Donnerstag, 20. April 2023

Die Zumutung der Wahrheit

„Das ist eine Zumutung!“ rufen wir empört aus, wenn jemand mit überzogenen Ansprüchen unsere Grenzen verletzt (wir machen jemanden auf einen Schaden, den er verursacht hat, aufmerksam, und die Antwort ist, wir sollen ihn doch selber beheben) oder wenn wir mit einer „unzumutbaren“ Situation konfrontiert sind (wir entdecken Kakerlaken im teuren Hotelzimmer). 

In dem Wort steckt allerdings noch mehr drin als der Ausdruck der Empörung, denn in der Zumutung verbirgt sich der Mut. Wenn wir einander etwas zumuten, heißt das, dass wir auf den Mut der anderen Person vertrauen. Wir hoffen, dass sie das annehmen kann, was wir ansprechen wollen. Es kann ein Wunsch sein, von dem wir wissen, dass er nicht leicht oder nicht gerne erfüllt wird. Es kann die Mitteilung einer Kritik am Verhalten sein, die für die betreffende Person unangenehm ist. Es kann sogar eine Liebeserklärung sein, die ausgesprochen wird ohne die Sicherheit, dass sie von der Adressatin wohlwollend oder erfreut angenommen wird. 

Beim Zumuten betreten wir also einen neuen Raum mit noch unbekannten Risiken. Aufgrund von früheren Erfahrungen nehmen jedenfalls an, dass es Gefahren geben wird, bringen aber den Mut auf, dennoch den Schritt zu machen, weil er uns wichtig ist und weil wir spüren, dass wir ihn tun müssen, wenn wir zu uns selber stehen wollen. Manchmal bedarf es der Herausforderung für unsere Mitmenschen, damit wir uns selbst treu bleiben können. Der Preis der Selbstverleugnung ist hoch, den wir bezahlen, wenn wir uns von unseren eigenen Erwartungen, die durch alte Erfahrungen entstanden sind, einschüchtern lassen und unseren Angstfantasien die Herrschaft überlassen. 

Wir haben als Kinder gelernt, uns in bestimmten Situationen zurückzunehmen, auf unsere Bedürfnisse zu verzichten und schließlich unser Selbst zu beschneiden. Damals war das Risiko zu groß, die Liebe und Zuwendung unserer wichtigsten Bezugspersonen zu verlieren. Also haben wir den Weg der Anpassung an die Erwartungen und Forderungen der Großen gewählt. 

Es sind die Ängste, die mit den frühen Erfahrungen verbunden sind, die sich dann melden, wenn immer wir vor einer kommunikativen Herausforderung stehen, geleitet von dem Drang, etwas klären, bereinigen oder ausdrücken zu müssen, und wo zugleich ein Risiko der Ablehnung, Zurückweisung oder eines Streites spürbar ist. Wir nehmen gewissermaßen den Vorwurf vorweg, mit unserem Anliegen eine Zumutung zu sein. Wenn es uns gelingt, die Ängste zu überwinden, indem wir erkennen, dass sie in unsere Kindheit gehören und dass wir schon erwachsen sind und deshalb die möglichen schwierigen Konsequenzen unseres Selbstausdrucks bewältigen können, dann ist der Mut in uns wirksam. Er gibt uns die Kraft auszudrücken, was uns am Herzen liegt.

Zumutung und Ermutigung

Zugleich steckt in der Zumutung, dass wir der angesprochenen Person den Mut zusprechen, das auszuhalten, was an Herausforderung in unserer Mitteilung steckt. Wir sprechen ihr gewissermaßen den Mut und die Kraft zu, mit dem, was wir zu sagen haben, zurechtzukommen. „Treffen wir uns auf dem Feld des Mutes!“, so lautet unsere Ansage. Messen wir unsere Kräfte, aber nicht, um zu schauen, wer stärker ist, sondern um uns auf Augenhöhe zu begegnen. Ich zeige dir meine Kraft und Klarheit und ich bin bereit für deine Kraft und Klarheit.

Wir nehmen vorweg, dass sich die andere Person nicht gemäß unseren angstgeprägten Erwartungen verhalten wird, und halten die Möglichkeit offen, dass sie andere Seiten zeigt und aus einem bewussten Teil der Seele reagiert. Wir appellieren an das größere Potenzial in ihr, das in der Lage ist, konstruktiv mit dem Thema umzugehen, statt sofort die Abwehr und den Widerstand zu mobilisieren oder gleich ins Streiten zu gehen. Wir muten uns beiden zu, einen guten Weg zu finden, indem wir einander aufmerksam zuhören und die Fähigkeiten der Empathie nutzen. 

