Donnerstag, 16. Juni 2022

Kindsein und Erwachsenensein

Die Kindheit ist eine begrenzte Phase, sie endet spätestens mit der Volljährigkeit, zumindest offiziell und dem Gesetz gemäß. Die Zeit des Spielens ist vorbei, der Ernst des Lebens beginnt, so lautet die traditionelle Richtschnur für diesen Übergang, der in der Regel den Abschied vom Elternhaus und die Begründung des eigenen Lebens unabhängig von den Bedingungen des Herkommens beinhaltet. 

Wir wissen zwar, dass wir in manchen Situationen emotional in die Kindheit zurückfallen, wenn wir uns z.B. maßlos über etwas ärgern oder an kleinen Dingen des Lebens verzweifeln oder bestimmte Gewohnheiten, die wir eigentlich loswerden wollen, nicht überwinden können. Wenn uns dringende Bedürfnisse plagen, können wir ungeduldig wie Kleinkinder werden. Wir sehen diese Rückfälle aber als Ausnahmen von der Regel und fühlen uns im Allgemeinen als Erwachsene, die die Kindheit schon lange hinter sich gelassen haben. Meistens sind solche Erlebnisse mit Scham gepaart, sie sind uns peinlich. Schließlich wollen wir als voll kompetente Erwachsene gelten, die sich keine Ausrutscher leisten und alle Dinge des Lebens gut im Griff haben. Wir wollen auch so von unseren Mitmenschen gesehen werden und erwarten, dass wir auf diese Weise und nur auf diese Weise Achtung und Respekt bekommen. Das Kindliche bezeichnen wir als kindisch, also als einen Mangel an Erwachsenensein und Reife. 

Wirkliches und reifes Erwachsensein ist dagegen inklusiv, indem es das Kindsein nicht ausschließt, sondern mit umfasst. Diese Haltung speist sich aus der Gesamtheit der Vorerfahrungen, bei denen jene aus der Kindheit eine besondere Bedeutung tragen. Wir sind in Frieden mit den Schwierigkeiten aus unserer Lebensgeschichte und nehmen aus jeder Lebensphase wertvolle Ressourcen für die Bewältigung der Alltagsherausforderungen mit. Solange wir einen Gegensatz zwischen dem Kindlichen und dem Erwachsenen für uns festhalten, sind wir mit unserer inneren Kindseite nicht versöhnt. 

Wenn wir hingegen das Kindsein als integralen  Bestandteil des Erwachsenenseins erkennen und verkörpern können, verfügen wir über einen offenen Zugang zu lebenswichtigen Quellen für Lebendigkeit und Kreativität in unserem Inneren. 

Werden wie die Kinder

„Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich hineinkommen“ (Mt 18,3). Vielleicht können wir diese Bibelstelle so verstehen: Wenn ihr es nicht schafft, im Moment zu sein und von Moment zu Moment das Leben neu zu erfinden, werdet ihr kein Glück finden. Ihr werdet getrieben sein, den Idealen des Erwachsenseins nachzulaufen mit dem Gefühl, sie nie zu erreichen und zu erfüllen. Wenn ihr dem Kindlichen keinen Raum in eurem Innenleben gebt, findet ihr keine Ruhe.

Das Kind ist der Vater des Mannes

Dieser bekannte Satz von William Wordsworth (1802) wird so verstanden, dass das Kindsein eine prägende Wirkung auf das Erleben und Verhalten der Erwachsenen ausübt. Wir sind in gewisser Weise Produkte unserer Kindheitserfahrungen und der in dieser Zeit widerfahrenen Traumatisierungen. In dem Sinn, wie wir von unseren Vätern und Müttern gelernt haben, ist es wichtig, dass wir aus dieser Erfahrungsmenge lernen. Das Herauswachsen aus den kindlichen Prägungen ist die Arbeit des Reifens. Es besteht im bewussten Zurücklassen der vergangenen Erfahrungen und im Herausschälen der eigenen Identität, indem die elterlichen Erwartungen distanziert werden und die eigenen Ideale und Werte gefunden und gelebt werden, die ihre Wurzeln im kindlichen Welterfahren haben. 

Das innere Kind

Das „innere Kind“ ist keine Instanz, die nur in der Vorstellung existiert und in der Therapie genutzt wird, um verletzte und traumatisierte Anteile der Seele aufzuarbeiten. Vielmehr ist es ein permanent wirksamer Aspekt von uns selbst,  also ein wichtiges Element des Erlebens und Verhaltens. Es ist ein ganz zentraler Teil unserer Geschichte, aus den Jahren, in denen wir die emotionale Basis für den Rest unseres Lebens gebildet haben. Da wir nichts anderes sind, als das vorläufige Ergebnis dieser Geschichte, gehört es ganz intim zu uns. Es ist lebendig in allen Gefühlsregungen, in unserer Intuition, in unserer Neugier und Spielfreude.

