Donnerstag, 6. April 2023

Über das Schreiben

Schreiben bedeutet, Erfahrungen und Gedanken in Worte zu kleiden, sodass sie von den Mitmenschen gelesen und über das Lesen in die eigene Welt übersetzt werden können. Dort werden sie zu neuen inneren Wirklichkeiten.

Zum Unterschied vom Reden hat das Geschriebene eine materielle Form und ist dauerhaft und kann oft nachträglich nicht mehr geändert werden. Geschrieben ist geschrieben, Subjektives ist zu  einer objektiven Realität geworden. Z.B. wenn ein Vertrag unterzeichnet ist, gilt er. Über Geredetes lässt sich immer streiten, Geschriebenes hat eine gewichtigere Beweiskraft.

Alles, was veröffentlicht wird, ist eine Gabe an alle, die es lesen. Auf diesen Seiten ist jede Veröffentlichung ein Geschenk, weil die Texte nichts kosten, sondern für alle frei zugänglich sind.

Das Geschenk im Schenken 

Wie jedes Geschenk bringt es dem Schenkenden so viel wie der Beschenkten. Schreiben ist in sich ein kreativer Prozess. Meistens gehen dem Schreiben Gedanken voraus und das Schreiben spinnt sie weiter. Im Prozess des Schreiben „schreibt es sich“, d.h. es entspringt das Weitere des Texts aus der Tätigkeit des Schreibens.

Das Geschenk des Textes ist selber etwas, das geschenkt wurde. Denn kein Gedanke, der in einen Text einfließt, ist das Eigentum des Denkers. Er ist zwar scheinbar irgendwo in ihm entstanden, es ist aber meistens völlig unklar, woher er kommt. Manchmal erscheint mir ein Gedanke völlig originell, bis ich draufkomme oder mir jemand sagt, dass die Idee schon da oder dort geschrieben worden ist. Es gibt vielleicht irgendwo einen riesigen Speicher an Informationen, den wir anzapfen können, wenn wir uns auf einen kreativen Prozess einlassen. Wenn wir in schöpferischer Laune sind, sprudelt es aus dieser Quelle; zu anderen Zeiten tröpfelt es und der Text wächst langsam oder verliert sich in einem Dickicht, in dem es kein Weitergehen mehr gibt.

Immer wieder braucht es schöpferische Pausen, ein Abstandnehmen zum Text, damit deutlich wird, wo er sich verirrt hat und wie er wieder in die Spur kommt. Beim Brotbacken muss der Teig eine Zeitlang ruhen, bevor der Backvorgang beginnt. Es ist, als ob sich der Text sich selber zurechtbringen würde, wenn ich ihm seine Zeit lasse. Er muss zu seiner Form finden, und wenn das geschehen ist, stellt sich ein Gefühl der Stimmigkeit ein.

Jeder Schreibvorgang enthält ein Element der inneren Klärung. Wenn der Kopf bei einem Thema verwirrt ist und sich nicht auskennt, hilft es oft, mit dem Schreiben zu beginnen. Aus einer Fragestellung entwickeln sich Sätze, bis sie ein Ganzes ergeben und die Frage ihre Antwort gefunden hat. Das Schreiben selber bringt den Inhalt Schritt für Schritt hervor. Ich lausche ihm und lasse mich von ihm überraschen. Ich greife die Impulse auf, die sich melden, und gebe ihnen eine sprachliche Form, so gut es gerade geht. Allmählich klärt sich das auf, was vorher unklar und verschwommen war. Wie eine Gestalt, die aus dem Nebel hervortritt, langsam sichtbar wird und erkannt werden kann, entpuppt sich der Sinn dessen, worüber ich schreibe, im und durch das Schreiben selber.

In der Erfahrung des Schreibens bestätigt sich immer wieder der Satz, dass jede Frage ihre Antwort in sich enthält. Alles, was es braucht, ist der Frage ihren Raum zu geben, sie stehen und wirken zu lassen. Irgendwann taucht die Antwort auf, und die Spannung, die in der Frage liegt, löst sich. Ein neues Stück Wirklichkeit ist entstanden.

Der Kampf mit dem Drachen des Perfektionismus

Der Perfektionismus ist einer der Hauptfeinde des kreativen Prozesses. Er mahnt jede wirkliche, aber auch jede scheinbare Fehlerhaftigkeit, Beschränktheit oder Unsinnigkeit eines Textes ein. Wichtig ist es, ein paar Korrekturschleifen durchlaufen zu lassen, damit offensichtliche und verborgene Fehler im Text ausgebessert werden können, der Textfluss geglättet und der Sinnzusammenhang durchgängig nachvollzogen werden kann.

