Wie kommt es dazu, das Gefühl und damit die intime Beziehung für den eigenen Körper und für seine Bedürfnisse zu verlieren? Kleinkinder verfügen über ein organisches Bewusstsein, das ihnen in jedem Moment signalisiert, was es gerade braucht und wie es ihm geht. Bei jedem starken Stress bzw. bei traumatischen Erfahrungen wird allerdings die Innenbeziehung unterbrochen, während die Überlebensmechanismen aktiviert werden. Die organismische Selbstregulation geht verloren, außer die Störung wird gleich durch eine hilfreiche äußere Intervention aufgefangen und beruhigt. Ist das nicht der Fall oder erfolgt es nur unzureichend, so entsteht aus der aktivierten Überlebensreaktion eine auf Dauer gestellte Wachsamkeit, die verhindern soll, dass es je wieder zu ähnlichen Erfahrungen kommen kann. Im Inneren entstehen Kontrollinstanzen, die von den gespeicherten Ängsten angetrieben werden und die bewirken, dass immer eine Instanz zwischen dem Impuls und der Ausführung aktiv wird, die entscheidet, ob das eigene Handeln angemessen ist oder nicht. Das innere Spüren geht dabei verloren und die Wahrnehmung wird primär nach außen gerichtet, um mögliche Gefahren so schnell wie möglich zu identifizieren.
Als Folge kommt es dazu, dass das Gefühl für den eigenen Körper nachhaltig geschwächt wird oder weitreichend verloren geht. Es gibt dann keine eindeutigen Antworten auf Fragen wie: Was ist die richtige Ernährung für mich? Wie soll mein Körper ausschauen? Wenn die Innenbeziehung lahmgelegt ist, strömen die Informationen von außen ohne Filter ein. Deshalb wird schnell und leicht übernommen, was die Eltern als Normen vertreten und von den Kindern erwartet haben und was in der Kultur verankert ist.
Die hochglänzenden und oft retuschierten Ideale der Medienwelt strömen auf diesem Weg ungehindert ins Inneren und werden dort zu einer unerbittlich geltenden Norm. Anerkennung und Wertschätzung verdient nur, wer dem Ideal entspricht, bei wem das nicht der Fall ist, der muss sich bemühen, dem Ideal näher zu kommen, sonst muss er mit Abwertung und Verachtung rechnen.
Das Selbst und das Fremde
Das Selbst wird nun vor allem über diese Kanäle definiert. Die Selbstliebe gilt dem an die äußeren Erwartungen angepassten Schein. In der Sage verliebt sich Narziss nicht in sich selbst, sondern in sein Spiegelbild. In ihm entdeckt er, dass die Erfüllung der Erwartungen der anderen Menschen gelungen ist.
Die Anpassung an familiale und gesellschaftliche Normen wird im Prozess der Entinnerlichung zur obersten Maxime. Das ursprüngliche Selbst wird dabei zum Fremden, es wird abgespalten und in den Untergrund verbannt. Es ist das Innere, das fortan fremd und unbekannt, vielleicht sogar unheimlich ist, weil es keinen offenen Kanal mehr zu ihm gibt.
Das angenommene Äußere ist das Fremde, das zunehmend bekannt und vertraut wird und sich über Gewohnheiten im Selbsterleben immer mehr festsetzt. Es wird zum scheinbaren Eigenen, vollgefüllt mit Illusionen und blind übernommenen Idealen. Im Schlepptau kommen die Kontrollzwänge, die darüber achten, dass die Treue zum neuen Selbst erhalten bleibt. Denn die Sicherheit, die dieses Selbst vermittelt, ist brüchig und trügerisch. Sie ist davon abhängig, wie weit die Anpassung gelingt, was angesichts der sich beständig ändernden äußeren Bedingungen zur anstrengenden Dauerübung wird.
Die Anpassung kann so weit gehen, dass sie auch die Wahrnehmung verändert. Was wir schön oder hässlich finden, hat sich in vielen Bereichen schon lange davon abgekoppelt, was uns die innere Stimme vermitteln würde. Was richtig und falsch ist, wird über Meinungsumfragen erhoben und im Medienkonsum aufgesaugt.