In der mutigen Handlung sind uns mehr Ressourcen zugänglich als wenn wir uns im Bann unserer Ängste an die Erwartungen unserer Mitmenschen anpassen. Ängste erzeugen Stress, und Stress reduziert unsere Einsichts- und Handlungsfähigkeiten. Eine mutige Handlung ist immer auch mit Aufregung verbunden, weil es Ängste sind, die überwunden werden. Dazu kommen aber noch die Kräfte der Zuversicht, die mobilisiert werden, sobald wir den Schritt aus der Komfortzone heraus wagen. Manchmal sprechen wir in solchen Situationen davon, dass wir uns zusammenreißen wollen. Damit meinen wir, dass wir unsere Kräfte bündeln und unsere Energie auf ein Ziel hin fokussieren. Es sind das Situationen, in den wir über uns hinauswachsen können, in denen wir die Grenzen unserer Möglichkeiten erweitern und neue Gebiete erschließen. Wir gewinnen eine neue Seite unseres Selbst und schaffen einen neuen Begegnungsraum mit den anderen.

Jedes Stück an Zuwachs für den Mut, bei uns, indem wir anderen etwas zumuten, und bei anderen, indem wir ihnen zumuten, den Mut dafür aufzubringen, indem wir sie also zu ihrem Mut ermutigen, macht die Menschheit ein wenig stärker und klarer. Die menschlichen Gesellschaften sind voll von Missständen und Problemzonen, von Intoleranz, Egoismen und Korruption, von Gier und Neid, sodass es viele mutige Menschen braucht, die ihre Stimme erheben, dagegen auftreten und allen Risiken zum Trotz Verbesserungen einfordern.

Die zugemutete Wahrheit (Ingeborg Bachmann)

In ihrer Rede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden 1959 sagte die Schriftstellerin: „Wie der Schriftsteller die anderen zur Wahrheit zu ermutigen versucht durch Darstellung, so ermutigen ihn die anderen, wenn sie ihm, durch Lob und Tadel, zu verstehen geben, dass sie die Wahrheit von ihm fordern und in den Stand kommen wollen, wo ihnen die Augen aufgehen. Die Wahrheit nämlich ist dem Menschen zumutbar.“ 

Es erfordert also eine wechselseitige Ermutigung, sich der Wahrheit anzunähern, die die Künstlerin mit ihrem Publikum verbindet. Die Aufgabe der Kunst liegt in der Öffnung für neue Zugänge zur Wahrheit, sie ist also die Avantgarde. Das Publikum hat die Aufgabe, sich auf diese Zugänge einzulassen und darauf mit dem Zumuten zu reagieren: Noch mehr von der Wahrheit einzufordern. Auf diese Weise wächst der Mut bei der Künstlerin und bei den Rezipienten, und damit entsteht bei beiden die Bereitschaft, sich stärker auf die zugemutete Wahrheit einzulassen und sie mehr und mehr in der Gesellschaft zur Wirkung bringen.

Dieses Verhältnis ist ein Spezialfall für die allgemeineren menschlichen Beziehungen, in denen es ebenso um die Wahrheit und ihre Zumutbarkeit geht. Jeder Zugewinn an Wahrheit ist ein Zugewinn an Menschlichkeit. Und diese Zugewinne haben wir bitter nötig, von ihnen hängt unsere Zukunft ab.

Zum Weiterlesen:
Die Zumutung


2 Kommentare:

  1. Wenn ich dich richtig verstanden habe, dann gibt es kein zuviel an Zumutung, auch wenn das Gegenüber es so empfindet und verletzt und empört ist.

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    1. Für das Zuviel gibt es zwei Seiten: Der Sprecher will ausdrücken, was ihm wichtig ist, da gibt es kein Zuviel (außer, was die Formen der Höflichkeit anbetrifft). Für den Empfänger kann es zu viel sein, sprich, der Mut ist nicht groß genug, und er reagiert entsprechend. Das gilt es auch anzuerkennen für den Sprecher. Wir können durch Zumutungen unser Gegenüber überfordern und erreichen es dadurch nicht.

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