Mittwoch, 2. Juni 2021

Die Zerbrechlichkeit und Unzerstörbarkeit der Menschenwürde

Eine würdevolle Person stellen wir uns vermutlich aufrecht stehend vor, mit festem Blick und kräftiger Figur, fest verankert am Boden, wie ein zur Ruhe gekommener Held – jemand, dem nichts was anhaben kann. Doch gibt es auch die feine und zarte Seite der Würde, die mit der Verletzbarkeit und Zerbrechlichkeit zusammenhängt. Da die Menschenwürde der Ausdruck des Menschlichen im Menschen ist und die Verletzbarkeit das Menschliche in besonderer Weise deutlich macht, spielt sie eine ganz wichtige Rolle im Selbstbild der Würde, das erst durch sie vollständig wird.

Religionsgeschichtlich betrachtet  handelt es sich bei der Integration der Verletzlichkeit in die Würde um einen Beitrag des Christentums zum Konzert der Weltreligionen: In Jesus ist Gott Mensch geworden und hat alle Leiden des Menschseins erfahren bis hin zur äußersten Verletzung der Menschenwürde durch die Kreuzigung. Diese Schwäche wird dann zur eigentlichen Heilsbotschaft, in der sich die Größe Gottes zeigt, umgewandelt.

Die Verletzungsgeschichte

Wir verfügen alle über eine Geschichte von Verletzungen und Verwundungen, voll von Blessuren, die wir uns im Lauf unseres Lebens zugezogen haben oder die uns zugefügt wurden. Wir verfügen auch über andere Geschichte: solche voll von Erfolgen oder von schönen Erlebnissen oder von erfüllenden Begegnungen. All diese Erzählungen tragen dazu bei, wer wir sind. 

Eine besondere Ehre gebührt unserer Verletzungsgeschichte. Denn sie verbindet uns mit der Verletzlichkeit, die Teil unseres Wesens ist. Sie zeigt auf, dass wir viele Wunden erlitten und viele Herabwürdigungen und Beschämungen erfahren haben. Sie ist auch der Beweis dafür, dass wir all diese Schwierigkeiten überlebt haben und über sie hinausgewachsen sind. Mit jeder Verletzung, die wir überwunden haben, gewinnt unsere Würde an Kraft.

Die Würde umfasst die Gesamtheit unseres Wesens, mitsamt all den Geschichten, die uns ausmachen. Die besondere Rolle der Verletzlichkeit besteht darin, dass sie aufzeigt, wo und wie unsere Würde in Gefahr geraten ist, wo wir sie aber auch nicht verloren haben. Es ist die Geschichte des erfolgreichen Überlebens und Weitergehens, eine besonders achtenswerte und strahlende Seite unserer Würde. 

An dieser Stelle wird allerdings auch die Endlichkeit unseres Lebens deutlich. Die Fragilität unserer Existenz, die in jedem Moment zugrunde gehen kann, macht uns darauf aufmerksam, jeden Moment, in dem das Leben durch uns durchfließt, in besonderer Weise wertzuschätzen und in Dankbarkeit hochzuhalten. 

Die Würde in der Landschaft der Gefühle

Im Spektrum der Gefühle drückt sich unsere Verletztheit und Verletzlichkeit in vielfacher Weise aus. Es gibt ein Weinen, in dem der Schmerz mit Würde getragen wird. Es gibt eine Verzweiflung, in der nur die Würde nicht aufgibt. Es gibt eine Schwäche und Bedürftigkeit, die würdevoll einbekannt wird. Es gibt einen Zorn, der zugleich die in ihm steckende Hilflosigkeit zugibt und in der Würde bleibt. Es gibt eine Angst, in der das Innere würdevoll aufrecht bleibt, dem Furchterregenden ins Auge sieht und an der Begegnung wächst.

