Freitag, 4. Juni 2021

Schönheitsideale und Wahrnehmungsschwächen

Schönheit liegt im Auge des Betrachters, heißt es so schön. Dennoch gibt es einflussreiche Deutungsmächte, die unsere Augen und ihre Sehgewohnheiten vorprägen und kanalisieren. Sie bestimmen dadurch unterschwellig, was wir als schön empfinden. Es sind vor allem die Bilder der Medien, die unsere Schönheitsideale vorformulieren, propagieren und in die inneren Netzwerke einspeisen. Sie erzeugen Maßstäbe und Kriterien und zwingen die Rezipienten, sich damit zu vergleichen und daran zu messen. All das geschieht fortlaufend, ohne unsere Zustimmung wird unsere Wahrnehmung zurechtgerichtet und möglicherweise deformiert.

Die Macht der vorgeschriebenen Ideale

Das heimliche Diktat der Ästhetik ist vor allem für Frauen tragisch, die vermutlich stärker nach ihrem Äußeren beurteilt werden als Männer, vom anderen wie vom eigenen Geschlecht. Doch auch Männer leiden unter dem Diktat des äußeren Scheins. Es gibt Gründe zur Annahme, dass Männer sogar noch mehr als Frauen zur zwanghaften Selbstoptimierung neigen, um einem Ideal zu entsprechen. Jedenfalls ist das „Body-Shaming“ auch unter Männern verbreitet, vor allem in den jüngeren Jahren: Wer zu dünn oder zu dick ist, wer zu klein ist oder zu wenig Muskeln aufweist, wird zum Objekt der Abwertung und Beschämung.

Als schön gilt bei den Frauen, wer nach Maß, Gestalt und Formung einem Model-Aussehen entspricht, also dem, was von den Protagonistinnen einer Modeschau erwartet wird. In die Nähe dieser Idealformen kommen  nach statistischen Erhebungen ca. 10 % der weiblichen Bevölkerung. Die anderen 90 % sind von Natur aus benachteiligt und damit potenzielle Objekte von böswilligen Beschämungen.

Bei den Männern sind eher andere Vorbilder maßgeblich, vor allem Muskelpakete und Heldentypen oder smarte und coole Aufreißer aus diversen Filmen. Im Unterschied zu den Frauen können Männer im Fitnessstudio zu ihren Vorbildern aufschließen; andererseits werden sie kritisierbar und beschämbar, wenn sie sich zu wenig anstrengen, um den Idealen zu entsprechen. Schönheitsideale und individuelle Verantwortung geraten in eine Dynamik, die Druck und Stress erzeugt, angetrieben von der Schamangst, nicht zu entsprechen und ausgegrenzt zu werden.

Die Normierung der Schönheit

Da die Natur die Variabilität und breite Streuung der Phänotypen vor einer Einheitlichkeit und Uniformität bevorzugt, ist es klar, dass es nur eine kleine Minderheit geben kann, die einem bestimmten Schönheitsprofil entspricht. Dadurch entstehen allerdings gesellschaftliche Spaltungen zwischen den Schönen und den Weniger-Schönen, auch dadurch, dass schönen Menschen zusätzlich andere positive Eigenschaften unterstellt werden. Schöne Menschen müssen sich also weniger anstrengen als die ästhetisch Benachteiligten.

Was passiert weiters, wenn eine der vielen Möglichkeiten, Schönheit zu definieren, verallgemeinert  und zur Norm erklärt wird, an der sich alle anderen messen sollten? Der Schönheitsbegriff wird von einigen einflussreichen Medien in Geiselhaft genommen. Er wird massiv eingeschränkt und nach der Maßgabe der Verwertbarkeit in der Mode- und Medienwelt vorgeschrieben. Denn alles, was rar ist, ist wertvoller und am Markt besser verwertbar. Was von der Norm abweicht, fällt dann nicht mehr unter Schönheit und ist uninteressant. Und alles, was weniger schön ist, hat auch weniger Chancen und Möglichkeiten in der Gesellschaft.

