Es steht zu lesen, dass sich der Pazifismus in einer Krise befindet. Seit Februar tobt ein heftiger Krieg in Osteuropa ohne Aussicht auf ein Ende, mit Tausenden von Todesopfern und massiven Zerstörungen an Seelen und an Gütern. Es handelt sich um einen brutal geführten Angriffskrieg, in dem Russland das „Recht“ des Stärkeren gegen einen schwächeren Nachbarstaat durchsetzen will. Die Ukraine hat nur die Wahl zwischen Selbstaufgabe und Selbstverteidigung und hat den zweiten Weg gewählt. Auch wenn manche diese Wahl kritisieren, ist sie zu respektieren, denn jedem Land gebührt die Selbstbestimmung. Wo allerdings hat in diesem Szenario der Pazifismus, also die Idee, alle Konflikte ohne Einsatz von Gewalt zu lösen, einen Platz?
Sobald die Waffen sprechen, gilt die Sprache der Waffen. Wer mit der Sprache der Vernunft und Menschlichkeit einen Panzer ansprechen will, wird nicht gehört, sondern überrollt. Im Kleinen kennen wir es von entgleisenden Streitgesprächen: Wenn die Emotionen aufkochen, gehen die leisen und ruhigen Stimmen unter. Eine Kriegsmaschine, die auf alles schießt, was sich bewegt, lässt sich nicht von Demonstranten aufhalten, die Friedenslieder singen und Fahnen schwenken. Brutalität breitet sich aus, solange sie mit ihrer Strategie Erfolg hat und hört erst dort auf, wo sie auf Gegengewalt stößt. Gewalt kann also nur durch eine stärkere Gegengewalt beendet werden. Wird sie nicht durch eine Gegenkraft aufgehalten, expandiert sie weiter. Denn die Gewalt lebt von ihren Erfolgen. Treten diese ein, indem ein Gegner besiegt wird, so verstärkt sich das Gewaltmuster. So wie der Krieg den Krieg ernährt (siehe die russischen Plünderungen in den eroberten Gebieten), so ernährt die Gewalt die Gewalt.
Erfolgreiche Gewalt gebiert noch mehr Gewalt.
Diese Logik der Gewalt ist einfach und zugleich unerbittlich und alternativlos. Sie hat archaische Wurzeln und beginnt mit den Uranfängen der Gewaltausübung. Die Menschheitsgeschichte ist voll von dieser Logik und der von ihr verursachten Blutspur. Der russische Präsident vertritt diese Logik ganz unverhohlen. Das übersehen all jene, die meinen, der Ukraine Ratschläge geben zu können, wie sie den russischen Wünschen entgegenkommen sollten, um den Krieg möglichst schnell zu beenden und die dem ukrainischen Präsidenten und seiner Regierung vorwerfen, für all die Toten, die der Krieg jeden Tag fordert, die Verantwortung zu tragen. Sie machen aus den Opfern die Täter, um die eigentlichen Täter von ihrer Verantwortung zu entlasten. Das hat nichts mit Pazifismus zu tun, sondern ist ganz einfach eine Identifikation mit dem Aggressor, die ihn von der Verantwortung für seine Handlungen entlastet.
Der gewaltfreie Widerstand
Was aber ist mit den vielen Beispielen des gewaltfreien Widerstandes? Wir denken z.B. an Mahatma Gandhi oder Martin Luther King. Sie haben Bürgerrechtsbewegungen angeführt und die Auseinandersetzung mit der Staatsmacht mit friedlichen Mitteln geführt, die langfristig erfolgreich waren. Andere friedliche Protestaktionen wie z.B. am Tien’amnenplatz 1989 in Peking oder in Weißrussland 2021 sind an der Brutalität des Staatsapparates gescheitert. Selbst bei den erfolgreichen Aktionen handelt es sich um innerstaatliche Konflikte, nicht um zwischenstaatlich geführte Kriege. Wenn zwei Militärapparate aufeinandertreffen und beide Seiten die Intention haben, Krieg zu führen, hat die Gewaltlosigkeit keinen Auftrag mehr und muss warten, bis der Schrecken der Kanonen verstummt.