Erwachsenwerden

Erwachsenwerden ist eine komplexe und langwierige Geschichte, die vermutlich ein Leben lang dauert. Es ist in dem Maß erfolgreich, in dem das Kindsein mitschwingen und mitwirken darf. Wenn das der Fall ist, bleiben wir in Balance zwischen Verantwortung und Flexibilität, zwischen Ernst und Leichtigkeit, zwischen Disziplin und Spontaneität. Wenn eine Seite zu stark überwiegt, kommen wir nicht weiter, sondern stecken entweder in einer Verbissenheit fest oder verlieren uns in Zerfahrenheit und Beliebigkeit. „Das Leben ist ein Kampf“: Das ist ein Satz aus dem verkrampften Erwachsenen-Ich, das auf das Kind vergessen hat. Erwachsensein ist so lange mühsam und anstrengend, als es den Bezug zum Kindlichen verloren hat und es nur mehr als kindisch abwertet.

Erwachsensein ist ebenso vielschichtig und mehr ein Projekt in Entwicklung als ein dauerhafter Zustand. Es muss in jedem Moment neu erfunden und neu gestaltet werden. Es beinhaltet die Reflexion, also die Selbstüberprüfung und Evaluierung. Teil dieser Selbsteinschätzung sollte immer auch sein, ob das Kindsein einen gebührenden Platz einnimmt und immer wieder zum spielerischen Umgang mit den Herausforderungen des Erwachsenseins einladen darf.

Das Erwachsenwerden ist nur in dem Maß möglich, in dem die Fundamente in der Kindheit dafür gelegt und ausreichend versorgt wurden. Wer unter materiellem Mangel leiden musste, kann sich als Erwachsener mit eigenen Kräften für den Aufbau eines guten Lebens einsetzen.  Wer emotionalen Mangel erlitten hat, wird sich schwer tun, auf dieser Ebene erwachsen zu werden. Er wird versuchen, den Mangel in Beziehungen auszugleichen und die Verantwortung für diesen Mangel nach außen auslagern, also anderen Menschen umzuhängen. Doch diese Strategie ist selber mangelhaft. Nur die verantwortungsvolle innere Auseinandersetzung mit den unerfüllten Bedürfnissen und offenen Gefühlszyklen holt die Entwicklungsversäumnisse nach und bessert das Fundament aus, wo es nicht stabil genug ist.

Verantwortungsübernahme

Erwachsensein hat mit Verantwortungsübernahme zu tun. Kinder tragen keine oder nur wenig Verantwortung für ihr Leben. Kindsein heißt, dass immer jemand anderer da ist, der dafür sorgt, dass alles, was zum Leben notwendig ist, vorhanden ist, materiell und emotional. Die Erziehung besteht darin, den Kindern immer mehr Verantwortung zu übertragen, bis sie diese ganz selber übernehmen können. Dann hat die Erziehung ihr Ziel erreicht und wird überflüssig. 

Die Erwachsenenverantwortung ist umfassend. Sie bezieht sich auf alles, was wir erleben, ob es unserem Tun oder Erfahren entspringt. Wir haben die Verantwortung für unsere Gefühle und Reaktionsweisen, für unsere Handlungen und ihre Folgen und für die Beziehungen, in denen wir leben.

Mit dieser Verantwortung verbunden ist die Autonomie. Sie bedeutet, sich selber die Regel geben zu können und sich daran zu halten. Erwachsene haben ein klares Verhältnis zur Selbstdisziplin und legen selbst die Prioritäten in ihrem Leben fest. Sie treffen die Entscheidungen, die für sie stimmen und an die sie sich dann halten. Sie geben sich die Orientierung in ihrem Leben selbst und legen die Werte fest, nach denen sie sich ausrichten. Sie passen ihre Orientierung immer wieder an die äußeren Gegebenheiten und ihre Erfordernisse an. Die dafür notwendige Disziplin muss aber nicht stur sein, sondern kann sich, wenn der Einfluss des Kindlichen zur Mitwirkung eingeladen ist, geschmeidig an die unterschiedlichen Situationen anpassen. 

Das Erwachsensein, das ein gutes Verhältnis zum Kindsein hat, hat ein klares Bewusstsein für das Spielerische, das immer dort zu Hilfe gerufen werden kann, wo die Erwachsenenlogik an ihre Grenze stößt und ein neuer Zugang die Verwirrung oder Verkrampfung lösen kann. Wenn das Erwachsenen-Ich mit der Wirklichkeit zu kämpfen beginnt, sollte das kindliche Ich einspringen und mit seiner Leichtigkeit und Fröhlichkeit das Spielerische beisteuern, das noch jeden Karren aus dem Dreck gezogen hat.

Zum Weiterlesen:
Das Kind in uns
Der Raub des Selbst
Der Narr


1 Kommentar:

  1. Danke lieber Wilfried, für die Veröffentlichung des "Kindsein und Erwachsenensein" . Der text hilft mir sehr (und soll uns allen helfen) im Leben generell und meine Herausforderungen als Erwachsener spielerisch zu gestalten, flexibel zu bleiben und mit weniger Perfektionismus und Verbissenheit durch das leben zu "wandeln".
    Herzliche Grüsse Ludwig

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