Wo Ängste sind, ist die Scham nicht weit. Die Corona-Krise hat die Gesellschaften ordentlich aufgemischt. Lager, Blasen und Glaubensgemeinschaften sind entstanden, politisierte Gruppen quer über Parteigrenzen haben die Parteienlandschaft verändert. Es sind Bruchlinien entstanden, die Freundeskreise, Familien und Arbeitsgruppen auseinandergerissen haben. Die Änderungen in den Lebensgewohnheiten, die durch die Corona-Maßnahmen notwendig wurden, haben viele Menschen stark verunsichert und Ängste hochgebracht, die angesichts der realen Bedrohung oft unangemessen hoch ausgefallen sind.
Wir befinden uns zur Zeit in einer (vorübergehenden?) Phase des Rückgangs der Infektion und damit auch des Rückgangs der Debatten und Auseinandersetzungen rund um dieses Thema, die deutlich an Heftigkeit verloren haben. Deshalb ist jetzt ein guter Zeitpunkt, um die verschiedenen Ängste näher zu betrachten und den dahinter aktivierten Schammustern nachzugehen. Der psychologische Blick fällt dabei natürlich auf Pränatal- oder Kindheitstraumen, die die Massivität der Ängste erklären können. Hier betrachten wir außerdem die Schamprägungen, die die emotionale Belastung zusätzlich gesteigert haben. Ich versuche, ein breites Spektrum der emotionalen Reaktionen auf die Krise abzudecken, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Es gibt zwischen den einzelnen Reaktionsmustern auch Übergänge und Überschneidungen, manche Menschen kombinieren mehrere von diesen Mustern, während andere in Lauf der Zeit von einem Muster zu einem anderen Muster weitergewandert sind. Ich beziehe hier keine Partei für eine der Reaktionsformen, sondern sehe, dass sie alle einem inneren Leidensdruck entsprungen sind, der hier einem Verständnis näher gebracht werden soll.
Die Angst vor dem Virus und der Erkrankung
Zunächst und naheliegend haben wir alle Angst davor, krank zu werden, weil Krankheiten immer unangenehm und bedrohlich sind. Dazu kommt, dass im besonderen der Verlauf einer Corona-Erkrankung nicht vorhersehbar ist, dass sie die einen kaum spüren, während sie bei anderen in die Intensivstation oder zum Tod führen kann. Mit dem Kranksein sind aber auch immer Schamthemen verbunden. Wer krank ist, ist schwach und braucht Pflege, was zu einer Bedürfnisscham führen kann, wenn sich jemand schwer tut, die eigene Schwäche anzunehmen und sich von einer Fürsorge durch andere abhängig zu machen.
Eine andere Quelle der Scham zeigt sich bei denen, die stolz verkündet haben, dass sie ein tolles Immunsystem haben, deshalb nicht erkranken werden und aus diesem Grund keine Impfung brauchen und alle einschränkenden Maßnahmen ablehnen. Wenn sie das Virus doch erwischt hat, können sie ihrer Scham nicht entrinnen, die unter Umständen noch durch Häme aus ihrer Umgebungen verstärkt wird.
Angst vor dem Anstecken von anderen
Viele Menschen, darunter auch Kinder, haben die Folgen von Corona weniger in Bezug auf sich selbst befürchtet. Es wurde schnell klar, dass das Virus hochinfektiös ist und dass vor allem ältere Menschen schwer gefährdet sind. Deshalb bekamen viele die Angst, Angehörige aus der gefährdeten Gruppe anzustecken und möglicherweise dann an deren Tod schuld zu sein. Es spielt dabei auch die Angst vor der Scham mit, die mit einer derartigen Schuld verbunden ist: Für den Tod eines Mitmenschen verantwortlich zu sein, ist in jedem Fall eine schwere Schuld und eine immense Schamlast.
