Schönheit liegt im Auge des Betrachters, heißt es so schön. Dennoch gibt es einflussreiche Deutungsmächte, die unsere Augen und ihre Sehgewohnheiten vorprägen und kanalisieren. Sie bestimmen dadurch unterschwellig, was wir als schön empfinden. Es sind vor allem die Bilder der Medien, die unsere Schönheitsideale vorformulieren, propagieren und in die inneren Netzwerke einspeisen. Sie erzeugen Maßstäbe und Kriterien und zwingen die Rezipienten, sich damit zu vergleichen und daran zu messen. All das geschieht fortlaufend, ohne unsere Zustimmung wird unsere Wahrnehmung zurechtgerichtet und möglicherweise deformiert.
Die Macht der vorgeschriebenen Ideale
Das heimliche Diktat der Ästhetik ist vor
allem für Frauen tragisch, die vermutlich stärker nach ihrem Äußeren beurteilt
werden als Männer, vom anderen wie vom eigenen Geschlecht. Doch auch Männer
leiden unter dem Diktat des äußeren Scheins. Es gibt Gründe zur Annahme, dass
Männer sogar noch mehr als Frauen zur zwanghaften Selbstoptimierung neigen, um
einem Ideal zu entsprechen. Jedenfalls ist das „Body-Shaming“ auch unter
Männern verbreitet, vor allem in den jüngeren Jahren: Wer zu dünn oder zu dick
ist, wer zu klein ist oder zu wenig Muskeln aufweist, wird zum Objekt der
Abwertung und Beschämung.
Als schön gilt bei den Frauen, wer nach
Maß, Gestalt und Formung einem Model-Aussehen entspricht, also dem, was von den
Protagonistinnen einer Modeschau erwartet wird. In die Nähe dieser Idealformen
kommen nach statistischen Erhebungen ca.
10 % der weiblichen Bevölkerung. Die anderen 90 % sind von Natur aus
benachteiligt und damit potenzielle Objekte von böswilligen Beschämungen.
Bei den Männern sind eher andere Vorbilder
maßgeblich, vor allem Muskelpakete und Heldentypen oder smarte und coole Aufreißer
aus diversen Filmen. Im Unterschied zu den Frauen können Männer im
Fitnessstudio zu ihren Vorbildern aufschließen; andererseits werden sie
kritisierbar und beschämbar, wenn sie sich zu wenig anstrengen, um den Idealen zu
entsprechen. Schönheitsideale und individuelle Verantwortung geraten in eine
Dynamik, die Druck und Stress erzeugt, angetrieben von der Schamangst, nicht zu
entsprechen und ausgegrenzt zu werden.
Die Normierung der Schönheit
Da die Natur die Variabilität und breite
Streuung der Phänotypen vor einer Einheitlichkeit und Uniformität bevorzugt,
ist es klar, dass es nur eine kleine Minderheit geben kann, die einem
bestimmten Schönheitsprofil entspricht. Dadurch entstehen allerdings
gesellschaftliche Spaltungen zwischen den Schönen und den Weniger-Schönen, auch
dadurch, dass schönen Menschen zusätzlich andere positive Eigenschaften
unterstellt werden. Schöne Menschen müssen sich also weniger anstrengen als die
ästhetisch Benachteiligten.
Was passiert weiters, wenn eine der vielen Möglichkeiten,
Schönheit zu definieren, verallgemeinert und zur Norm erklärt wird, an der sich alle
anderen messen sollten? Der Schönheitsbegriff wird von einigen einflussreichen
Medien in Geiselhaft genommen. Er wird massiv eingeschränkt und nach der Maßgabe
der Verwertbarkeit in der Mode- und Medienwelt vorgeschrieben. Denn alles, was
rar ist, ist wertvoller und am Markt besser verwertbar. Was von der Norm
abweicht, fällt dann nicht mehr unter Schönheit und ist uninteressant. Und
alles, was weniger schön ist, hat auch weniger Chancen und Möglichkeiten in der
Gesellschaft.