Aber ein strenger Perfektionismus ist damit nicht zufrieden. Er erfindet Gründe, damit es ja nicht zum Abschluss des kreativen Prozesses kommt. Er vertritt die Angst und die Scham vor der Bloßstellung, die durch eine Veröffentlichung des fertigen Produkts erfolgen könnte. Er imaginiert die indignierten, abwertenden und feindlichen Blicke, die angewidert ausgestreckten Zeigefinger, die spöttischen Stimmen, das verächtliche Schulterzucken, das heimliche boshafte Tuscheln, das von den möglichen Empfängern kommen könnte und wie heftige Nadelstiche schmerzhaft erlebt werden würde.

Der Perfektionismus will uns vor solchen Schmerzen und Erniedrigungen bewahren. Er ist aber kein gütiger und starker Beschützer, als der er sich gebärdet, sondern ein ängstlicher und schamhafter Anteil unserer Seele, der seine Rechthaberei aus der Kindheit und aus Schulerfahrungen begründet. Er ist ein altes Gespenst, das in einer Fantasiewelt lebt und immer wieder den Unterschied zur Realität verwischt. Er bläht sich auf und macht sich wichtig, auf Kosten unseres kreativen Ausdrucks, den er beständig zu sabotieren versucht.

Erwachsensein heißt, zu sich zu stehen und aus sich heraus zu gehen, auf das Risiko hin, abgelehnt, missachtet oder missverstanden zu werden. Als Erwachsene kennen wir unsere Beschränktheit und Fehlerhaftigkeit und stehen zu ihr, ohne deshalb unsere Schaffenskraft zu amputieren. Wir wissen auch, dass wir alles aushalten und überstehen können, was uns Angst macht und beschämen will. Wir können und müssen unser Selbst leben und ausdrücken; das ist unser Beitrag zur Welt und das, was unserem Leben Sinn gibt. Sobald wir als Erwachsene unseren Mut und unsere Risikobereitschaft mobilisiert haben, wird der Perfektionismus zurücktreten und seine Sabotageaktionen beenden.

Die Veröffentlichung

Wenn der Text seine Gestalt und Form gefunden hat und sich ein Gefühl der Ganzheit eingestellt hat, kommt der Zeitpunkt der Veröffentlichung. Das Geschriebene wird der Öffentlichkeit überantwortet. Es ist wie das Loslassen einer reifen Frucht durch den Baum oder wie ein Geburtsprozess, in dem sich ein neues Lebewesen seine Bahn bricht und seinen selbständigen Weg beginnt. Wir geben her, was in und durch uns entstanden ist, und überreichen es der Welt. Was durch den Erschaffensprozess hindurch als unser Eigenes erschienen ist, darf nun in seiner Eigenständigkeit seine Wirkung entfalten. Wir haben ihm alles mitgegeben, was wir uns möglich war, alles Weitere ist nicht mehr in unserer Macht.

So wie das Baby, das eine Mutter gebiert, in ihr zeitweilig wie ihr Eigenes erschienen ist, durch die Geburt als selbständiges Wesen mit eigener Individualität offenbart, löst sich das kreative Produkt im Vollendungsschritt von seiner Schöpferin. Es nimmt nun seinen eigenen Weg durch die Welt. Es wird Menschen finden, die es mögen und lieben, und andere, die es ablehnen, und es wird viele andere geben, die es ignorieren oder nie von ihm erfahren. Die Schöpferin kann sich zurückziehen und ab und zu einen Blick auf die Spur werfen, die das Produkt durch die Welt zieht. Sie kann ihren Stolz spüren, der die Anerkennung über die eigene Leistung enthält, und sie kann die Demut spüren, in der sich ausdrückt, dass alles, was wir geben können, etwas ist, das wir vorher empfangen haben. 

All unser Schaffen ist nichts als das Verarbeiten und Neugestalten von Empfangenem. Unser kleiner Beitrag am Schaffensprozess, die wir begonnen und abgeschlossen haben, darf uns stolz machen, und der große Beitrag, den das unendliche Netz des Universums geleistet hat, führt uns zur Dankbarkeit. Denn es gehört zu den schönsten Erfahrungen des Lebens, der Ausdruckskraft der eigenen Kreativität Raum zu geben und sie zur Entfaltung zu bringen. Daran teilhaben zu dürfen, ist ein Privileg und ein unschätzbares Geschenk.

Das ist der 700. Artikel auf dieser Blogseite. Zur Feier ein paar Daten:
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