Angst wegen der Regelverweigerung
Nicht alle haben die Regeln, die eingeführt wurden, für sinnvoll erachtet. Diejenigen, die davon überzeugt sind, dass die Maßnahmen die einzige Möglichkeit darstellen, um der Pandemie Herr zu werden und die weitere Verbreitung zu verhindern, sind mit der Angst konfrontiert, dass jene, die die Regeln nicht einhalten wollen, all die Anstrengungen zunichtemachen. Denn sie gefährden die Risikogruppen und tragen dazu bei, dass die Spitäler überlastet sind und Einschränkungen durch die Pandemie weiter aufrecht bleiben müssen. Sie schämen sich nicht ohne Selbstgerechtigkeit für jene, die sich so egoistisch und uneinsichtig verhalten und das Gemeinwohl mit Füßen treten. Aus dieser Haltung kommen dann oft öffentliche Zurechtweisungen für Regelübertreter oder Anschwärzungen und Vernaderungen von Nachbarn, die z.B. während eines Lockdowns Party feiern.
Die Angst wegen der drohenden Überlastung des Gesundheitssystems, die bei einer ungezügelten Ausbreitung der Erkrankung zu befürchten war, verstärkt diese Haltung und verleiht ihr eine solide Rechtfertigung. Es ist beschämend für eine Gesellschaft, die es nicht mehr schafft, für die Kranken und Schwachen zu sorgen und es müssen jene bekämpft werden, die dieser Entwicklung durch ihre Egoismen Vorschub leisten. Man könnte ja selber von einer schweren Krankheit betroffen sein oder vor einer wichtigen Operation stehen und dann gibt es keinen Platz in den Spitälern, weil alle Betten von Covid-Patienten belegt sind.
Angst vor dem Impfen
Spezielle Ängste wurden aktiviert, nachdem die Impfungen zugelassen und von vielen Experten und Politikern als Königsweg zur Eindämmung der Pandemie propagiert wurden. Nicht wenige Menschen haben darauf mit einer kategorischen Ablehnung reagiert, die noch verschärft wurde, als Überlegungen zur Impfpflicht aufgetaucht sind, bzw. diese eingeführt wurde. Es entstand ein öffentlicher Druck sowohl von den Gesundheitsbehörden als auch von jenen, die sich impfen ließen, auf jene, die die Impfung verweigern. Dieser Druck wurde von vielen als Beschämung erlebt, als Menschen angeprangert zu werden, die sich weigern, der Allgemeinheit zu dienen und ihre Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten über das Gemeinwohl zu stellen. Manche wählten, um dieser Schamfalle zu entgehen, den Weg, sich bewusst anstecken zu lassen, um die Impfung zu umgehen, aber dafür einen Genesenenstatus zu erlangen. Einer Schamfalle zu entkommen führt oft, wie auch in diesem Fall, direkt in die nächste Schamfalle: Sich für die Feigheit, sich nicht impfen zu lassen, zu schämen und dafür einen Umweg zu gehen, der unter Umständen viel riskanter ist als die Impfung selber.
Viele der Impfgegner haben sich früher ohne Bedenken oder Ängste allen möglichen Impfungen unterzogen, z.B. um auf Reisen gehen zu können; die Corona-Impfung war für sie aber dann plötzlich etwas vom Schlimmsten, das die Menschheit je hervorgebracht hat. Auch solche innere Widersprüche können Scham hervorrufen. Die reichhaltigen Informationen gegen die Impfung, die in den verschiedenen Medien angeboten wurden, wurden auch deshalb so eifrig konsumiert, weil sie für die verschiedenen Schamthemen, die in diesen Zusammenhängen aktiviert werden, Abhilfe versprachen. Die Suche von vielen nach einer Rechtfertigung für die eigenen Ängste und als Gegenmittel gegen die Scham erzeugte einen großen Meinungsmarkt, auf dem sich Experten, Pseudoexperten, selbsternannte Experten, Faktenverdreher und Faktenerfinder tummeln, einen Namen machen und Berühmtheit erlangen konnten. Jeder kann sich im breiten Angebot der unterschiedlichen Wahrheitsanbieter aussuchen, was die eigenen Ängste und Schamgefühle am besten befriedet. Es wäre in diesen Fällen nur darauf zu achten, dass durch den Informationskonsum nicht hinterrücks weitere Ängste und Schamgefühle aktiviert werden.