Da die Welt, in der wir leben, immer
stärken von visuellen Reizen und Anreizen geprägt wird, die nach relativ
einheitlichen Mustern gefertigt sind, verengt sich der Schönheitsbegriff auf
die optisch wahrnehmbaren Erscheinungsbilder, die die von den
Schönheitsproduzenten auserwählten Menschen präsentieren. Und daraus resultiert
der Zwang, diese Bilder auf- und nachzubessern, wo sie von Natur aus von der
Norm abweichen: Die Nase ist zu groß, also wird sie entweder operativ
verkleinert oder photogeshoppt. Ein Markt für Schönheitsoperationen und andere
Optimierungsmittel steht bereit und bietet seine Dienste an, mit dem
Versprechen, neben den äußerlichen Korrekturen auch die Lebenschancen im Beziehungs-
wie im Geschäftsbereich zu steigern.
Schönheit und Kapitalismus
Schönheit zieht Reichtum an, sagt man nicht
zu Unrecht, weil beide Phänomene in einem Kontext des materialistischen oder
kapitalistischen Bewusstseins miteinander verflochten sind. Dieser Komplex
versucht, seine Vorherrschaft mit dem Ergreifen und Monopolisieren der
Deutungsmacht abzusichern. Und die Mainstream-Medien spielen mit. Der
Schönheitsbegriff und seine Normierung spielt dabei eine zentrale Rolle. Die
Macht der von ökonomischen Kriterien bestimmten Schönheitsdefinitionen wird
daran sichtbar, dass die meisten Individuen von ihnen in Bann gezogen sind und permanent
vielfältige Anstrengungen unternehmen, um ihm gerecht zu werden. Schönheit ist
ein Industriezweig.
Die Schönheitsideale und die Scham
Die Scham wartet
an jeder Stelle im Kontinuum zwischen Schönheit und Hässlichkeit. Scheinbar
haben es die weniger Schönen schwerer mit ihrem Selbstwert, weil sie sich
selber mit den Schöneren vergleichen und weil sie auch verglichen werden oder
zumindest annehmen, dass sie verglichen werden. Es liegt auf der Hand, sich für
äußere Mängel zu schämen, und es erfordert beträchtliche Anstrengungen, mit
offensichtlichen Mäkeln den eigenen Selbstwert zu festigen. Viele Menschen
kompensieren solche Unvollkommenheiten, indem sie sich bemühen, in anderen
Bereichen zu brillieren oder zumindest überdurchschnittliche Leistungen zu
erbringen.
Aber auch die
Schönen, von den anderen beneidet, begegnen der Scham. Äußere Schönheit ist ein
Geschenk, eine Gnade und kein Verdienst. Die Scham macht darauf aufmerksam, und
auch darauf, wie ungerecht es ist, dass andere davon weniger abbekommen haben. Es
gibt also auch die Scham der Auserwählten oder Bevorzugten.
Diese
Menschen kennen zwar auch den Stolz, der von der Anerkennung ihrer Schönheit
stammt. Aber die Einsicht, dass der
Gegenstand dieses Stolzes auf keiner Leistung beruht, wirkt manchmal allzu
bewusst und manchmal sehr im Verborgenen. Die verzweifelte Suche nach
Anerkennung für anderes ist die Folge: Ich will nicht wegen meiner Schönheit geachtet
werden, sondern wegen meiner mathematischen Fähigkeiten oder wegen meiner Kochkünste.
Schöne
Menschen haben oft das Gefühl, von den anderen auf ihr Äußeres reduziert zu
werden, und viele Menschen gehen dieser Falle auf den Leim und fixieren sich auf
die äußere Schönheit, die ihnen begegnet, die anziehen wirkt.
Oft
aber gibt es auch eine innere Gegenreaktion bei den Neidern, die den verehrten Schönheiten
andere menschliche Werte absprechen. Das Klischee von der ebenso hübschen wie
dummen Blondine ist geboren. Die Neidkomplexe spiegeln sich: Die bewunderte
Schöne muss unmoralisch oder unintelligent sein oder sonst einen gravierenden
Makel haben. Die Schöne neidet in der Folge den Wenigerschönen, dass sie nicht
auf äußere Merkmale reduziert werden, während sie sich bemühen muss, wegen
innerer Werte Anerkennung zu finden.