Es sind zwei völlig verschiedene Ligen, in denen die Gewalt und in denen der gewaltfreie Widerstand spielen. Das Modell der Bewusstseinsevolution macht diesen Unterschied deutlich: Die Logik der Gewalt gehört zur zweiten Ebene, auf der das Recht des Stärkeren zur Geltung kam. Die Notwendigkeit von größeren Sozialgebilden, die sich im Gefolge der Einführung der Landwirtschaft vor 10 000 Jahren stellte, gab der Gewalt einen fixen Platz in der Gesellschaft. Ein Kriegerstand wurde geschaffen, der die Wirtschaft vor Plünderungen schützen musste und das eigene Territorium vor Eindringlingen sichern sollte. Während die Bauern die Nahrungsmittel produzierten, bekämpften sich die Krieger, oder wie sie im Mittelalter benannt wurden, die Ritter. Mit der Weiterentwicklung der Gesellschaft wurde die Gewaltanwendung zunehmend zum Monopol für die Staatsmacht. Kriege im Inneren sollten mit dieser Macht unterbunden werden, während für die Kriege gegen die anderen Staaten Armeen gebildet wurden. Auf diesem Stand befindet sich das internationale Staatswesen im Wesentlichen bis heute, weil es noch immer keine Weltmacht gibt, die ein Gewaltmonopol über die Einzelstaaten hat.
Die Entwicklung der Kultur und des Bewusstseins ging dennoch weiter und führte über die materialistische und personalistische Stufe zum systemischen Denken im 20. Jahrhundert, in dem der Pazifismus verortet werden kann. Es ist die Ebene, auf der wir genau wissen, wie wir die Gewalt eindämmen und dauerhaften Frieden stiften können. Es ist die Ebene, von der aus wir verstehen, dass Gewalt und das damit zusammenhängende Konzept des Rechts des Stärkeren für die Weiterentwicklung der Menschlichkeit ungeeignet ist, dass vielmehr das Eingrenzen der Gewalttendenzen in den Menschen und Gesellschaftsgruppen notwendig ist, um Sicherheit und Vertrauen zu vertiefen. Beim Projekt der Vermenschlichung der Menschheit geht es darum, dass Wege und Methoden der Gewaltfreiheit angewendet werden, getragen von gegenseitigem Respekt und von Gleichrangigkeit. Insofern kann es keine Krise des Pazifismus geben. Vielmehr zeigen die aktuellen Geschehnisse, wie unverzichtbar es ist, die Fackel des Friedens hochzuhalten. Das Ausmaß an Zerstörung zeigt, wohin wir gelangen, wenn wir unter das Niveau der Friedfertigkeit zurückfallen.
Die Sackgasse der Gewalt
Jede Gewaltaktion verbraucht übermäßig viel Energien und Ressourcen, die dann irgendwann ausgehen. Jeder Krieg belastet die Wirtschaft des eigenen Landes und trägt nichts zu ihrer Weiterentwicklung bei. Jeder Krieg mindert den Wohlstand und erzeugt Armut und Elend. Kriege gehen üblicherweise erst dann zu Ende, wenn die Kräfte zum Kriegführen erschöpft sind. Der dreißigjährige Krieg endete, weil ganze Landstriche in Mitteleuropa entvölkert waren. Es konnten keine neuen Soldaten rekrutiert werden und die kämpfenden Truppen hatten nichts mehr zu essen. Der erste Weltkrieg endete, als bei den Mittelmächten Hungersnöte ausbrachen und die Soldaten keine Schuhe mehr hatten. Der zweite Weltkrieg endete, nachdem die Städte in Deutschland und Österreich in Schutt und Asche lagen.