Für eine weitere Gruppe von Impfgegnern, die auch das breitgefächerte Spektrum an Meinungen nutzen, bietet sich die Schamumkehr als Mittel zur eigenen Schambewältigung an: Schämen sollten sich nicht jene, die sich nicht impfen lassen, sondern jene, die wie die Lemminge hinter dem herlaufen, was die Obrigkeiten anordnen und blind in die Impffalle tappen (Lemminge sind im Übrigen nicht so doof wie sie in solchen Zusammenhängen dargestellt werden). Wenn auf mich mit dem tadelnden Finger gezeigt wird, zeige ich mit meinem Finger ebenso tadelnd zurück, verwehre mich gegen die Beschämung und weise ihr den Ort zu, auf den sie eigentlich hingehört. So gibt es in manchen Bereichen Betretungsverbote für jene, die nicht geimpft sind, als auch für jene, die geimpft sind. Wem eine Ausgrenzung angetan wird, der grenzt selber auch gerne aus. Dazu braucht es nur, den Mechanismus der Umkehr der Schamzuweisung zu aktivieren.
Angst vor dem Verlust der Demokratie und der Grundrechte
Es gibt Überschneidungen zwischen der Gruppe der Impfgegner und der Gesellschaftskritiker, die obrigkeitlichen Verordnungen und Gesetze als Aushöhlung der Demokratie und Aushebelung der Grundrechte sehen. Sie sehen die Maßnahmen als unverhältnismäßig und bevormundend. Für sie maßt sich der Staat eine Autorität an, die ihm nicht zusteht und die geradewegs in die Diktatur führt. Es werden Ängste aus dem kollektiven Traumafeld aktiviert, die mit historischen Erfahrungen aus der Beseitigung der Demokratie zu tun haben. Nicht zufällig sind diese Kritiker besonders stark in Deutschland und Österreich vertreten, Länder, in denen im letzten Jahrhundert die Demokratie beseitigt wurde und diese Entwicklung in einen Weltkrieg mündete. Gegen solche Tendenzen müsse von Anbeginn Widerstand geleistet werden, denn die Regierenden würden am liebsten jede Gelegenheit aufgreifen, die es ihnen erlaubt, ihre Macht über die Individuen und Staatsbürger auszuweiten, bis es dann keinen Widerspruch gegen diese Macht mehr gibt. Es wäre eine Schande, diese Tendenzen nicht rechtzeitig bekämpft zu haben, so wie viele naive Zeitgenossen in den Zeiten des aufstrebenden Faschismus die Augen zu verschließen und zu spät zu bemerken, dass eine Diktatur errichtet war. Diese Schamgefühle zu vermeiden, ist ein wichtiger Antrieb bei dieser Form der Gesellschaftskritik.
Sicher ist es wichtig, ein gewichtiges Augenmerk darauf zu haben, dass die Staatsmacht nicht missbraucht wird und die Rechte der Individuen erhalten bleiben. Andererseits muss der Staat Maßnahmen treffen, um z.B. die Gesundheit seiner Staatsangehörigen zu schützen. Bei dieser Balancierung kann nicht eine Seite einfach weggekürzt werden, sonst leidet die Gesellschaft als Ganze Schaden. Über das Wie des Gesundheitsschutzes (Lockdowns, Maskenpflicht, Impfpflicht usw.) gibt es unterschiedliche Auffassungen, und in einer Demokratie ist es die Verantwortung der gerade regierenden Personen und Gruppen, nach ihren Vorstellungen für das Gemeinwohl zu sorgen. Die Gesetze und Verordnungen, die aus dieser Verantwortung heraus umgesetzt werden, stehen dann vor den Höchstgerichten bzw. bei der nächsten Wahl auf dem Prüfstand.
Wird die an und für sich notwendige kritische Haltung der Staatsmacht gegenüber allerdings überdehnt, sodass Widerstand schon dort gerechtfertigt erscheint, wo es noch keine grundlegende Rechtseinschränkung gibt, so nähert sie sich nicht aus einem abgewogenen Realitätsbewusstsein, sondern aus historischen Ängsten und trägt damit zur Vertiefung der gesellschaftlichen Spaltung bei. Im Bestreben, die schmachvolle Situation der Entmachtung des „Volkes“ zu verhindern, werden Ängste geschürt, die auf irrealen Annahmen beruhen und die eben dieses Volk schwächen. Um Scham zu verhindern, wird die Scham vermehrt, ein häufig vorkommender selbstdestruktiver Mechanismus.