Da die Welt, in der wir leben, immer stärken von visuellen Reizen und Anreizen geprägt wird, die nach relativ einheitlichen Mustern gefertigt sind, verengt sich der Schönheitsbegriff auf die optisch wahrnehmbaren Erscheinungsbilder, die die von den Schönheitsproduzenten auserwählten Menschen präsentieren. Und daraus resultiert der Zwang, diese Bilder auf- und nachzubessern, wo sie von Natur aus von der Norm abweichen: Die Nase ist zu groß, also wird sie entweder operativ verkleinert oder photogeshoppt. Ein Markt für Schönheitsoperationen und andere Optimierungsmittel steht bereit und bietet seine Dienste an, mit dem Versprechen, neben den äußerlichen Korrekturen auch die Lebenschancen im Beziehungs- wie im Geschäftsbereich zu steigern.

Schönheit und Kapitalismus

Schönheit zieht Reichtum an, sagt man nicht zu Unrecht, weil beide Phänomene in einem Kontext des materialistischen oder kapitalistischen Bewusstseins miteinander verflochten sind. Dieser Komplex versucht, seine Vorherrschaft mit dem Ergreifen und Monopolisieren der Deutungsmacht abzusichern. Und die Mainstream-Medien spielen mit. Der Schönheitsbegriff und seine Normierung spielt dabei eine zentrale Rolle. Die Macht der von ökonomischen Kriterien bestimmten Schönheitsdefinitionen wird daran sichtbar, dass die meisten Individuen von ihnen in Bann gezogen sind und permanent vielfältige Anstrengungen unternehmen, um ihm gerecht zu werden. Schönheit ist ein Industriezweig.

Die Schönheitsideale und die Scham

Die Scham wartet an jeder Stelle im Kontinuum zwischen Schönheit und Hässlichkeit. Scheinbar haben es die weniger Schönen schwerer mit ihrem Selbstwert, weil sie sich selber mit den Schöneren vergleichen und weil sie auch verglichen werden oder zumindest annehmen, dass sie verglichen werden. Es liegt auf der Hand, sich für äußere Mängel zu schämen, und es erfordert beträchtliche Anstrengungen, mit offensichtlichen Mäkeln den eigenen Selbstwert zu festigen. Viele Menschen kompensieren solche Unvollkommenheiten, indem sie sich bemühen, in anderen Bereichen zu brillieren oder zumindest überdurchschnittliche Leistungen zu erbringen.

Aber auch die Schönen, von den anderen beneidet, begegnen der Scham. Äußere Schönheit ist ein Geschenk, eine Gnade und kein Verdienst. Die Scham macht darauf aufmerksam, und auch darauf, wie ungerecht es ist, dass andere davon weniger abbekommen haben. Es gibt also auch die Scham der Auserwählten oder Bevorzugten.

Diese Menschen kennen zwar auch den Stolz, der von der Anerkennung ihrer Schönheit stammt. Aber die Einsicht,  dass der Gegenstand dieses Stolzes auf keiner Leistung beruht, wirkt manchmal allzu bewusst und manchmal sehr im Verborgenen. Die verzweifelte Suche nach Anerkennung für anderes ist die Folge: Ich will nicht wegen meiner Schönheit geachtet werden, sondern wegen meiner mathematischen Fähigkeiten oder wegen meiner Kochkünste.

Schöne Menschen haben oft das Gefühl, von den anderen auf ihr Äußeres reduziert zu werden, und viele Menschen gehen dieser Falle auf den Leim und fixieren sich auf die äußere Schönheit, die ihnen begegnet, die anziehen wirkt.

Oft aber gibt es auch eine innere Gegenreaktion bei den Neidern, die den verehrten Schönheiten andere menschliche Werte absprechen. Das Klischee von der ebenso hübschen wie dummen Blondine ist geboren. Die Neidkomplexe spiegeln sich: Die bewunderte Schöne muss unmoralisch oder unintelligent sein oder sonst einen gravierenden Makel haben. Die Schöne neidet in der Folge den Wenigerschönen, dass sie nicht auf äußere Merkmale reduziert werden, während sie sich bemühen muss, wegen innerer Werte Anerkennung zu finden.