Der Preis der Selbstverlorenheit
Der Verlust des Innenspürens zeigt sich in vielen Symptomgestalten. Frauen, die von Diät zu Diät unterwegs sind, um den scheinbar von überall erforderten Schlankheitsgrad zu erreichen; Männer, die sich um jeden Preis fit halten, um für leistungsfähig gehalten zu werden; Menschen, die mehr essen und trinken als sie wissen, dass für sie gut ist; Personen, die Ideologien vertreten, deren Menschen- und Lebensfeindlichkeit sie nicht durchschauen, usw. Wir nennen solche Symptome Störungen, doch sind sie in mehr oder weniger ausgeprägter Gestalt millionenfach in unseren Gesellschaften vertreten und stecken hinter allen Auswüchsen, die uns besorgt machen und entsetzen. Wir alle zahlen den Preis, der aus dem Verlust von Menschlichkeit als Folge der inneren Verfremdung resultiert.
Die Verwirrung
Wenn Menschen über Verwirrung klagen, hat das häufig damit zu tun, dass sie die Innenbeziehung als verlässliche Richtschnur für das, was für sie stimmt, verloren haben. Sie haben viele, oft widersprüchliche Ideen im Kopf, wie es sein könnte und sollte, wissen aber nicht, welche davon ihre eigenen sind und welche nicht. Sie wissen nicht mehr, was sie selber denken und was ihnen eingeflößt wurde. Sie haben kein Kriterium, das Eigene vom Fremden unterscheiden zu können und müssen die eigene innere Kontinuität und damit ihre Identität aus verschiedenen Versatzstücken zusammenbasteln. Sie können sich nicht entscheiden, wem sie Gehör schenken, weil der innere Maßstab diffus geworden ist. Es ist, als ob sich die Linse eingetrübt hätte und nicht mehr klar erkannt werden kann, was die Botschaften, die noch immer aus dem Inneren kommen, besagen und ob sie vertrauenswürdig sind.
Verwirrung entsteht also durch den Verlust des inneren Spürens und dadurch des Selbstbezugs. Wir wissen nicht, ob das, was unser Inneres sagt, stimmt, oder das, was die Umgebung von uns erwartet. Wenn wir häufig das Gefühl bekommen haben, so, wie wir sind, nicht in Ordnung zu sein, wenn also unserem Wesen Scham zugefügt wurde, verlieren wir das Vertrauen in das innere Spüren. Die Folge ist dann Verwirrung.
Umgekehrt gesagt, gilt auch: Wenn Verwirrung da ist, ist das innere Spüren verschwunden. In der Verwirrung wissen wir nicht, wer wir sind. Die Frage: Wer bin ich eigentlich? kommt aus einer Verwirrung. Sonst würde sich die Frage gar nicht stellen.
Die Botschaft der Befreiung
Andererseits steckt hinter der Verwirrung eine Ahnung und eine Botschaft: Sie signalisiert uns, dass es über das zusammengezimmerte Anpassungsselbst hinaus noch etwas anderes geben müsste und sollte, etwas, auf das unsere Sehnsucht bezogen ist und auf das alle Impulse zum inneren Wachsen gerichtet sind. Wir sind nicht nur ein Sammelsurium von Versatzstücken, die uns die Familientradition hinterlassen hat und die wir aus dem reichhaltigen Medienangebot übernehmen. Wir sind einzigartige und wunderbare Wesen, mit einer Tiefe im Erleben, an die keine äußeren Sinnangebote und Verlockungen heranreichen können. Die Schätze ans Licht zu bringen, gelingt, wenn wir unsere inneren Kanäle säubern und wieder zugänglich machen. Der Weg von der Außenlenkung zur Innensicht wird nicht geschenkt, sondern ist das Ergebnis von Innenarbeit und Achtsamkeit. Er lohnt sich in jedem Fall, denn er verheißt die einzige Freiheit, über die wir dauerhaft verfügen können und die allumfassend ist: Die, die tief in uns schlummert.
Zum Weiterlesen:
Der Raub des Selbst
Die Verdinglichungstendenz
Das Korsett der Erwartungen
Anpassung als Überlebenszwang
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