Dieses Phänomen tritt insbesondere dann auf, wenn die irrealen Ängste zu einer missionarischen Einstellung führen: Die Mitmenschen müssen mit allen Mitteln aufgerüttelt werden, sonst taumeln sie blindlings in die Katastrophe; jene, die trotz allem nicht glauben wollen, wie gefährlich alles ist und wie weit die Grundrechte schon ausgehöhlt sind, müssen dann selbst als bewusste oder unbewusste Agenten der Mächtigen bekämpft werden. Damit verschärfen sich die gesellschaftlichen Spannungen. Wenn es in jedem Streitgespräch ums Rechthaben geht, verzieht sich die Scham in den Hintergrund und meldet sich höchstens, wenn die Debatten auf keinen grünen Zweig stoßen und stattdessen daran Freundschaften zerbrechen.
Angst vor Kräften im Hintergrund
Einige Schritte weiter als die gesellschaftspolitischen Kritiker von Corona-Maßnahmen gehen jene, die hinter dem Vorgehen der Regierungen in den einzelnen Ländern eine weitverzweigte Verschwörung von dunklen Kräften identifizieren, denen die angebliche Pandemie beste Chancen bietet, um ihre Macht noch weiter durchzusetzen. So behaupten einige Personen aus dieser Ecke, dass es das Corona-Virus gar nicht gibt, sondern dass normale Grippewellen für das Schüren von Panik genutzt werden, in deren Schatten autoritäre Strukturen geschaffen werden. Entweder gibt es das Virus überhaupt nicht oder es ist von Geheimdiensten entwickelt worden, die für die geheimnisvollen Hintermänner arbeiten.
Sobald das Impfthema am Tapet auftauchte, war bei diesen Leuten klar, dass die Beherrschung der Menschen mit diesem Mittel weitergetrieben wird, bis hin zur völlig unbelegten Idee, dass über die Impfung Chips im Körper eingepflanzt werden, mit denen dann die Menschen ferngesteuert werden können.
In diese Sichtweisen haben sich alte Verschwörungsängste eingemischt: Häufig werden Juden als Drahtzieher vermutet oder Multimilliardäre, die auch an den Reichtum von jüdischen Bankbesitzern in früheren Zeiten erinnern. Genährt durch den Hass von Minderbemittelten und von eingefleischten Antisemiten baut sich ein dunkles Feld auf, das die Innenwelt der Verschwörungsgläubigen widerspiegelt. Sie sind stolz darauf, dass sie über Wissen verfügen, das anderen scheinbar nicht zugänglich ist, und bedauern oder verachten jene, die gutgläubig befolgen, was ihnen von den, wie es dann unter Verwendung von Nazi-Jargon heißt: gleichgeschalteten Medien vorgegaukelt wird. Dieser Stolz der eingeweihten Besserwisser verdrängt die Scham, die erst auftritt, wenn es Menschen gelingt, aus der Blase der eingeschworenen Verschwörungswitterer auszubrechen und sich mehr der Realität stellen.
Die Wissenschaftsfeindlichkeit ist ebenso Teil dieser Sichtweisen, denn sie ist notwendig, um die eigenen Denkstrukturen und Theoriegebäude gegen alle wissenschaftlichen Anfechtungen aufrechtzuerhalten. Viele Wissenschaftler haben sich neben ihren Forschungsaufgaben auch der Aufklärung von Verschwörungsmythen gewidmet und sind auch deshalb zum Feindbild des Lagers der Verschwörungsanhänger geworden, in dem sich viele Weniggebildete befinden und mit der Wissenschaftsfeindlichkeit eigene Schamgefühle wegen einer mangelhaften Bildung kompensieren können.
Zum Weiterlesen:
Politik nach Corona
Impfen - Wissen und Wissenschaft
Aufklärung in Zeiten einer Pandemie
Von der Angst zur Ethik
Die Ursprünge der Opferrolle
Krisenängste und ihr Jenseits
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