Bei einer geleiteten Meditation in der Natur, an der ich kürzlich teilgenommen habe, wurde ein Text vorgelesen, in dem neben vielen schönen und erhebenden Worten zweimal „Amerika“ erwähnt wurde. Mir wurde in dem Moment bewusst, wie sehr sich das Wort „Amerika“ in wenigen Wochen in meiner Gefühlswahrnehmung von neutral bis leicht positiv in einen extrem schlechten Bereich verschoben hat. Es löst Gefühle von Ekel bis Abscheu, Ärger und Unsicherheit aus.
Mir ist klar, dass Amerika viel, viel
mehr als die USA ist und auch, dass das, was gegenwärtig in diesem Land
geschieht, von vielen US-Bürgern abgelehnt wird. Aber die Mächtigsten im Land
zählen auch zu den Mächtigsten auf dieser Welt, und ihre Einstellungen und die
daraus folgenden Handlungen haben zum Teil massive Auswirkungen auf große Teile
der Weltbevölkerung. Darum kann es uns nicht egal sein, was in den Machtzentren
der USA abläuft und welche Absichten jene haben, die an den Schalthebeln sitzen.
Mein erstes Amerikabild war geprägt von
den Erzählungen der Erwachsenen in meiner Kindheit, und das war überwiegend
positiv, vor allem im Gegensatz zu den Russen, die als barbarisch und
bedrohlich geschildert wurden – eine Mischung aus realen Erfahrungen mit
vergewaltigenden russischen Soldaten und solchen, die die Armbanduhren in der
Bevölkerung abkassierten und aus der Nazi-Propaganda, die viel Hass und Angst
auf die „bolschewistischen Untermenschen“ schürte.
Über das Bild der zuckerlverteilenden
amerikanischen Besatzungssoldaten legte sich später das des „hässlichen
Amerikaners“, gespeist aus den Bildern und Debatten um den Vietnamkrieg. Der
US-General, der damals drohte, ganz Vietnam „zurück in die Steinzeit“ zu bomben,
steht als Symbolfigur für ein rücksichtsloses und gewaltbereites Land, dem
viele damals wünschten, mit ihrer überheblichen und menschenverachtenden
Politik zu scheitern, was auch in Vietnam geschah und als kollektives Trauma
bis heute im Selbstbild der US-Amerikaner nachwirkt. Auch weltweit hat dieser
Krieg zu einem Prestigeverlust für die Staaten geführt. Das Misstrauen gegen die
machtgierigen Amerikaner ist bei vielen Linksgerichteten weit verbreitet und tief
verwurzelt. Es spielt beispielsweise bei der Beurteilung der Ursachen des
Ukrainekrieges mit. Die Sichtweise, dass in diesem Fall Russland als Angreifer
die alleinige Verantwortung und Schuld am Kriegsausbruch trägt, wird von vielen
Linken, auf der Grundlage eines notorischen Misstrauens in die Machtambitionen
der USA, in Frage gestellt. Es gibt aus diesem Blickwinkel verschiedene
Narrative, die in den USA und der von ihr dominierten NATO die Hauptverursacher
dieses blutigen Konflikts sehen.
Die Ambivalenz, Mehrdeutigkeit und
Vielschichtigkeit des Amerikabildes, die sich in meiner Beurteilung im Lauf der
wechselhaften Geschichte der letzten Jahrzehnte niedergeschlagen hat, ist nun
durch die jüngsten Ereignisse übertönt worden. Es scheint kaum zu glauben, wie
schnell die Demokratie in den USA kollabieren kann, wenn ein selbstbesessener Präsident
skrupellos sein autoritäres Programm durchzieht. Es ist viel die Rede von einer
Schockstarre, in die die nunmehrige Opposition und die Zivilgesellschaft
gefallen wären, überrollt vom Dauerfeuer aus dem Weißen Haus. Aber nun mehren
sich die Anzeichen von Widerstand – mit wenig Aussicht auf Erfolg.
Für viele Generationen von Menschen auf
der Welt galten die USA über lange Zeit als Symbol einer Freiheitsverheißung.
Doch das Land der unbegrenzten Möglichkeiten hat zur Zeit nur eine etwas weniger
brutale Kopie von Hitlerdeutschland zu bieten: Militärische Hochrüstung,
Unterdrückung der Meinungsfreiheit, Machtlosigkeit des Parlaments, Gängelung
der Justiz, aggressive Außenpolitik, Rassismus und Ausgrenzung von
Minderheiten.
Macht ohne Verantwortungsübernahme
Die USA sind aus der
Menschheitsgemeinschaft ausgeschert, weil sie laut gegenwärtiger Regierung auf
keinen Fall mehr Verantwortung tragen wollen außer für die von der eigenen
Ideologie diktierten engstirnigen Maßnahmen, die angeblich Amerika groß machen
sollen. Bei der Erdbebenkatastrophe in Myanmar sind die amerikanischen
Hilfsteams ausgeblieben, vor Ort waren die Chinesen und Russen, die in dieser
Hinsicht die USA an gelebter Empathie weit in den Schatten gestellt haben.