Gewalt löst keine Konflikte, sondern verstärkt und vertieft sie und erschwert jede Konfliktlösung. Wir hören jeden Tag, wie stark die Verbitterung und der Hass in der ukrainischen Bevölkerung auf die Russen wächst, auch bei Menschen, die selber russische Wurzeln haben oder die nie etwas gegen ihre Nachbarn hatten. Die zerstörte Infrastruktur, Schulen, Spitäler, Kindergärten bilden Wunden, über das ganze Land verstreut, die es immer schwieriger machen, den Verursachern in die Augen zu schauen und deren verborgenes Leid zu sehen. Alles klagt an: Die Leichen der gefolterten Zivilisten, die Menschen, die entführt werden, die Wohnhäuser in Trümmern, die Granatentrichter, die Kühlschränke und Fernseher, die geplündert und weggeführt werden. Diese millionenfachen Anklagen bleiben so lange bestehen, bis sie von den Schuldigen eingestanden werden und gerechte Strafen verhängt sind, also vielleicht bis in alle Ewigkeit, jedenfalls, soweit kein Tatausgleich geschieht, bis in die nächsten drei Generationen.
Seit es Gewalt gibt, wissen wir, dass sie alles schlimmer macht. Dennoch wird gegen jede Erfahrung und gegen jedes bessere Wissen immer wieder auf Gewalt zurückgegriffen. Entweder erhofft man sich durch einen Überraschungsangriff einen schnellen Gewinn, denkt sich, stärker zu sein und damit erfolgreich sein zu müssen, oder meint, dass es kein anderes Mittel mehr gibt, um die eigenen Interessen durchzusetzen. Wir denken z.B. an jenen US-General im Vietnamkrieg, der verkündete, das gepeinigte Land in die Steinzeit zurück zu bombardieren, um endlich den hartnäckigen Widerstand gegen die überlegene Militärmacht zu brechen. In vielen Fällen enden Kriege mit einer Demütigung der Anstifter und Angreifer, so die beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert, der Vietnamkrieg oder die Balkankriege vor dreißig Jahren.
Niemals bewirkten Kriege dauerhafte und nachhaltige Friedensregelungen. Zwar konnte nach dem dreißigjährigen Krieg eine neue Staatsordnung eingeführt werden, die von einiger Dauer war; auch kam es nach dem zweiten Weltkrieg zur Gründung der Vereinten Nationen und der Europäischen Gemeinschaft. Aber diese Errungenschaften waren nicht den vorangegangenen Kriegen geschuldet, sondern besonnenen Politikern und vernünftigen Menschen aus der Zivilgesellschaft, vor dem Hintergrund der großen Mehrheit an Menschen, die unter den Kriegen leiden mussten und sich nichts mehr wünschten als dauerhaften Frieden.
Der ewig gültige Pazifismus
Wir wissen allerdings auch: Der Pazifismus lebt, solange es Menschen gibt. Es ist dieses Vermächtnis, dem die Schrift von Immanuel Kant über den ewigen Frieden gewidmet ist. Die Sehnsucht der Menschen nach Frieden setzt sich immer langfristig durch, so wie im Spruch von Lao Tzu das Weiche das Harte besiegt. Die Kraft der Menschlichkeit ist, von weiter oben betrachtet, stärker als die der Unmenschlichkeit. Denn die Gewaltneigung kommt aus der Einengung der menschlichen Möglichkeiten, aus einer ausweglosen Not, aus Angst und Verzweiflung. Das ist ihre Schwäche und ihre Aussichtslosigkeit. Sie verfügt über keine Ideen und Energien für die Verbesserung der Welt, nicht einmal für den Wiederaufbau dessen, was sie zerstört hat. Sie bleibt ratlos auf den Trümmern sitzen, die sie angerichtet hat.
Die Friedenssehnsucht ist stärker als die kurzfristigen und trügerischen Hoffnungen, die von der Gewalt angestachelt werden. Sie speist sich aus dem Drang nach Weiterentwicklung und Wachstum, aus allen Quellen der Kreativität und der Kooperation. Wenn die Kräfte der Zerstörung verpufft sind und die Leichenberge zum Himmel stinken, gehen die Blicke zu den Tauben, die durch die Luft gleiten, als wäre nichts geschehen. Sie künden den Frieden, der uns allen zusteht und für den wir uns immer wieder einsetzen sollten. Es ist der Frieden, den wir alle wollen, selbst die Kriegstreiber.
Kriegerische Krisenzeiten sind keine Krisenzeiten des Pazifismus. Im Gegenteil, sie zeigen uns, wie notwendig der Pazifismus ist und wie wichtig es ist, beständig an seiner Vertiefung und Erweiterung zu arbeiten.
Zum Weiterlesen:
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