Die
intelligente Schöne bemerkt nicht selten, dass sie gemieden wird, sobald sie
ihre Geisteskräfte in die Kommunikation einbringt. Anscheinend verkraftet es
der Selbstwert von vielen Zeitgenossen nicht, wenn bei einem Menschen zu einer
Qualität eine zweite dazukommt. Ein Übermaß an Begabungen beschämt die, die
weniger davon bekommen haben. Es beschämt aber auch die, die allein mit ihren
Geschenken dastehen, weil sich die anderen vor ihnen schämen. Diese Scham ist
zwar subtiler als die, die durch einen offensichtlichen Neid ausgelöst wird, wirkt
aber ebenso unangenehm, weil sie oft zu einem Vermeidungsverhalten und zum
inneren Rückzug führt.
Die Befreiung der Sinne
Um
den Schönheitsbegriff aus seiner verhängnisvollen Inbesitznahme durch die
Medienindustrie zu befreien, bedarf es einer Veränderung unserer Sinne. Wir
haben zwar gelernt, unsere Augen auf das, was herkömmlich als das Schöne gilt, zu
fixieren, weil es leichter fällt, bequemer ist und den einkonditionierten Sehgewohnheiten
entspricht. Aber wir können uns aus dieser Versklavung unserer Sinne befreien.
Dazu müssen wir unsere Blicke freilegen, indem wir die in sie eingeprägten
Bewertungen herausnehmen. Auf diese Weise beginnen wir eine Entdeckungsreise –
in die Feinheiten und Nuancen der Schönheit, die die unerschöpfliche Vielfalt
ihrer Erscheinungsformen.
Jeder
in einem oberflächlichen Sinn hässliche Mensch hat eine Schönheit auf einer
tieferen Ebene. Wir müssen nur unsere Aufmerksamkeit darauf richten, und schon
finden wir in jedem Menschen ein besonderes Strahlen, eine besondere Melodie,
eine gelungene Gestalt. Ähnlich ergeht es uns, wenn wir mit geweiteter und
vertiefter Wahrnehmung die Natur betrachten.
Es
gibt nichts in der Welt, das an sich hässlich ist. Es gibt zwar vieles, das wir
hässlich finden (z.B. das Äußere der Spinnen oder die Schreie der Reiher) –
auch die Hässlichkeit liegt im Auge der Betrachterin. Aber sobald wir uns
bewusst machen, dass die Hässlichkeit von der Beschränktheit unserer
Gewohnheiten der Wahrnehmung stammen, können wir erkennen, dass das Wahrnehmen
von Hässlichkeit aus einer unserer Wahrnehmungsschwächen entsteht.
Das
Weiten und Vertiefen der Sinne verhilft uns zu neuen Quellen der Lebensfreude
und des Staunens. Sie erlöst uns von Langeweile und Frustrationen, denn es gibt
in dieser unendlich komplexen Welt unendlich viele unentdeckte Schönheiten.
Jede noch so winzige Schönheit, die uns begegnet und die wir wertschätzen, steigert
unsere Lebensqualität. Es liegt daran, wie wir schauen und die Welt auf uns
wirken lassen.
Kunst und Wahrnehmung
Eine
Nebenbemerkung: Die Abwendung der Kunst sowohl in der Musik als auch in der
darstellenden Kunst vom herkömmlichen Schönheitsbegriff zu Beginn des 20.
Jahrhunderts hat einer Neubestimmung dessen, was wir als Schönheit erleben,
schon vor 100 Jahren den Weg geebnet. Die Schwierigkeiten vieler Menschen, die Schönheit
in der atonalen Musik oder der abstrakten Kunst zu entdecken, die oft zu aggressivem
Verächtlichmachen führen, zeigen, wie hartnäckig die Wahrnehmungsgewohnheiten
von uns Besitz ergriffen haben. Zugleich ersehen wir daraus, wie notwendig eine
Revolution unserer Sinne ist, wenn wir an innerer Freiheit interessiert sind
und nicht weiterhin die Sklaven einer Schönheitsproduktion bleiben wollen, die
fortwährend in unser Unterbewusstsein eingespeist wird.
Eine
spekulative Nebenbemerkung zur Nebenbemerkung: Hätten sich mehr Menschen vor
hundert Jahren bemüht, die aktuelle Kunst zu verstehen und auf sich wirken zu
lassen, hätten sich ihre Wahrnehmungsgewohnheiten verändert und wir hätten uns
zwei katastrophale Weltkriege erspart. Bitte auf heute ummünzen!
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