Die intelligente Schöne bemerkt nicht selten, dass sie gemieden wird, sobald sie ihre Geisteskräfte in die Kommunikation einbringt. Anscheinend verkraftet es der Selbstwert von vielen Zeitgenossen nicht, wenn bei einem Menschen zu einer Qualität eine zweite dazukommt. Ein Übermaß an Begabungen beschämt die, die weniger davon bekommen haben. Es beschämt aber auch die, die allein mit ihren Geschenken dastehen, weil sich die anderen vor ihnen schämen. Diese Scham ist zwar subtiler als die, die durch einen offensichtlichen Neid ausgelöst wird, wirkt aber ebenso unangenehm, weil sie oft zu einem Vermeidungsverhalten und zum inneren Rückzug führt.

Die Befreiung der Sinne

Um den Schönheitsbegriff aus seiner verhängnisvollen Inbesitznahme durch die Medienindustrie zu befreien, bedarf es einer Veränderung unserer Sinne. Wir haben zwar gelernt, unsere Augen auf das, was herkömmlich als das Schöne gilt, zu fixieren, weil es leichter fällt, bequemer ist und den einkonditionierten Sehgewohnheiten entspricht. Aber wir können uns aus dieser Versklavung unserer Sinne befreien. Dazu müssen wir unsere Blicke freilegen, indem wir die in sie eingeprägten Bewertungen herausnehmen. Auf diese Weise beginnen wir eine Entdeckungsreise – in die Feinheiten und Nuancen der Schönheit, die die unerschöpfliche Vielfalt ihrer Erscheinungsformen.

Jeder in einem oberflächlichen Sinn hässliche Mensch hat eine Schönheit auf einer tieferen Ebene. Wir müssen nur unsere Aufmerksamkeit darauf richten, und schon finden wir in jedem Menschen ein besonderes Strahlen, eine besondere Melodie, eine gelungene Gestalt. Ähnlich ergeht es uns, wenn wir mit geweiteter und vertiefter Wahrnehmung die Natur betrachten.

Es gibt nichts in der Welt, das an sich hässlich ist. Es gibt zwar vieles, das wir hässlich finden (z.B. das Äußere der Spinnen oder die Schreie der Reiher) – auch die Hässlichkeit liegt im Auge der Betrachterin. Aber sobald wir uns bewusst machen, dass die Hässlichkeit von der Beschränktheit unserer Gewohnheiten der Wahrnehmung stammen, können wir erkennen, dass das Wahrnehmen von Hässlichkeit aus einer unserer Wahrnehmungsschwächen entsteht.

Das Weiten und Vertiefen der Sinne verhilft uns zu neuen Quellen der Lebensfreude und des Staunens. Sie erlöst uns von Langeweile und Frustrationen, denn es gibt in dieser unendlich komplexen Welt unendlich viele unentdeckte Schönheiten. Jede noch so winzige Schönheit, die uns begegnet und die wir wertschätzen, steigert unsere Lebensqualität. Es liegt daran, wie wir schauen und die Welt auf uns wirken lassen.

Kunst und Wahrnehmung

Eine Nebenbemerkung: Die Abwendung der Kunst sowohl in der Musik als auch in der darstellenden Kunst vom herkömmlichen Schönheitsbegriff zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat einer Neubestimmung dessen, was wir als Schönheit erleben, schon vor 100 Jahren den Weg geebnet. Die Schwierigkeiten vieler Menschen, die Schönheit in der atonalen Musik oder der abstrakten Kunst zu entdecken, die oft zu aggressivem Verächtlichmachen führen, zeigen, wie hartnäckig die Wahrnehmungsgewohnheiten von uns Besitz ergriffen haben. Zugleich ersehen wir daraus, wie notwendig eine Revolution unserer Sinne ist, wenn wir an innerer Freiheit interessiert sind und nicht weiterhin die Sklaven einer Schönheitsproduktion bleiben wollen, die fortwährend in unser Unterbewusstsein eingespeist wird.

Eine spekulative Nebenbemerkung zur Nebenbemerkung: Hätten sich mehr Menschen vor hundert Jahren bemüht, die aktuelle Kunst zu verstehen und auf sich wirken zu lassen, hätten sich ihre Wahrnehmungsgewohnheiten verändert und wir hätten uns zwei katastrophale Weltkriege erspart. Bitte auf heute ummünzen!

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