Der US-Regierung ist der Preis egal, der
durch ihre Maßnahmen bezahlt werden muss – in der eigenen Bevölkerung, die unter
dem Kahlschlag in der Verwaltung und im Gesundheitssystem sowie unter den Folgen
der Zollpolitik leiden muss. Noch weniger schert man sich darum, wie es dem
Rest der Welt mit den willkürlichen Maßnahmen geht (das bettelarme Bangla-Desh
wird mit 74% „Strafzöllen“ belegt, weil es mehr Waren nach den USA liefert als
umgekehrt, denn dort können sich nur wenige einen Tesla oder einen Whiskey
kaufen. Tausende werden dort um ihre Arbeit und ihre Existenz gebracht). Soviel
offensichtliche Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit haben in der Geschichte der
Menschheit nur skrupellose Diktatoren gezeigt, die allesamt letztlich
katastrophal gescheitert sind, eine Spur der Zerstörung hinterlassend.
Macht ist in der Regel mit Verantwortung
verbunden, viel Macht mit viel Verantwortung. Diese einfache Gleichung war den
bisherigen Präsidenten der USA zumindest ansatzweise bewusst. Der jetzige
Präsident fühlt sich offenbar nicht mehr daran gebunden und kehrt sie um: Je
mehr Macht, desto weniger wird die Verantwortung für die Folgen der
Machtausübung wahrgenommen, sowohl im eigenen Land als auch auf der ganzen Welt.
Die Folgen sind bei weitem nicht abschätzbar, aber nach dem, was sich jetzt
schon abzeichnet, sind die Aussichten trübe. Die Ökonomen sagen einhellig, dass
es bei dem entfachten Zollkrieg nur Verlierer gibt; diese Erkenntnis gilt
vermutlich für all die anderen Politikbereiche ebenso, in denen sich die
Zerstörungswut des Präsidenten und seiner Gefolgsleute austobt.
Aus Katastrophen lernen
Die Erfahrung mit Rückschritten und
Rückfällen in vormoderne, um nicht zu sagen primitiv barbarische Formen der
Politik im Lauf der neueren Geschichte zeigt, dass nach der Überwindung der
dadurch ausgelösten Katastrophen neue Anläufe zu mehr Menschlichkeit und zur
Übernahme von globaler Verantwortung unternommen wurden. Jede Katastrophe löst unweigerlich
Lernprozesse aus; mit mehr Vernunft und Bewusstheit könnte oder sollte es freilich
die Menschheit schaffen, auch ohne Katastrophen die notwendigen Lernschritte zu
setzen.
Die Beseitigung der Empathie, also der
Mitmenschlichkeit im Bewusstsein der gegenseitigen Verantwortung für das
Wohlbefinden der jeweils anderen, schlägt irgendwann hart auf dem Boden der
Realität auf. An diesem Punkt wird plötzlich in aller Deutlichkeit bewusst, worum
es eigentlich geht in den menschlichen Angelegenheiten. Wie ein Verbrecher, der
im Gefängnis versteht, dass ihn das Ausleben des Bösen nicht glücklich gemacht
hat, erkennen viele Menschen im Scheitern, dass sie sich im verantwortungslosen
Verfolgen der Selbstsucht nur tiefer in die Selbstbezogenheit verstricken, die
irgendwann unweigerlich in Verzweiflung und Sinnlosigkeit endet. Die Tragik der
menschlichen Geschichte liegt darin, dass diese Erkenntnis oft erst zugänglich
wird, wenn alles, was das Ziel der egoistischen Bestrebungen war, in Trümmer
zerfallen ist. Das Ego will sich erst verabschieden, wenn es alles ruiniert
hat, was es sich erträumte. Wo die Identifikation mit dem Ego so mächtig ist,
gelingt ein Ausbruch aus seinen Fängen nur im Scheitern, im Zusammenbruch;
tragisch wird es dann, wenn viele andere in diesen Strudel hineingezogen werden,
wie z.B. im Ende des Großdeutschen Reiches in den Ruinen und Schuttbergen der
deutschen Städte.
Mit unserer genetischen Grundausstattung
kommen wir nicht über unser Ego hinaus, das sich höchstens auf ein Gruppenego
ausweitet: Das Bindungshormon Oxytocin wirkt nur im vertrauten Umkreis und
schürt Misstrauen gegen alles Fremde. Studien haben herausgefunden, dass die Empathie
mit Machtgewinn schwächer wird. Je mehr Geld, desto mehr Macht, desto weniger
Empathie – so will uns offenbar die Natur. Sie hat allerdings nicht mit den
riesigen Anhäufungen von Geld und Macht gerechnet, die in der modernen Zeit
durch den Kapitalismus möglich wurden. Die Natur hat uns allerdings auch eine
enorme Lernfähigkeit mitgegeben, die wir nutzen können, um unsere Vernunft
auszubilden. Sie ist in der Lage, das Ego und seine selbstdestruktiven Impulse zu
durchschauen und zu überwinden.
Erst wo die Vernunft das Ego
einzuschränken vermag, wird ein Handeln möglich, das von Verantwortung getragen
ist. Die Vernunft vermag über den Tellerrand der eigenen individuellen und
kollektiven Bedürfnisse schauen und ist offen für ein universelles Mitgefühl,
also für ein Verständnis des Leides der gesamten Menschheit.
Zur Universalität des Mitgefühls:
Natan
Sznaider: Politik des Mitgefühls. Die Vermarktung der Gefühle in der Demokratie. Weinheim: Beltz Juventa, 2021
Zum Weiterlesen:
Musk: "Empathie - eine Schwäche der westlichen Zivilisation"
Der heroisierte Verzicht auf Empathie
Der Propagandatrick der Umkehrung
Taktiken zur Machtergreifung
Muster der rechtsorientierten Propaganda
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