form des Austausches findet beständig in unserem Körper statt und hält uns gesund. Eigenes wird zum Fremden, Fremdes wird zum Eigenen. Das Eigene ist Resultat des Fremden, das Fremde kommt aus dem Eigenen. Wir sind auf vielen Ebenen durchlässig für das Fremde, das dadurch zum Eigenen wird. Wir sind also gleichermaßen Fremdes wie Eigenes. Der Unterschied hebt sich auf, in jedem Moment, in dem wir atmen oder in anderer Weise stoffwechseln.
Die Angst vor uns selbst
Hier kommen wir zurück zum Anfang des Artikels. Wir können jetzt vielleicht besser verstehen, dass unsere Angst vor dem Fremden nichts als die Angst vor uns selbst ist. Das Fremde, dem wir im Außen begegnen, spiegelt unsere eigenen ungelebten oder verdrängten Anteile wider. Das, was uns Misstrauen bereitet, ist ein Persönlichkeitsanteil, den wir uns noch nicht bewusst gemacht haben. Was uns bei fremden Menschen Angst macht, ist eigentlich etwas, das uns in uns selbst ängstigt. Sobald wir diese Angst ins Licht geholt und verstanden haben, fällt die Angst im Außen weg und wir gehen leichter und vertrauensvoller durchs Leben.
Vertrauen oder Naivität
Den Menschen, denen wir begegnen, Vertrauen entgegenzubringen, heißt nicht, dass wir naiver Weise meinen, alle Menschen meinten es gut mit uns. Wenn wir angstfrei auf sie zugehen, stehen uns alle unsere Fähigkeiten zur Verfügung, die uns darauf aufmerksam machen, sobald andere versuchen, uns zu manipulieren oder anderswie zu schaden. Je weniger Angst wir haben, desto besser sind wir mit unseren Potenzialen verbunden und können sie nutzen, um uns dort zu schützen, wo es wirklich notwendig ist, damit wir keinen Schaden erleiden.
Das Atmen lehrt uns, dass Leben nur im Austausch gelingt – indem wir atmen, leben wir vom Fremden und lebt das Fremde von uns.
* Hier zur Studie über Oxytocin und Fremdenangst
Zum Weiterlesen:
Die Solidaritätsschranke
Die Schwachen und die Nächstenliebe
Pränatale Wurzeln der Fremdenangst