Ein Mensch, der Zugang zu all diesen Gefühlen hat, zu ihnen stehen kann und sie aushält, ist mit dieser Dimension seiner Würde verbunden. Sie hilft ihm, auch im Aufwallen heftiger Gefühle bei sich zu bleiben und nach außen hin gelassen zu reagieren. Dabei bleibt die Achtung der Würde der anderen Menschen aufrecht, die an der Auslösung der Gefühle mit beteiligt sind. Die Verantwortung für die Gefühle übernimmt aber die Person, in der sie entstehen. Denn jeder Versuch, die Verantwortung für Gefühlsabläufe an andere Personen zu übertragen, würde einen Verlust an Würde bedeuten. 

Wenn wir zu unserer Verletzungsgeschichte stehen und dafür die Verantwortung tragen, zeigen wir unsere Würde in einem besonderen Licht. Die Zerbrechlichkeit gehört zur Würde dazu und verleiht ihr einen besonderen Glanz, der den weiten Bogen zu dem Ende unseres Erdendaseins spannt. Die Würde bleibt bei uns, bis zuletzt, in der Begegnung mit dem Tod. Der Tod ist vielleicht die letzte Begegnung, die wir in Würde angehen, und die letzte Hürde, die wir würdevoll überwinden.

Die Würde im Sterbenlernen 

Der lebenslange Prozess des Weisheitserwerbs (als Erlernen des Sterbens nach Sokrates), beinhaltet auch, die Würde in ihrer Unendlichkeit und Endlichkeit gleichzeitig zu umfassen. Die Endlichkeit zeigt sich in ihrer Verletzbarkeit und letztlich Sterblichkeit, also in ihrer Hinfälligkeit, die Unendlichkeit erscheint darin, dass sie keine Verletzung zerstören kann, nicht einmal der Tod.

Die Verletzbarkeit unserer Würde führt uns zur Einsicht, dass auch unsere Mitmenschen in ihrer Würde verletzbar sind und deshalb unbedingten Respekt und achtsame Achtung verdienen. Sie ermöglicht uns den Schritt über unser begrenztes Wesen hinaus, hin zu den anderen Menschen. Wir anerkennen uns als Menschen wechselseitig, indem wir einander die Würde, gerade in ihrer verletzbaren Dimension, bestätigen. 

Weil und soweit wir unsere Verletzungsgeschichte kennen, können wir uns in die Verletzungen der anderen Menschen einfühlen. Zum Mitgefühl werden wir durch die Einsicht in die Zerbrechlichkeit jedes menschlichen Lebens befähigt. Die Universalität des Leidens, das in den Details, aber nicht im Kern zwischen den Menschen verschieden ist, verbindet die Seelen und bindet sie aneinander. 

Die Würde der Schöpfung

Die Würde, die unser Menschsein im Kern ausmacht, ist nicht unser Verdienst oder das Resultat von irgendwelchen Leistungen. Sie ist uns mit unserer Empfängnis und Geburt mitgegeben und wird gewissermaßen von der Menschheitsfamilie garantiert. Sie steht uns aufgrund der natürlichen Weitergabe des Lebens zu, bleibt bei uns und kann uns nicht genommen werden. Aus ihr leiten sich alle unsere Geburtsrechte ab, alle Existenzbedingungen, die wir von Natur aus zum Überleben benötigen. 

Mit diesem Verständnis weitet sich das Zusprechen der Würde über den Kreis der Mitmenschen auf alles andere Leben und auf die Natur als ganze aus. Die Achtung, die wir uns selber zuerkennen, auch und gerade für unsere Verletzlichkeit, gilt dann für die gesamte Natur, für alles, was außerhalb unseres Selbst ist. So wie das große Leben und das große Ganze unsere Würde anerkennen, so ist es an uns, jedem auch noch so winzigen Teil dieses großen Ganzen in seiner Würde die Ehre zu geben.

Zum Weiterlesen:
Verletzlichkeit und Würde
Scham und Verletzlichkeit
Wer die Würde nicht respektiert, verliert seine eigene.
Demut und Mitmenschlichkeit


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